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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Erstgeburtsrecht betrogen hatte. Augenscheinlich hängen diese orientalischen Höflichkeitsgebräuche theilweise mit religiösen Gebräuchen zusammen, insofern die Ehrfurcht vor Königen und Vornehmen das Abbild der Ehrfurcht vor Gott ist.

Das zweite Gebiet, auf welchem die Höflichkeit zu Hause ist, ist das des geselligen Verkehrs. Wem, wann, wie und wo wir Besuche zu machen haben, von wem und in welcher Weise diese Besuche erwidert werden, welche Einladungen wir ergehen lassen, welche wir annehmen, welche ausschlagen, welche Gründe der Ablehnung wir angeben, in welchen Räumen und in welcher Toilette wir unsere Gäste empfangen, womit wir sie bewirthen und unterhalten, wann wir uns empfehlen – alles das sind Dinge, welche den Regeln der Höflichkeit unterliegen. Gratulationsbesuche stehen so gut unter dem Herkommen wie Beileidsbesuche. Besondere Pflichten hat der Wirth, besondere Aufgaben die Wirthin, besondere Obliegenheiten haben die nächsten Freunde des Hauses. In dem Anbahnen der Unterhaltung, in der Auswahl der Gesprächsgegenstände, in den Wendungen der persönlichen Bemerkungen steckt eine Fülle von Anforderungen der Höflichkeit. Der eine handhabt diese Formen leicht, der andere schwerfällig, die eine zum Entzücken, die andere zum Lachen.

Dem geselligen Umgang nahe verwandt, zum Theil in denselben eingeschlossen ist der schriftliche Verkehr. Bekanntlich ist das Briefschreiben älter als Papier und Tinte, und die in Pompeji gefundenen Wachstäfelchen mit altrömischen Korrespondenzen lassen die damals üblichen Höflichkeitsfloskeln keineswegs vermissen. Die Briefe der Apostel schließen meist mit Grüßen, welche die Schreiber und ihre Freunde mit Gemeindegliedern wechseln. Seine üppigsten Blüthen hat der schriftliche Verkehr in dem sogenannten Kurial- und Kanzleistil des 17. und 18. Jahrhunderts getrieben. Man muß sich hindurchgegessen haben durch dieses Schlaraffenland appetitlicher Perioden, leckerer Wendungen, deliciöser Wortsaucen, um jenes Geschlecht zu beneiden um die Zeit, die ihm zu Gebot stand, und um das Vergnügen, welches ihm dergleichen Allotria bereiteten. Das sind geschriebene Allongeperücken, schriftstellerische Reifröcke, poetische Frisuren. Wie später Zopf und Haarbeutel diese thurmhohen Toilettenkünste ablösten, so trat an die Stelle der phantastischen Komplimentirerei der strammere Gamaschenstil der Behörden. Noch spätere Zeiten haben auch den Zopf abgeschnitten von den Köpfen und Briefen. Doch halten noch heute die Behörden, so weit es angeht, auf Ehrerbietung und Reverenz, weil sie die Würde und Hoheit des Staats vertreten. Im Privatverkehr befleißigt man sich gegenwärtig im allgemeinen einer angenehmen Einfachheit. Anrede, Unterschrift und schmückende Beiwörter sind heutzutage fast ganz in das Belieben der einzelnen gestellt.

Auch Büchertitel, Vorreden und Widmungen stehen unter dem Ceremoniell der Höflichkeit. Manche Schriftsteller haben das Bedürfniß, nicht nur in den Vorworten, sondern auch im Texte sich in persönliche Beziehungen zu ihren „geneigten“ oder „günstigen“ Lesern und „schönen“ Leserinnen zu setzen.

Dabei ist die Höflichkeit keineswegs ein Vorrecht der sogenannten gebildeten Stände. Wenn wir Handwerker, Bauern, Dienstboten und andere kleine Leute miteinander verkehren sehen, empfangen wir leicht den Eindruck, als entbehre dieser Verkehr gänzlich oder bis zu einem hohen Grade der Zieraten der Artigkeit, Rücksicht und guten Sitte. Allein diese Leute haben so gut ihre Grußformen, ihre Manieren, ihre Ueberlieferungen der Höflichkeit wie die höheren Stände, sie kennen so gut wie diese ihre Grobiane und Flegel. Ueberhaupt hat beinahe jeder Stand seine besondere Art der Höflichkeit, die Fürsten ihr Ceremoniell, die Vornehmen ihre Etikette, die Studenten ihren Comment, die Kinder ihre Spielregeln. Wer gegen diese Ordnungen verstößt, setzt sich der Gefahr aus, von seinen Standesgenossen verleugnet, aus ihrer Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden.

Welcher sittliche Werth kommt der Höflichkeit zu? Die einen schätzen sie sehr hoch, die anderen stellen sie außerordentlich tief. Einige erklären geradezu, die Höflichkeit sei die höchste Blüthe eines gesitteten Lebens; andere behaupten, sie sei nichts als Firlesanz und Humbug. Nicht alle ziehen die Folgerungen dieser Grundanschauung, aber es fehlt auch an solchen nicht, die dies thun. Einige würden es sich schlechterdings nicht verzeihen können, durch ein Wort, eine Miene, eine Gebärde, ein Schriftstück, eine That gegen die Regeln der Höflichkeit zu verstoßen, denn diese Tugend gilt ihnen als die höchste von allen. Sie würden eher unehrlich sein als unhöflich, eher ein Verbrechen begehen als eine Unart. Andere setzen sich mit Leichtigkeit über die Grenzen und Zäune hinweg, welche das Herkommen gezogen hat, sagen sich in ihrem Aeußern, ihren Gewohnheiten, ihren Reden los von allem, was sonst als wohlanständig gilt, gefallen sich geradezu in der Rolle der Sonderlinge, der Einspänner, wenn nicht gar der Klötze und Rüpel.

Welche von beiden haben recht?

Zunächst ist klar, daß ohne die Höflichkeit unser Leben schlechterdings nicht bestehen kann. Streichen wir die Höflichkeit aus unseren Lebensordnungen aus, so versinken wir in vollendete Barbarei. Lassen wir der Unhöflichkeit freien Lauf auf den Gassen, in den Häusern, zwischen jung und alt, vornehm und gering, ja selbst zwischen gleich und gleich, so tritt ein unerträglicher Zustand der Verwirrung, der Zuchtlosigkeit, der Auflösung ein. Höflichkeit und gute Sitte sind die mittlere Entfernung, bei welcher ein Beisammensein der Menschen einzig bestehen kann.

Ein sittlicher Werth also kommt der Höflichkeit unstreitig zu, aber wo steckt er? wie viel gilt er? wie weit reicht er? Auffallenderweise bedienen sich zwei unserer schärfsten Denker, welche hierüber urtheilen, einer und derselben Vergleichung, nämlich des Bildes von verschiedenen Geldmünzen. Kant sagt: „Alle menschliche Tugend im Verkehr ist Scheidemünze; ein Kind ist der, welcher sie für echtes Gold nimmt. Es ist aber doch besser, Scheidemünze, als gar kein solches Mittel im Umlauf zu haben, und endlich kann es doch, wenngleich mit ansehnlichem Verlust, in bares Gold umgesetzt werden.“ Und Schopenhauer führt aus: „Höflichkeit ist, wie die Rechenpfennige, eine offenkundig falsche Münze; mit einer solchen sparsam zu sein, beweist Unverstand; hingegen Freigebigkeit mit ihr Verstand. Wer hingegen die Höflichkeit bis zum Opfern realer Interessen treibt, gleicht dem, der echte Goldstücke statt Rechenpfennige gäbe.“ Das Bild ist sehr glücklich gewählt. Wer die Höflichkeit richtig beurtheilen will, muß vor allen Dingen den Irrthum aufgeben, als sei hier alles bare Münze. Wer wird so thöricht sein, zu glauben, daß die Männer, welche vor einander ihre Hüte so tief ziehen, einen entsprechenden Grad der Hochachtung vor einander empfinden? Wer ist so einfältig, die Unterschrift eines Briefes „Ihr ganz gehorsamer Diener“ so buchstäblich zu nehmen, daß er von dem Schreiber verlangt, er solle ihm die Stiefel putzen? Wie wir von anderen dergleichen kleine Täuschungen um der Höflichkeit willen uns gern gefallen lassen, so machen auch wir uns kein Gewissen daraus, um mit unserem Philosophen zu reden, Rechenpfennige statt Goldmünzen auszugeben, weil wir im voraus wissen, daß kein Verständiger sie für echtes Gold annehmen oder gar uns als Falschmünzer verklagen werde.

Man könnte, unbeschadet des treffenden Bildes, dessen Kant und Schopenhauer sich bedienen, einen andern Vergleich anziehen. Unser Höflichkeitsverkehr hat eine gewisse Aehnlichkeit mit einem Maskenballe. Da trägt jeder seine Vermummung, der eine stellt einen Prinzen dar, der andere einen Chinesen, die eine eine Schäferin, die andere eine Preziosa. Der Scherz und das Vergnügen aber bestehen darin, daß jeder die anderen so lange wie möglich in Ungewißheit hält, wer er denn nun eigentlich sei. Wer wird so ungezogen sein, einem andern die Maske zu lüften, um sich zu überzeugen, wer darunter stecke? Nun hat zwar auch die Demaskirung ihre spaßhaften Ueberraschungen, allein sie verläuft auch bedeutend harmloser als das Fallenlassen der Maske auf dem Boden des wirklichen Lebens. Denn bei dem Maskenfeste kommen doch unter diesen Larven und Garderobestücken schließlich unsere guten Freunde, unsere lieben Nachbarn, unsere eigenen Frauen zum Vorschein. Ganz anders würde die Wirkung sein, wenn alle, die gesellig miteinander verkehren, mit einem Schlage die Vermummungen fallen lassen und sich in ihrer wahren Gestalt, das heißt in ihrer wahren Gesinnung zeigen wollten. Wir würden erstaunen über diese Enthüllungen, entrüstet sein über diese Verstellungen, aufs tiefste verletzt werden durch verblüffende Entdeckungen.

Das wäre nun ein rechter Fund für den strengen Sittenprediger. Seht ihr, könnte er sagen, da habt ihr den thatsächlichen Beweis, wohin unsere sogenannte Bildung, wohin „Europas übertünchte Höflichkeit“ uns gebracht hat! Alles ist Lüge, Schwindel, Falschheit, Heuchelei! Der verständige Mensch glaubt kein Wort von diesen Bezeigungen der Theilnahme, diesen Versicherungen der Freundschaft, diesen Ausrufen der Bewunderung und des Entzückens! Die Unnatur hat die Natur verdrängt, der Schein ist an die Stelle der Wahrheit getreten, hohles Wesen macht sich am Platze der

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