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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

nöthigsten erscheint. Seit längerer Zeit sind darum die Aerzte bemüht gewesen, einen Ersatz für das Roggenbrot, welches 49% Stärke, und für das Weizenbrot, welches sogar 55% Stärke enthält, zu beschaffen. Man hat aus Kleber, nachdem durch wiederholtes Waschen des Mehles die Stärke aus demselben entfernt worden, Brot bereitet, ferner aus stärkemehlfreier Weizenkleie, sowie aus süßen Mandeln, aus isländischem Moos; aber alle diese sogenannten „Diabetesbrote“ haben wesentliche Nachtheile, sie sind entweder wenig schmackhaft oder schwer verdaulich und lassen bald die Sehnsucht nach dem gewohnten guten Brote immer heftiger auftauchen. Es erscheint darum zweckentsprechender, dem Zuckerkranken, sobald er Widerwillen gegen diese Brotersatzmittel bekundet, gewöhnliches gutes, nicht zu trockenes Brot, etwa 40 bis 100 Gramm täglich, zu gewähren, aber nur in kleinen Mengen und in verschiedenen auf den ganzen Tag vertheilten Zwischenräumen. Ebenso können ihm der Abwechslung wegen auch Gemüse gestattet werden, deren Genuß keine besondere Einwirkung auf die Zuckerausscheidung übt. Vorwiegend muß die Nahrung aus Fleischkost bestehen, aber auch hierin soll Mäßigkeit als erstes Gebot geübt werden. Der Kranke thut gut daran, sich des Tages auf 3, höchstens 4 in bestimmten Zwischenräumen zu nehmende Mahlzeiten zu beschränken, bei denen eine gewisse Abwechslung vorherrschen soll. Den Verlust, welchen der Körper durch die Ausscheidung des Zuckers erfährt, muß man durch Essen und Trinken zu ersetzen suchen, allein die Verdauungsorgane dürfen auch nicht überlastet werden. Neben der Fleischkost ist auch hinreichend viel Fett in der Nahrung zu bieten, weil die Fettarten raschere Sättigung gewähren und weil sie den Eiweißvorrath des Körpers vor zu rascher Zersetzung schützen.

Bei der Auswahl der Speisen und Getränke muß man sich also im ganzen vorwiegend von dem Gehalte derselben an Zucker und Stärkearten leiten lassen, dabei aber der individuellen Geschmacksrichtung möglichst Rechnung tragen. Der Arzt muß mit dem Koche Hand in Hand gehen. Im allgemeinen soll aber das folgende Verzeichniß der für Zuckerkranke gestattetem und verbotenen Nahrungsmittel als Richtschnur dienen.

Erlaubte Speisen: frische Fleischsorten aller Thiergattungen, ferner alles eßbare Geflügel, Pökelfleisch und Rauchfleisch, wenn sie nicht mit Honig oder Zucker versetzt sind; Fische im frischen und geräucherten Zustande; bei guter Verdauung: Schildkröten, Krebse, Frösche, Austern, Hummern, Muscheln, Schnecken; ferner Eier, Kaviar. Suppe, die ohne Mehl zubereitet ist. Schmalz, Oel, Butter, Käse, Quark, Sahne, dicke (saure) Milch. Gekochte grüne Gemüse: Blumenkohl, Spinat, Rosenkohl, Kohlrabi, grüne Bohnen und die grünen Enden vom Spargel. Ungekochte grüne Gemüse, mit Oel, Rahm, Butter, Fett, Speck und mäßig gewürzt zubereitet: Lattich, Wasserkresse, Endivien, Kopfsalat, Rettig.

In mäßigster Menge sind erlaubt: Erdbeeren, Himbeeren, Brombeeren, Johannisbeeren, ein Apfel, eine Birne, eine Orange, etwas Mandeln. Von Brot: Kleber-, Kleien-, Mandelbrot, wenn nöthig 40 bis 100 Gramm Roggen-, Graham- oder Weißbrot.

Erlaubte Getränke: reines Wasser, natürliche oder künstliche Säuerlinge, Mineralwässer, Thee, Kaffee; alle ungesüßten Spirituosen: Cognac, Rum, Whisky, Sherry, Bordeaux, Burgunder, Chablis, Rheinweine, österreichische und ungarische, aus besten Quellen bezogene, nicht zuckerhaltige Weine, bittere Biersorten (Pilsener Bier) in sehr mäßiger Menge, ungesüßte Mandelmilch, zuckerfreie einfache Citronenlimonade.

Verbotene Speisen: Zucker, Honig, Mehlnahrung (Mehlspeisen) jeder Art bis auf eine geringe ärztlich gestattete Brotmenge, Kartoffeln, Reis, Gries, Arrow-root, Sago, Tapioca. Die Wurzelgemüse: Mohrrüben, weiße, rothe und gelbe Rüben, Zwiebeln, Radieschen, Sellerie, Gurken, Schoten, Hülsenfrüchte (Linsen, Bohnen, Erbsen), Kastanien, alle süßen und eingemachten Früchte, Trauben, Kirschen, Pflaumen, Pfirsiche, Aprikosen und gedörrte Früchte.

Verbotene Getränke: Chokolade, Kakao, abgerahmte Milch, Molken, Most, Obstweine, moussirende Weine, Champagner, Portwein, Madeira, süße Ungarweine, süße und schwere Biere, Fruchtsäfte und Liköre.

Die Auswahl für die Speiseordnung ist nach dem Angeführten keine zu geringe, und es muß zur Erleichterung der Verdauung auf eine sehr sorgfältige gute Zubereitung der Speisen Bedacht genommen werden, ebenso wie diese selbst nur genügend zerkleinert zum Genusse gelangen sollen. Auch muß der Zuckerkranke der Pflege der Zähne und des Mundes (durch mehrmaliges wiederholtes Ausspülen mittelst eines guten Mundwassers) große Aufmerksamkeit schenken. Der Magen ist ganz besonders für diese Kranken ein so hochwichtiges Organ, daß ihm die fürsorglichste Beobachtung zu theil und alles ängstlich vermieden werden muß, was die Verdauung beeinträchtigen kann. Ein Diätfehler rächt sich oft in schwerster Weise. Gegen den vorhandenen Heißhunger muß der Arzt durch geeignete Mittel (Opium und andere Narcotica) ankämpfen, der übermäßige Durst wird durch Säuerlinge, Selters- oder Sodawasser mit etwas Cognac, auch durch Eispillen gestillt.

Die Haut bedarf bei Zuckerkranken gleichfalls besonderer Pflege, denn einmal haben diese Kranken große Neigung zu Ausschlägen und Furunkel- (Schwären-)bildung, dann aber ist jede Erkältung für solche Individuen höchst gefährlich, und darum muß die Haut abgehärtet werden. Nach beiden Richtungen sind Bäder von mäßigem Wärmegrade, sowie kalte Abreibungen des Körpers, gehörige schützende Bedeckung desselben mit Wollhemden oder wollenen Jäckchen von günstigem Einflusse. Wenn die Haut sehr spröde und trocken ist, empfiehlt sich ein Zusatz von Weizenkleie oder Mandelkleie zu den Bädern.

Der gesammte Stoffwechsel muß überdies durch ausgiebigen Genuß freier, frischer Luft, sowohl im Sommer wie im Winter, und wo es die Verhältnisse gestatten, durch Aufenthalt in waldiger Gebirgsgegend zur günstigen Jahreszeit, durch Verweilen in geschützten südlichen klimatischen Kurorten während der kalten Monate gefördert und angeregt werden, wobei leichtere, nicht ermüdende und anstrengende Bewegungsarten, kleine Gartenarbeit, mäßige Zimmergymnastik zu üben sind. Auch der Geist muß eine angemessene, nicht anstrengende Beschäftigung durch erheiternde Lektüre, zerstreuende Geselligkeit finden, um den Kranken vor allzu ängstlicher Selbstbetrachtung zu bewahren und jenen Trübsinn und Lebensüberdruß zu bannen, der sich so häufig bei chronischen Krankheiten einstellt und in wechselseitiger Beeinflussung auch das körperliche Befinden wieder ungünstig gestaltet. Alles, was die Körper- und Geisteskräfte zu sehr anzuspannen und zu ermatten vermag, jede leidenschaftliche Erregung muß vermieden werden. Durch Schonung und Selbstbeherrschung, mäßige und angemessene Lebensweise vermag der Zuckerkranke sein Leiden oft sehr erträglich zu gestalten und sich lange dauernden günstigen Befindens zu erfreuen. Unter meinen Klienten befindet sich ein den höheren Gesellschaftskreisen angehörender Herr, welcher bereits mehr als zehn Jahre an Zuckerkrankheit leidet und dabei den Verpflichtungen seiner Stellung recht gut nachkommt.

Unter den Heilmitteln, welche gegen die Zuckerkrankheit angewendet werden, nehmen die Kuren mit Mineralwässern, welche reich an Alkalien (einfach und doppeltkohlensaurem Natron) sind, den ersten Rang ein. Nach Karlsbad, Vichy, Neuenahr, Ems, Marienbad werden alljährlich Zuckerkranke in großer Zahl gesendet, welche mehr oder minder günstige Erfolge erzielen, dauernde Besserung besonders dann erfahren, wenn der Organismus nicht schon zu sehr erschöpft ist, wenn die Verdauungsfähigkeit noch normal ist und der Kranke sich noch in der Lage befindet, reichlich Fleischkost zu vertragen. Während eines solchen Kurgebrauches giebt sich die Besserung dadurch kund, daß der Durst und das Gefühl der Trockenheit im Munde abnehmen, die Harnabsonderung minder häufig wird, der Schlaf sich erquickender gestaltet, die Kranken sich kräftiger fühlen, ihr Körpergewicht zunimmt, die Zuckerausscheidung geringer wird, ja sogar gänzlich aufhört.

Der chemische Nachweis des Zuckers im Harne ist gegenwärtig sehr leicht und auch dem Laien durch mehrfache Untersuchungsmethoden möglich. Die letzteren jedoch anzugeben, unterlasse ich hier mit Absicht und Vorbedacht. Ich halte es nämlich nicht für zweckmäßig, daß der Kranke selbst diese Untersuchungen vornehme, welche ihn in stete Erregung versetzen und geradezu schädigen können. Ein bloßer Irrthum bei der Beobachtung kann schon verhängnißvollen Schreck verursachen. Wenn verdächtige Anzeichen auftreten, welche Zuckerkrankheit vermuthen lassen, ist es Sache des Arztes, festzustellen, ob die Krankheit vorhanden ist oder nicht; im ersteren Falle müssen häufiger Untersuchungen vorgenommen werden, um über die Schwankungen in der Menge des ausgeschiedenen Zuckers Gewißheit zu verschaffen und hieraus Schlüsse zu ziehen, wie die Lebensweise des Kranken zu regeln ist, was ihm frommt, was ihm schädlich ist.




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 299. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_299.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)