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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)


Eine ganze Fluth von Gedanken, den Erinnerungen, den Hoffnungen, dem Schmerz und der Gegenwart angehörend, stürmte auf ihn ein mit sinnverwirrender Macht.

„Käthe!“ flüsterte er.

Sie schmiegte sich fester an ihn und weinte noch mehr.

„Käthe, würden Sie auch ein Leben fürchten – mit – –“ Er hielt inne. Die Stimme der Mutter scholl durch den Garten wie ein Warnungsruf. „Ernst, Ernst!“

Das Mädchen hatte den Kopf erhoben. Eine heiße, flehende Bitte lag in diesen Augen, die sich in die seinen senkten.

„Sprich,“ sagten diese Augen, „sprich weiter!“

„Ein Leben fürchten mit mir?“ vollendete er kaum verständlich.

„Ernst!“ schrie sie auf und lag an seiner Brust zitternd und weinend.

„Ernst, Ernst, Käthe!“ scholl es abermals. Da riß sie sich los und flog wie ein Reh den Mittelweg entlang. – Er stand allein. Jählings war der rosige Schein am Himmel erloschen, farblose graue Dämmerung hatte sich ausgebreitet. Er lehnte an dem Stamm der alten Rüster und starrte auf den leuchtend weißen Schneeglöckchenstrauß am Boden, den Käthe verloren. Er bückte sich nicht danach; es war, als seien ihm alle Glieder gelähmt.

Er kam erst nach einer ganzen Weile in das Haus und in die Wohnstube, kalkweiß, das Haar thaunaß, die Züge abgespannt wie nach einer furchtbaren Gemüthsbewegung. – –

Käthe saß am gedeckten Tisch mit der Mutter; auch sie war bleich bis in die Lippen. Sie hatte ein zierliches Butterbrötchen in der Hand und fütterte die Katze der Frau Pastorin. Ein tiefer, verheißungsvoller Blick traf ihn.

„Wo bleibst Du denn?“ fragte die ahnungslose Hausfrau ärgerlich. „Aber das hat man davon, wenn man sich quält, dem Kinde das Lieblingsessen vorzusetzen.“ Und sie wies auf die Schüssel mit Speckeierkuchen und grünem Salat. „Und die Käthe nippt auch nur wie ein Vögelchen.“

„Ich danke,“ lehnte er ab, „ich bin nicht imstande –“

Als die Frau Pastorin nach Tisch das Zimmer verließ, um draußen nachzuschauen in der Küche, senkte Käthe den Kopf dunkelerglühend.

Er kam zu ihr herüber und bot ihr die Hand.

„Käthe,“ sprach er, „Sie wissen, wie’s um mein Herz steht; meine erste heiße Liebe wurde getäuscht. Sie wissen auch, durch wen! Sie sind die Samariterin gewesen, die meine Wunde zu heilen kam. Sie wollen noch mehr, Käthe, Sie wollen mir die ersetzen, die ich verlor – oder irre ich mich, Käthe?“

„Nein!“ stieß sie hervor.

„Und ist das nicht zu schwer für Sie?“

„Nein, nein!“

„Lieben Sie mich denn, Käthe?“ fragte er weich.

„Ja!“ sagte sie laut und leidenschaftlich, und als sie seine staunenden, zweifelnden Blicke sah, da schlang sie ungestüm die Arme um ihn. „Ja, ja,“ flüsterte sie, „o, daß Du das nicht längst begriffen hast!“

Er strich wie verwirrt über ihr Haar. „Du bist so jung,“ sagte er leise – wirst Du zufrieden sein mit dem engen Heim, das ich Dir bieten kann, und mit –“ Er stockte.

„Frage nicht so,“ stieß sie ungeduldig hervor, „sonst laufe ich fort.“

„Nein, nein, bleib; es ist so wunderbar, Käthe.“ Und nach einer Weile fügte er hinzu. „Du irrst Dich ja, Käthe, Dich treibt das Mitleid zu mir.“

Sie lachte hell auf. „O Du Thor!“ sagte sie.

Da schloß er sie fester in die Arme. „Ich danke Dir, Käthe!“ – – – –

Am Abend ging er den nämlichen Weg mit ihr, den er gegangen, als Lore seine Braut geworden. Wie anders war es doch! – Wie damals stand er noch ein Weilchen, nachdem die Thür in der Mauer hinter der, welche er seine Braut nannte, zugefallen war, unter der Birke, und wie damals eilte eine schöne Gestalt wieder zurück. – Und doch wie anders!

„Ich muß Dich noch einmal sehen, Ernst, noch einmal!“ flüsterte Käthe und lag an seiner Brust. „Sag’s, daß Du mich liebst, Ernst; sag’, daß Du alles andere vergessen hast über mich; sag’s, ich bitte Dich!“

„Vergessen?“ fragte er wie betäubt. „Kann denn ein Mensch das vergessen?“

„Ernst!“ Es lag eine förmliche Drohung in dem einen Wort.

„Ja, Käthe, ich hab’ Dich lieb, ja! Denn Du willst mein guter Engel, mein treuer Kamerad sein.“

„Komm bald zu Mama und sag’s ihr,“ forderte sie.

„Ja Käthe, morgen!“

„Morgen!“ wiederholte sie flüsternd und bot ihm den Mund zum Kuß und schlang die Arme um seinen Hals, „morgen und alle Tage, immer, immer. – Aber Ernst –“

„Mein Herz?“

„Das Examen mache ich nun nicht!“

„Ach, Käthe, das wäre schade, weswegen hättest Du gearbeitet alle die Zeit?“

„Aber ich heirathe Dich ja?“ sagte sie verwundert. „Und es ist so schrecklich, dies Examen.“

„Käthe, Du bist ein Kind –“

Sie lachte fröhlich auf und sie küßte seine Hand so heftig, daß er Schmerz empfand. „Gute Nacht,“ flüsterte sie, „gute Nacht! Spürst Du es? Es fängt an zu regnen!“

Sie sah nur eben in die Stube hinein, wo Tante und Mutter saßen, Fräulein Melitta mit einem Spiel Karten vor sich auf dem Tisch. Dann lief sie treppauf in ihr Zimmerchen, warf die Schulbücher vom Tisch, daß es krachte, und holte ihre Briefmappe hervor.

„Lore, liebe Lore,“ schrieb sie, „Du sollst Dein Stübchen wieder haben; ich werde nicht mehr lange bei Euch sein; denn, Lore – sei aber nicht böse – Ernst Schönberg liebt mich und will mich zur Frau. Ich bin so wirr darüber, viel kann ich nicht schreiben heute. Es ist so rasch gekommen. Behüt’ Dich Gott, Lore, kehr’ glücklich heim!

Immer Deine treue Schwester  Käthe.“

Sie adressirte, siegelte und trug das Schreiben hinunter.

„Tante Melitta wirf den Brief an Lore in den Kasten auf dem Heimweg – bitte!“

Das alte Fräulein schob das zierliche Billet in ihren Strickbeutel, der neben ihr auf dem Sofa lag. „Käthe,“ sprach sie, „das bist Du,“ und sie zeigte auf Piquedame. „Höre, Du bekommst einen Mann, einen steinreichen; da liegt das Goldblatt.“

Käthe warf sich jubelnd in den alten Lehnstuhl am Ofen. „Dann brauche ich das Examen nicht zu machen,“ rief sie übermüthig.

„Na, na, doch lieber, für alle Fälle,“ lachte die Tante. „Laß Dir mal den Reichen untreu werden –!“

„Nein,“ lachte sie, „ich will aber nicht, ich will heirathen, ich heirathe den Doktor Schönberg.“

Die alten Damen blickten starr vor Ueberraschung auf das Mädchen.

„Eben haben wir uns verlobt, Mama! Morgen kommt er zu Dir und – ich bin fabelhaft glücklich, Mama!“

Frau von Tollen fand kein Wort. Sie überließ Tante Melitta das Staunen, Wundern und Fragen. Sie ging still aus dem Zimmer und in den dunkeln Garten. „Arme Lore,“ sagte sie, die Hände faltend, als könnte sie durch ein Gebet den Schlag vom Haupt der fernen Tochter zurückhalten. Sie wußte es ja, Lore hat ihn geliebt mit aller Macht ihrer Seele, wußte es, obgleich sie nie ein Wort mit ihr darüber gesprochen. Als sie endlich wieder herantrat, hörte sie gerade, wie Tante Melitta sagte. „Daß Du Dich mit einer so bescheidenen Partie zufrieden geben würdest, hätte ich nie gedacht, Käthe.“

„Warum?“

„Ich weiß nicht, meinte immer, Du wartetest auf einen Baron – so einen mit einem Majorat etwa.“

Frau von Tollen unterbrach das Lachen der Tochter. „Ich werde Dich dem Doktor Schönberg nicht versagen,“ sprach sie, am Tisch stehen bleibend, „aber –“

„Mama!“ rief Käthe drohend und sprang auf.

„Aber in eine öffentliche Verlobung willige ich morgen noch nicht; mögt Ihr, Du und er, Euch erst prüfen.“

Käthe schaute sie lächelnd an und verließ das Zimmer. „Warten? pah! – Eine Kleinigkeit, die gute Mama anderer Meinung zu machen!“

(Fortsetzung folgt.



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