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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

„Fülle sein armes kleines Gehirn nicht mit Stoff, den es noch nicht verarbeiten kann,“ bat sie herzlich.

„Jeder muß die Nahrung haben, die er verdauen kann. Sascha ist eben seinen Jahren voraus,“ antwortete er.

„Um so mehr ist es meine Pflicht, ihn zurückzuhalten,“ sagte sie entschieden.

„Ich denke darin anders und werde, ohne ihn zu überanstrengen, immer Belehrendes mit ihm sprechen,“ sprach Alfred mit einem Ton, der sich Widerspruch verbat.

„Mir scheint, zunächst habe ich doch zu bestimmen, wie mein Sohn erzogen werden soll,“ rief sie erregt.

Alfred zog den groß aufschauenden Knaben an sich.

„O, daß Du nicht mein Sohn bist!“ sagte er schmerzlich, „niemand sollte mir drein reden, auch die Mutter nicht.“

Sie sahen sich an, voll Schmerz und Zorn. Aber der flammende Blick ihrer Augen wandelte sich in heiße Liebe. Gerdas Lippen öffneten sich ein wenig, ihr Haupt neigte sich leise vorwärts ihm zu. Er drückte ihr stumm und heftig die Hand.

„Da ist die Tante Mollin und Herr von Prasch,“ rief Sascha und nickte immerzu.

Gerda ließ auf einen Wink der Gräfin halten.

Die Gräfin trug einen weißen Strohhut mit einfachem schwarzen Band, wie ihn Knaben und ganz junge Mädchen zu tragen pflegten. Der saß keck genug auf ihrem kurzen Haar. Sie hatte ihre Körperfülle in ein enganliegendes Kleid von blau und weiß gestreifter Leinwand gehüllt und dachte nicht daran, ihre üppige Taille mit einer Mantille zu verhüllen. Sie hielt ihre langgestielte Lorgnette vor die Augen und stand so auf dem Granitrand des asphaltirten Bürgersteigs. Neben ihr erschien Herr von Prasch, der übrigens ganz denselben Hut aufhatte, in seinem hellgrauen Jackettanzug wie ein Nippfigürchen.

„Du wünschest, Hilda?“ fragte Gerda aus dem Wagen.

„Nur zu wissen, wohin Ihr wollt,“ erklärte die Gräfin mit der ihr eigenen Unbefangenheit.

„Den Kaiser sehen und die Musik hören,“ rief Sascha.

„Das ist noch viel zu früh. Kommt einstweilen mit ins Café Bauer, wo Prasch und ich gerade die Morgenzeitungen lesen wollten; Kutscher, Café Bauer!“ rief die Gräfin und setzte ihren Weg fort in der seelenruhigen Gewißheit, daß der Kutscher sammt seinen Fahrgästen einfach ihren Anordnungen folgen würde.

Haumond und Gerda lachten. Das Tantchen machte sich in ihrer Wagenecke noch kümmerlicher. Sie war neuerdings beleidigt, daß auch die Mollin nicht nach ihrem Befinden gefragt hatte.

Sie stiegen vor dem Café aus, als auch schon die Gräfin mit ihrem Begleiter um die Ecke der Friedrichstraße kam, und gingen die Treppe hinauf. Sascha wollte oben auf dem Balkon stehen, die Gräfin oben die Zeitung lesen. Ob das Tantchen die Treppen steigen könne, fragte niemand, deshalb stützte sie sich viel scherer, als es ihr nöthig gewesen wäre, auf Alfreds Arm, damit man es doch bemerke. Leider bemerkte es aber niemand.

Oben fand Alfred zu seinem Erstaunen Marbod Steinweber an einem Marmortischchen hinter der „Neuen Freien Presse“ sitzend, den Rücken dem Saal, das Gesicht, oder besser gesagt, das Zeitungsblatt der geöffneten Balkonthür zugekehrt.

„Mein alter Junge, Du? Ich denke, Du büffelst heute schon auf Deinem Bureau?“ rief Alfred erfreut.

„Für heute waren meine Pflichten mit der Vorstellung bei Ueber- und Untergeordneten beendigt,“ sagte Steinweber, nachdem er Gerda die Hand geküßt.

„Und wie geht es Ihnen heute?“ fragte er das Tantchen.

Sie athmete auf, unendlich beglückt.

„Danke,“ sagte sie mit schmerzlicher Stimme, „ich hatte gestern abend zu viel Erregungen, so daß ich, trotzdem ich wieder ein und ein halbes Schlafpulver nahm, nur von zwei bis halb fünf Uhr geschlafen habe.“

„Das thut mir recht leid,“ sagte Marbod gutmüthig.

„Nur nicht muthlos, Tantchen,“ tröstete Gerda, „heute morgen geht es desto besser.“

„Im Gegentheil,“ widersprach das alte Fräulein gereizt, „ich habe heute morgen, wie mir mein Doktor befahl, versucht, anstatt Kakao Gerstenschleim zu trinken, aber das ist mir schlecht bekommen.“

„Alfred, ein Glas Portwein für Tantchen, Sascha und ich nehmen etwas Süßes,“ befahl Gerda.

„Bitte, Herr Doktor,“ sagte Prasch, Steinweber am Arm nehmend, „auf ein Wort! Sie schreiben doch zuweilen für die ‚Morgenpost‘. Wenn Sie da ein Wort über mein Wagnerbuch einfließen lassen wollten, wäre ich Ihnen dankbar. Aber bitte, vermeiden Sie es, mich, wie es vorgestern in der ‚Abendzeitung‘ geschah, in einer Weise zu charakterisiren, als ob das Wagnerkommentiren meine Specialität sei. Doktor Bendel sagte gestern sehr richtig, daß schon zu viel über Wagner geschrieben sei, und daß man mit weiterem warten müsse, bis seine Biographie erschienen, die er selbst seiner Frau diktirt haben soll. Und da die Gräfin Mollin durch einen glücklichen Zufall im Besitz eines Briefes ist, den Hölderlin an eine Freundin der verstorbenen Schwiegermutter der Gräfin schrieb, so will ich jetzt ein Buch über Hölderlin verfassen. Finden Sie nicht auch, daß über diesen edlen Dichter, der doch die deutsche Sprache um mehr Worte bereichert hat als selbst ein Schiller, noch zu wenig geschrieben ist, und daß man deshalb unsere Idee eine glückliche nennen muß?“

Und dann trug er Steinweber alles vor, was er in der Nacht und heute morgen von Hölderlin gelesen.

Die Gräfin saß unfern, mit drei um den Halter aufgerollten Zeitungen in ihrem breiten Schoß und einer vierten in ihren weißen, fleischigen Händen. Zum Lesen trug sie einen Kneifer. Alle paar Minuten rief sie mit ihrer tiefen Altstimme über den Zeitungsrand weg.

„Das wird Sie interessiren, Prasch,“ und las ihm einige Zeilen vor.

Das Tantchen las in dem „Journal amusant“ und entrüstete sich dabei, daß man sie in ein Lokal führe, wo ein derartiges Blatt aufliege.

Draußen auf dem Balkon aber saßen Gerda und Alfred. Zwischen ihnen war das winzige Marmortischchen; unfern stand Sascha am Eisengeländer und starrte auf das bunte Straßengetriebe hinab.

Alfred hatte der Geliebten den Brief der Frau Josephe Thomas gegeben und die Zeilen seines Vaters.

„Ohne Dich gehört zu haben, wollte ich nicht antworten,“ sagte er, „aber Du begreifst, daß mir diese ganze Geschichte mehr als lästig ist. Ja, wenn man einfach mit einer Geldsendung antworten könnte! Aber das verbietet sich durch die Zeilen meines Vaters, darin ist nicht von Hilfe, sondern von Rath und Stütze die Rede.“

Gerda dachte nicht lange nach.

„Du wirst der armen Frau eine Depesche senden, worin Du ihr sagst, daß Du ihren Brief hier und heute empfingst. Ferner, daß Du morgen abend in Baden eintriffst,“ entschied Gerda.

Er sah sie erblassend an.

„Du schickst mich fort? Jetzt? Du glaubst, ich könnte mich von Dir trennen, nachdem ich Dich eben gefunden? Und das um einer Frau willen, die mein Vater geliebt, die mich nichts angeht,“ rief er zitternd.

„Wer spricht von Trennung?“ fragte sie, ihn mit glücklichem Lächeln ansehend. „Ich gehe auch nach Baden. Müssen wir, Sascha und ich, nicht auch den Ort kennen, wo wir vielleicht künftig wohnen sollen?“

„Geliebte! Engel!“ sagte er mit heißer Dankbarkeit. „Du weißt immer das Richtige. Ja, wir wollen fort von hier, wo wir – laß es uns doch frei gestehen! – nur ausharrten, weil wir uns nicht losreißen konnten, ehe die Entscheidung gefallen. Sascha, mein Junge, wir wollen reisen, Du, Mama und ich! In die Berge und den Wald!“

Der Knabe hörte nicht. Er sah und war mit allen seinen Sinnen auf der Straße.

Die beiden Glücklichen sprachen leise von künftigen Tagen; unter dem Tischchen hielten sie ihre Finger ineinander verschlungen, und ihre Augen erzählten sich von brennenden Wünschen.

Drunten fluthete in der steigenden Hitze des Sommertages das Gelärm vorbei. In den verstaubten Lindenkronen rauschte ein schwüler Wind. Aus dem Saal drang zuweilen die laute Stimme der Gräfin oder das Knistern eines Zeitungsblattes oder das Klappern von Geschirr auf Marmorplatten heraus.

Und doch war ihnen beiden so friedvoll glücklich im Herzen, als seien sie weltentrückt und allein.

„Mama, ich glaube, es gehen schon eine ganze Menge Leute

zum Kaiser,“ sagte Sascha und bemühte sich, das Köpfchen stark seitwärts legend, bis zum Denkmal Friedrichs des Großen die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 263. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_263.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)