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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Doch Lore hörte nicht. Sie verharrte da, die Augen auf die Uhr geheftet, völlig bereit; aber es war, als könne sie sich nicht vom Fleck bewegen. Dann keuchte etwas die Treppe herauf und die alte Aufwärterin des Hauses trat ein.

„Schönen Gruß von Frau Pastorin und sie läßt vielmals danken. Er sei heut zum erstenmal ‚was besser‘ und hätt ein wenig gegessen.“

„Adieu, Mama!“ sagte Lore, und dann zog sie den Kreppschleier vor die Augen und ging.




Und wieder einmal war es Herbst geworden, regnerischer trübseliger November. In des Doktors Stübchen brannte das Feuer im Kachelofen, und er selbst saß auf dem Sofa, ein Schreiben in der Hand.

Zum zwanzigsten Male wohl schon las er die beiden Briefbogen, seitdem sie ihm gestern eingehändigt worden waren. Frau von Tollen hatte ihn besucht; sie hatte still und gedrückt auf dem Sofa gesessen neben ihm und ihn gefragt nach seinem Ergehen, und wie ihm denn der erste Ausgang nach seiner Krankheit bekommen sei, der ihn vorgestern in seine alte Klasse geführt habe.

„Danke!“ war seine Antwort gewesen, „ein bißchen mehr Husten gestern abend; und nun will der Arzt durchaus, daß ich fortgehe und den Winter im Süden zubringe! Es ist recht hart. – Ich war so froh, daß ich wieder einmal meine Jungen sah! Es kam etwas wie frischer Lebensmuth über mich, als ich alle die blitzenden, fröhlichen Augen erblickte und die Freude auf den Gesichtern, den alten Tyrannen wieder zu haben, den sie schon beinahe verloren gegeben hatten. Nachher ging ich auf den Kirchhof,“ setzte er leise hinzu, und seine von langem Kranksein abgemagerte Rechte griff nach der Hand der Majorin.

„Ich habe Ihnen auch noch etwas zu geben, lieber Doktor, was Käthe für Sie zurückließ. Ich habe den Muth bis jetzt nicht gefunden, ich fürchtete Aufregung für Sie; aber nun –“ und sie legte den Brief, den Käthe in der Nacht ihrer Erkrankung geschrieben, vor ihn hin, und seine Hand drückend, erhob sie sich rasch und ging aus der Thür.

Er betrachtete mit eigenem Gefühl diesen etwas zerknitterten Brief, der in flüchtigen Buchstaben seine Adresse trug. Die kleine schlanke Hand, die das geschrieben, moderte nun schon längst unter der Erde. Es muthete ihn wunderbar an, dieses letzte Zeichen ihres Gedenkens, wie Botschaft aus einer andern Welt.

Wochenlang hatte ihn die Kunde von Käthes Tod, die man ihm so schonend als möglich beizubringen gesucht hatte, wieder zurückgeworfen in der Genesung. Ueberwältigend war sie ihm gekommen, die Nachricht, daß das junge frische Leben dahingerafft sei.

Arme kleine Käthe! Er bereute jede Minute, in der er ihr ein ernstes strenges Gesicht gezeigt hatte. Sie war so ein Sonnenkind gewesen und sie hatte ihn so lieb gehabt, so lieb!

Mit fast scheuer Ehrerbietung öffnete er jetzt den Brief, ein starkes Herzklopfen machte ihn einen Augenblick unfähig zu lesen. Es ist eigen, Stimmen zu vernehmen, die gleichsam aus dem Grabe kommen. Er mußte sich ordentlich zum Lesen zwingen. Da stand:

„Lieber Ernst!

Ich weiß kaum, wie ich beginnen soll mit dem Vielen das ich Dir sagen möchte auf diesem Papier.

Zuerst bitte ich Dich um Verzeihung für alles, was ich Dir gethan, was Du als Unrecht von mir empfunden hast und weißt, und für das, was Du noch nicht weißt, und das ist das Meiste und Schlimmste. Lieber Ernst, es ist sehr schwer, Dir das zu gestehen, aber ich denke, Du wirst Dich trösten, denn Du liebst mich nicht, Du liebst Lore. Schüttle nicht den Kopf, Ernst – ich weiß es so genau, wie Du es weißt. Du hast Lore nicht vergessen, so wenig wie sie Dich vergessen hat. Ich bildete mir allen Ernstes einmal ein, Dich zu lieben, und deshalb habe ich Lores Aufträge an Dich nicht bestellt, habe die Briefe, die sie mir für Dich übergab, zerrissen, habe Lore in Deinen Augen herabgesetzt und, als sie sich verzweifelt weigerte, Becker zu heirathen, da habe ich ihr noch zugeredet und habe ihr gesagt, daß die Pflicht gegen ihre Familie vor der eigenen Neigung stehen müsse. Und als sie sich geopfert hatte, da sollte ich ihr Deine Verzeihung erbitten und habe es nicht gethan. Ich weiß gar nicht, wie das mir in die Feder kommt, ich will es nicht schreiben, aber ich muß, es ist mir, als ob jemand hinter mir stehe und sage: Bekenne, bekenne, ehe es zu spät ist! Vergieb mir auch, daß ich Dir heute Dein Wort zurückgebe. Ich weiß nämlich seit gestern, daß das, was mich zu Dir zog, keine Liebe war, sondern Laune, Eifersucht, Eigensinn – ich wollte Dich haben und bekam Dich. Ich liebe Hans Wegstedt und gab ihm gestern in der Reitstunde mein Wort, das eigentlich gar nicht mir gehört. Ich nehme es mir hierdurch wieder, lieber Ernst, und bitte Dich um Verzeihung, wenn ich Dir wehthat. Ich liebe Dich wirklich nicht – gar nicht – nur so als guten Freund und alten Lehrer liebe ich Dich. Ich erkenne es deutlich, ich kann mich nur in solcher Lebensstellung wohl fühlen, wie sie mir Hans zu bieten vermag, und ich müßte vergehen in engen kleinlichen Verhältnissen.

Ich weiß, ich bin so sehr schlecht, und ich möchte besser werden. Wenn ich Hans Wegstedts Frau bin, dann will ich gegen alle Arme mild sein und Gutes thun, soviel ich kann. Vergieb mir nur, Ernst, und verachte mich nicht. Wenn Du mich verachtest, werde ich nie wieder froh, auch als Wegstedts Frau nicht; aber ich kann doch nichts dafür, daß ich Hans liebe! – Wenn doch Lore noch glücklich würde, Ernst! – Bitte für mich bei Deiner Mutter, daß sie mir verzeihe; vergieb auch Du mir, Ernst, und bewahre ein freundlich Gedenken Deiner
 Käthe von Tollen.“

Er ließ die Blätter sinken und barg den Kopf in der Hand.

Und um dieses Kind, dieses tändelnde, leichtlebige, jeden Ernstes bare Kind – all das Furchtbare! Er warf den Brief auf den Tisch und ballte die Faust vor Zorn und Weh. So verharrte er lange, und die Dämmerung begann allmählich das stille Zimmer zu füllen. War es ihm nicht plötzlich, als säße sie neben ihm in ihrer ganzen morgenfrischen Lieblichkeit? Der süße Veilchenduft, der aus den Briefblättern quoll, machte diese Illusion fast greifbar. Ihm dünkte, es knisterte da neben ihm wie der Stoff ihres Kleides, und er meinte die großen sprühenden Augen zu sehen, die ihn lächelnd betrogen hatten und die süße schmeichelnde Stimme zu hören. „Du liebst mich nicht, Ernst, Du liebst Lore; Du konntest sie nicht vergessen, wie sie Dich nicht vergaß.“

Menschenherz, welche Räthsel birgst du! Der Groll, der beim Lesen ihrer Zeilen sich in ihm bäumte, daß er der Todten noch zürnte, schmolz vor diesen Worten. Eine große Thräne rollte unter der Hand hervor, mit der er die Augen bedeckte, in seinen Bart.

„Um dieses Wortes willen sei Dir verziehen!“ sagte er leise vor sich hin. Und er nahm den Brief, um ihn nochmals und noch einmal zu lesen.

Ja, nun war Wegstedts Zorn erklärbar. Armer Mann! Wer in diese Augen geschaut hatte, ohne gefeit zu sein – –

Wegstedt war nicht wieder nach Westenberg gekommen – nur einmal, als Käthe begraben wurde; und da war er auch hier im Hause Schönbergs gewesen und hatte ihn zu sehen verlangt. Aber die Mutter hatte ihn abweisen lassen in ihrem Schmerze; nun, der Doktor war ja auch schwer krank und hätte nicht begriffen, was der kleine Offizier gewollt. Dann hatte Wegstedt seine Versetzung auf dem väterlichen Gute abgewartet; er war jetzt, so glaubte der Doktor in der Zeitung gelesen zu haben, nach einer ostpreußischen Garnison versetzt – weit von der Stätte, wo er sich eine ganz gehörige Herzenswunde geholt. Vorher hatte er auch seine Strafe für das Duell in Magdeburg auf der Festung verbüßt; das stand ihm, dem Doktor, noch bevor, wenn er gesundete.

Ja, die Tollens, die Tollens!

Die Mutter kam herauf und fragte, ob sie störe.

„Nein, nein, Mutter.“ Es klang freier, frischer als seit langer Zeit.

„Vorhin ist Dein Koffer gekommen vom Sattler, und der Bürgermeister hat Deinen Paß geschickt, Ernst, Du kannst nun jeden Tag reisen, wenn Du willst; sag’s nur.“

„Es wird mir schwer, Mutter.“

„Ja, aber man muß alles thun, um seine Gesundheit wieder zu erlangen. Ich meine auch, es ist ein Entschluß, nach dem Mittelmeer hinunter zu gehen; was man von da so alles hört – ich will froh sein, wenn Du wieder hier bist, Ernst.“

„Ach, der Süden schreckt mich nicht,“ sagte er lächelnd, „weiß Gott, es war lebenslang ein Wunsch von mir, ihn einmal aufzusuchen; aber eigentlich ist er doch nur schön, wenn man gesund ist an Seele und Leib.“

„Ja freilich, in der Fremde ist gut wanken, aber nicht gut kranken.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 306. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_306.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)