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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

„Nicht diesen Ton!“ bat Gerda dringend und sie legte die Hände fest ineinander, „Du weißt, er reizt mich. Laß uns doch ruhig sagen, was gesagt werden muß! – Hättest Du denn keine Lust, Deine Scholle hier selbst zu bebauen?“

„Die armseligen paar Felder und Wiesen?“ fragte er spöttisch, „in der That, um dieser Zumuthung willen brauche ich mich nicht zu erregen.“

„O,“ sagte Gerda eifrig, „das hatte ich auch nicht gemeint. Sieh, der große Bauernhof, der dort unten an der Thalmündung liegt und seine Besitzgrenze fast bis an den Rhein vorschiebt, er ist verkäuflich. Der Verwalter hat es mir gesagt. Ich kaufe ihn, Du weißt, ich kann mit meinem Gelde frei walten, Sascha ist ohne dies sichergestellt. Dann haben wir ein schönes Gut; wir residieren hier oben, der Schwerpunkt der Wirthschaft wird nach dem Hofe unten verlegt. Wir sind die Herren auf einem herrlichen Fleckchen Erde und essen selbstgezogenen Kohl, eigengebaute Kartoffeln, selbstgebackenes Brot. Kann es ein feudaleres Leben geben als das des Grundbesitzers, der nicht um das wechselnde Erträgniß seines Bodens zu zittern braucht?“

„So, also mit dem Verwalter hast Du schon davon gesprochen?“ sagte er, „das war ja auch zunächst das Wichtigste. Nachher konnte man es mir mittheilen. Es thut mir leid, wenn es Dein Ideal gewesen ist, eigengebaute Kartoffeln zu essen, Dir dasselbe nicht verwirklichen zu können. Von der Landwirthschaft verstehe ich so gut wie nichts und hätte weder die Fähigkeit, noch die Neigung, den Krautjunker zu spielen. Auch sehne ich mich mit meinem ganzen Nervenleben nach der großen Stadt.“

Gerda schwieg einige Minuten. Sie sammelte ihre Sanftmuth und hielt ihre entfliehende Geduld mit letzter Anstrengung fest.

„Auf ein solches Nein war ich vorbereitet,“ sprach sie halblaut, „und deshalb habe ich noch einen anderen Vorschlag zu machen.“

Alfred war sekundenlang starr.

„Also einen förmlichen Kriegsplan hat Dein erfinderischer Kopf ausgearbeitet!“ rief er erbittert, „um mir wie einem Jungen, der die Schule verläßt, vorzuschlagen: willst Du Schuster oder Schneider werden?“

„Aber mein Liebling,“ bat sie zitternd, „es ist doch so natürlich, daß ich darüber nachgesonnen habe, mit welcher von Deinen beiden Berufsarten ich mich als Deine Gattin zu vertragen habe. Du willst nicht Landwirth sein. Gut, lassen wir das! Lebe Deiner Schriftstellerei und suche in ihr eine feste, viele Tagesstunden ausfüllende Beschäftigung!“

„Wie kann ich das?“ sagte er in höchstem Unwillen; „ich bin kein Schriftsteller. Ich habe das Talent, dann und wann in scharfer und, wie man sagt, geistvoller Form meine Meinung ausdrücken zu können über sociale Fragen, künstlerische oder litterarische Vorkommnisse, politische Ereignisse; das ist alles. Ich hätte vielleicht das Zeug zu einem Redakteur in mir, aber ich denke nicht daran, mich in solche Sklaverei zu begeben, abgesehen davon, daß meine Gesundheit das gar nicht aushielte.“

Gerda erhob sich. Sie sah auch sehr bleich aus.

„Also wenn das auch nichts ist, was willst Du dann thun?“ fragte sie.

„Wie ich Dir gesagt habe: Dir und unserem Sohne leben,“ antwortete er, hastig in der Veranda auf und ab gehend.

„Und wie ich Dir gesagt habe: das ist kein Lebensinhalt für die Vollkraft eines Mannes. Die Liebe eines Weibes, das Lächeln eines Kindes sind dem Manne die Belohnung nach saurer Tagespflicht. Die Liebe, die er für das Weib empfindet, ist sein heiliges Eigenthum; aber die Geisteskräfte in ihm sind das Eigenthum des Staates. Wenn er ein guter Bürger sein will und der menschlichen Gesellschaft ein nützliches Mitglied, muß er sie der Allgemeinheit dienstbar machen, in welcher Form auch immer. Mit neunundzwanzig Jahren unthätig durch die Welt zu gehen, ist fast ein Verbrechen.“

Alfred blieb neben ihr stehen.

„Du beleidigst mich,“ sagte er bebend, „siehst Du mich je unbeschäftigt?“

„Zwischen beschäftigt sein und thätig sein ist ein großer Unterschied,“ rief Gerda heftig, „sieh doch ein, daß Dein und mein Lebensglück davon abhängt, daß Du eine befriedigende Thätigkeit findest!“

Er umfaßte ihr Handgelenk, und sie sahen sich drohend in die Augen, drohend und feindselig wie zwei, die bereit sind, einander zu schlagen.

„Also,“ fragte er fast unverständlich, „Du machst Dein Lebensglück nicht von meiner Liebe, sondern von meinem Beruf abhängig?“

Eine Pause. Sie athmeten schwer.

„Ich kann einen Mann nicht achten, den ich nicht arbeiten sehe!“

Er schrie auf und schleuderte ihre Hand von sich.

„Weib!“

Gerda hielt sich mit der einen Hand am Geländer fest, die andere hatte sie gegen ihre Brust gelegt. Ihre Augen, wie von einer dämonischen Gewalt festgehalten, hingen an seinen wildverzerrten Zügen.

„Nimmst Du das Wort zurück?“ fragte er tonlos.

Und sie wußte, daß von ihrer Antwort der Tod oder das Leben ihrer Liebe abhängig war. Und doch kam es von ihren Lippen: „Nein!“

Er wankte. Er bedeckte sein Gesicht mit der Hand und schwieg. Aber nur sekundenlang, dann richtete er sich auf, trat einen Schritt auf Gerda zu, die immer wie versteinert dastand und ihn ansah, und sagte mit einer Stimme, die von innerem Zorn ganz rauh war:

„Dies Wort trennt uns für immer! Lebe wohl!“

Gerda schwieg und sah ihn an. Er wandte sich um und ging. Ihre Augen folgten ihm. Und immer stand sie, unbeweglich, lange, lange.

Der feine Regen wandelte sich in strömende Fluthen, der Wind peitschte die Nässe gegen ihre Schultern und feuchtete die blasse Hand, die auf dem Geländer lag. Die Abenddämmerung sank hernieder.

Hinter dem Hause wurde es laut. Ein Pferd wieherte und das Rollen eines Wagens wurde vernehmbar.

Aus der Thür des Wohnzimmers stürzte Sascha mit dem Ruf:

„Mama, Mama, er fährt mit dem Verwalter fort. Wohin? Ich will mit! Bitte, ich will mit!“

Gerda brachte kein Wort über ihre Lippen. Alle ihre Nerven dienten ihrem Ohr, das in peinvoller Genauigkeit das dumpfe Rollen der Räder und den schurrenden Ton des Hemmschuhes vernahm.

„Mama, so sprich doch! Wann kommt er denn wieder?“

„Niemals!“ sagte Gerda laut und rauh.

Der Knabe schrie auf. Er warf sich gegen seine Mutter und umklammerte ihre Kniee.

„Er soll wiederkommen – gleich – gleich,“ schrie das Kind, „er soll nicht fort, ich will es nicht haben! Du hast mir doch versprochen, daß er mein Papa sein soll!“

Sascha schrie und weinte, wie Kinder pflegen, bei denen Kummer sich mit unvernünftigem Zorn mischt, und die vor allem ihren Willen haben wollen. Aber allmählich ward sein Zorn geebnet, und zuletzt fragte er unter erwachender Ungläubigkeit, die mit Angst gemischt war:

„Mama, ist er wirklich fort?“

Sie sah in das verweinte Gesichtchen hinab, das sich in dringender Frage zu ihr emporwandte, und legte schwer ihre Hand auf sein Gelock.

„Ja!“ sagte sie tonlos, „ja – und für immer!“

Da fing der leidenschaftliche Knabe an, herzbrechend zu weinen.

Gerda knieete vor ihm nieder.

„Weine,“ flüsterte sie, ihn umfangend, „weine! Weine – über Dich und mich und ihn!“

Sie führte ihn in das Haus, in sein Schlafzimmer. Sie nahm ihn auf ihren Schoß und ließ ihn an ihrer Schulter weiterweinen. Ihre Lippen machten keinen Trostversuch. Und ihr Auge schaute unverwandt in die Nacht hinaus, die sich draußen vollends niedergesenkt hatte.

Sie versuchte zu denken, aber sie war nicht einmal imstande, einen zusammenhängenden Gedanken zu fassen.

Ihr Inneres glich der Stätte, wo eine Lawine niedergegangen ist: eine wüste Vernichtung hatte alles niedergeworfen.

Und immer sah sie ihn vor sich, wie er sie mit flammenden Augen anherrschte, das böse Wort zurückzunehmen, das von ihren Lippen gekommen war.

Aber dieses Wort – wenn er noch einmal so vor ihr stände – sie würde es noch einmal sprechen.

Und doch, während sie das begriff, fühlte sie in ihrem Herzen eine sinnlose, verzehrende Sehnsucht nach ihm.

Und ihre Arme umschlossen fester das weinende Kind; sie wußte es: ohne ihn konnte sie nicht leben, und alle ihre Tage würden sonnenlos bleiben.




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 310. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_310.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)