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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

denn außer ihm gab es keines für sie, und er stand jenseits an Käthes Grab, und dieser stille grüne Hügel baute sich zwischen ihnen auf – gewaltig und unübersteigbar. Sie war so tief in Gedanken, daß sie Gemmas Sprechen auf dem Flur überhörte. „Die Signora ist zu Hause geblieben.“

Und einen Moment später stand er vor ihr in dem schlichten grauen Reiseanzug, groß und stattlich; und das Sonnenlicht, das den ganzen Raum durchstrahlte, funkelte über seinem braunen Haar und machte seine Augen noch leuchtender, mit denen er sie ansah.

„Ich habe Ihren Onkel verfehlt,“ sagte er und zog einen Stuhl herzu. „Gestatten Sie mir, daß ich mich ausruhe, der Gang hat mich müde gemacht; dieses Rom, es wirkt fast betäubend. Wie kommt es denn, daß Sie nicht mit hinaus sind in Luft und Sonne?“

Sie saß ihm rathlos und überrascht gegenüber. „Ich fühlte mich auch müde,“ antwortete sie.

„Ich störe Sie doch nicht, Lore?“ fragte er leise, sie beim Namen nennend, was er in der Anrede vermieden. „Gestehen Sie, Sie wünschen mich tausend Meilen von hier – ist’s nicht so? Soll ich gehen?“

„Ja!“ sagte sie ehrlich und laut, „gehen Sie!“ Und sie athmete auf.

„Nur ein paar Worte noch, Lore; wer weiß, wann wir uns einmal wieder allein sehen. – Ich wollte Sie bitten, lassen Sie uns das Vergangene vergessen!“

Sie sah ihn zornig an. Leichtfertig dünkte sie sein Reden, als ob man imstande sei – eins – zwei – drei! die Truhe der Erinnerung zuzuklappen. Abgemacht!

„O,“ sagte sie langsam, und es klang bitter, anstatt ironisch, „wozu diese Wiederholung? Sie haben mir längst gesagt, daß Sie vergaßen, wenn auch just nicht mit Worten.“ Und sie dachte, wie sie hier, an der nämlichen Stelle, die Anzeige seiner Verlobung empfangen hatte.

„Nun, so habe ich mich falsch ausgedrückt, ich meinte vergeben statt vergessen! Und bei Gott, Lore,“ setzte er hinzu. „ich trage Ihnen nicht nach, daß Sie –“

Sie wandte stolz den Kopf. „Es ist sehr gütig von Ihnen! Sie meinen also, daß ich aus purem Uebermuth, aus Laune, aus Lust, eine reiche Frau zu werden, oder aus – Gott weiß – etwas Unbegreiflichem Sie verließ; – daß –“

„Ich meine nichts, denn ich weiß, daß Sie – – ich habe vergeben, darf gar nicht mehr zürnen; aber auch Sie sollen mir verzeihen, Lore.“

„Nehmen Sie die Versicherung meiner völligen Verzeihung, wenn ich auch nicht weiß für was!“

„Für was?“ Er sah sie traurig an. „Ist es nicht eine schwere Schuld, daß ich Ihrer Schwester meine Hand geboten habe – ohne eine Spur von Liebe? Ich hatte nicht einmal die Entschuldigung, damit etwas Gutes zu bezwecken, wie –“

„Kein Wort mehr!“ rief sie zitternd. „Es ist wahrlich leicht, einer Todten abzustreiten, daß Sie ihr einst Ihr Herz schenkten. – Käthes Mund ist stumm –“

Er wurde roth, aber er ließ die Augen nicht von ihr. „Ich wiederhole es,“ sagte er laut, „ich liebte Ihre Schwester nicht.“

„Brechen wir das Gespräch ab!“ sagte sie kurz.

Er schwieg gehorsam. Sie war aufgesprungen und ging hastig bis zu dem Kamin hinüber, in dem die letzten Kohlen verglimmten. Sie stieß zwecklos mit der Zange darin umher und nahm den kleinen Blasebalg zur Hand, ohne ihn zu gebrauchen. Endlich kam sie zurück, und vor ihm stehen bleibend in dem grellen Sonnenlicht, das ihm so deutlich die feinen Linien zeigte, die der Gram in ihrem Gesichte gezogen, sagte sie leise:

„Wir wollen uns nicht zanken über diese alten Geschichten, es hätte keinen Zweck und – es ist mir recht, was Sie vorgeschlagen: wir wollen gute Freunde werden. Wir haben uns gegenseitig wehgethan, nur mit dem Unterschied, daß ich nicht Herr meines Willens war, daß ich beinahe gestorben wäre, um – aber lassen wir das! Nur wollen Sie mich nicht mehr trösten mit Märchen, die ich doch nicht glaube! Lassen Sie doch der Todten ihr Recht!“

„Lore, Sie thun mir unrecht! Ich wußte damals nicht, daß Sie gezwungen ‚Ja‘ gesprochen hatten; und tödlich beleidigt durch Ihre Untreue, stürzte ich mich Hals über Kopf – Ach, fragen Sie mich nicht!“

„Also gute Freundschaft!“ sagte sie, seine Worte überhörend.

„Gute Freundschaft,“ wiederholte er, und ein trauriges Lächeln flog, ungesehen von ihr, um seinen Mund.

Und nun saßen sie beisammen und sprachen von Sachen, die weit ab lagen von dem, was sie dachten, und dabei fanden sich immer ihre Augen mit fragendem, forschendem Blick, als suchten sie nach einem einzigen Strahl jenes Glückes, das ihnen einst daraus geleuchtet. Es war so mäuschenstill hier oben, nichts störte sie in den Fragen und Antworten, die zuerst rasch und dann immer langsamer gethan und gegeben wurden.

Der General schien heute die Stunde des Essens versäumen zu wollen. Gemma hatte, auf den Zehen trippelnd, leise den Tisch gedeckt und brachte die Zuppa im übervollen Metallnapf herein.

Lore bat Ernst mit ein paar hastigen Worten, zu Tisch zu bleiben, und füllte die braune Brühe auf die Teller. Sie war dabei verlegen und etwas ungeschickt. Sie saßen sich gegenüber wie ein junges Ehepaar beim ersten Mittagessen; möglich, daß sie beide Aehnliches dachten. Einen Moment, just als er die Hände nach dem Teller ausstreckte, den sie ihm gefüllt, tauchten ihre Augen in die seinen mit dem vollen Ausdruck der alten treuen Liebe; dann senkte sie rasch das Gesicht, und während sie zitternd zu dem Löffel griff, liefen ihr ein paar große Thränen aus den Augen.

Sie sprachen nicht viel mehr bei ihrem kleinen Mahl. Gemma trug die goldgelb gebackenen Fischchen kopfschüttelnd wieder ab, ohne daß davon gekostet war, und ebenso den gebratenen Hahn; nur eine Orange schälte Lore, und er aß davon ein Stückchen nach dem andern und trank dazu von dem dunkelrothen Wein.

„Auf gute Freundschaft!“ sagte er einmal und rührte mit dem Glas an das ihre. Dann fragte er, ob sie nicht spazieren gehen wolle; und als sie bejahte, führte er sie am Arm durch die Straßen Roms, und sie dachte, wie sie es einst geträumt, so mit ihm zu wandern, und daß es nun Wirklichkeit geworden sei, und doch wie anders – –

Die Dämmerung sank herunter, als er sich an ihrer Hausthüre von ihr verabschiedete. „Gute Nacht, Lore!“ sagte er, „und habe Dank!“

Sie erschrak über das „Du“. „Gute Nacht!“ sprach auch sie. „Auf Wiedersehen?“ fragte er.

„Ja!“

„Morgen?“

„Ja!“

Droben murrte der Onkel verdrießlich in seiner Einsamkeit. „Alle Wetter, Deern, so läßt Du warten!“

Sie stand vor ihm und sah ihn an, und vor diesem Blick verstummte er, so thränenschimmernd waren ihre Augen.

„Ei, was ist Dir denn begegnet?“ fragte er. „Du siehst aus, als –“ Er wußte nicht gleich weiter.

„Nichts Besonderes, Onkel. Ich war ganz solid spazieren mit meinem guten Freunde aus der Heimath.“

„Mit dem Doktor da?“

„Ja, Onkel!“

„Eh, das mag wohl kurzweiliger sein als mit dem alten Onkel, das glaube ich,“ neckte der General, „so einer hat alle die Klassiker am Schnürchen und kann Dir sagen, wo Nero seine Schuhe besohlen ließ und die schöne Agrippina ihren Kopfputz kaufte!“

„Ach, Onkel, wir haben nicht an die kaiserliche Roma gedacht,“ antwortete sie.

„Um so schlimmer! Was habt Ihr dann gedacht? Heißt das mit Nutzen reisen?“ – – – –

Ein paar Tage verstrichen und der Doktor verlebte sie mit ihnen. Sie gingen zusammen aus und aßen zusammen, aber sie sprachen kein Wort mehr von alten Zeiten. – Nun kam er eines Abends, um Abschied zu nehmen.

Der General hatte sich bei einem Ausflug nach Tivoli, den sie Tags zuvor unternommen hatten, erkältet und lag zu Bett mit geschwollenen Füßen. Lore saß im dämmerigen Salotto, in das der Mond einen breiten Streifen bläulichen Silberlichtes durch das Fenster sandte; ihr gegenüber der Doktor.

„Grüßen Sie viel tausendmal die Heimath!“ sagte sie und legte ihre Hand in die seine. „Grüßen Sie meine gute Mutter und auch die Ihre – wenn sie noch etwas von mir wissen will.“

„Ach, Lore,“ sprach er weich, „sie vergab Dir Deine –“

„Untreue“ – ergänzte sie, und leise und hastig fügte sie hinzu: „Und ich war Dir doch treu, Ernst, mit jeder Faser meines Herzens.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 320. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_320.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)