Seite:Die Gartenlaube (1889) 332.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

aufrichtigen Empfindung breit! Darum laßt uns brechen mit diesen Alfanzereien der sogenannten Höflichkeit, laßt uns ein Ende machen dem gespreizten, geschminkten, aufgeputzten Schattenspiel des gesellschaftlichen Verkehrs, laßt uns zurückkehren zu den einfachen, ehrenfesten Sitten unserer Väter!

Nur schade, daß diese einfachen, ehrenfesten Sitten der guten alten Zeit in so idealer Reinheit, wie der also Redende sie sich vielleicht denkt, niemals vorhanden gewesen sind. Auch sie weisen ihre sehr erheblichen Schattenseiten auf. Und ist denn überhaupt die Höflichkeit schlechthin unsittlich? Ist es nicht wahrscheinlich, ja thatsächlich, daß ein Mensch, der sich an Höflichkeit gewöhnt hat, sich damit zugleich Milde des Urtheils, Schonung fremder Schwächen, Beherrschung seiner Leidenschaften aneignet? Ein scharfes Auge entdeckt auch in der seltsamen Mischung, die wir Höflichkeit nennen, Bestandtheile des Moralischen.

Ein Beispiel mag das Gesagte erläutern. Beinahe in jedem größeren Gesellschaftskreise befindet sich einer oder der andere, der mit einem körperlichen Gebrechen behaftet ist. Mancher weiß kaum, daß es gegen die Forderung der Nächstenliebe verstößt, derartige Gebrechen zum Gegenstande lauter Bemerkungen oder heimlicher Gespräche zu machen, darüber zu spötteln oder zu witzeln. Aber er weiß, daß der gute Ton der Gesellschaft verbietet, unter Blinden von Blindheit, unter Krüppeln von Verkrüppelungen zu reden, er nimmt sich wohl in acht, gegen diese Regel zu sündigen und siehe, er erfüllt ein sittliches Gebot nicht aus Frömmigkeit, aus Mitleiden, sondern, wenn man so will, aus Höflichkeit.

Das gewählte Beispiel führt auf einen anderen wichtigen Gedanken. Welch ein unerfreulicher und beleidigender Anblick würde es sein, wenn alle mit Mängeln und häßlichen Zuthaten der Glieder Behafteten diese Uebel frei und offen zur Schau trügen! Deshalb lassen wir uns die Hilfsmittel der ärztlichen Kunst und der geschickten Bekleidung und Verhüllung, welche diese Schäden gefällig zudecken, nicht nur gern gefallen, sondern wir fordern sie im Interesse des guten Geschmacks. Warum sollten wir weniger entgegenkommend sein, wenn es sich darum handelt, die sittlichen Unvollkommenheiten unter angenehmen Formen zu verbergen?

Nun aber besteht die Höflichkeit nicht in einem einmaligen Thun und Lassen, sondern in der Gewöhnung, die zur anderen Natur wird, und hieraus geht zugleich die Wichtigkeit der Erziehung zur Höflichkeit von Jugend auf hervor. Nicht ohne Grund nennt man einen Ungesitteten einen Menschen ohne Erziehung. Wer dieser Mitgift des Elternhauses entbehrt, findet sich in der Welt schwer zurecht und ist Verlegenheiten ausgesetzt, die der minder Begabte, minder Tüchtige, aber besser Erzogene nicht kennt oder leicht überwindet. Denn die Zeiten sind vorbei, wo man die Genialität eines Menschen danach beurtheilte, ob er sich dreist und keck über die Schranken des Herkommens hinwegsetze. Man war einmal geneigt, zu glauben, ein Genie sei ein Mensch, der nicht sei wie andere Menschen; esse und trinke, was ihm beliebe; rede, was ihm in den Mund komme; übernachte, wo es ihm behage; thue und lasse, was ihm gut dünke. Man ist davon zurückgekommen, diese Struwwelpeter mit zweifelhafter Wäsche und akademischer Redefreiheit als die Pioniere höherer Bildung zu verehren. Heutzutage sind auch die Vertreter von Kunst und Wissenschaft nicht mehr komische Figuren, linkische Gesellen, nothwendige Uebel der Gesellschaft, enfants terribles ihrer Umgebungen, sondern die Kultur, die alle Welt beleckt, hat auch den Gelehrten und Künstlern die scharfen Ecken abgeschliffen und den Ehrgeiz benommen, nicht nach dem Gesetze der guten Sitte beurtheilt zu werden. Und demgemäß ist es eine bemerkenswerthe Erscheinung, daß wahrhaft bedeutende Menschen sich häufig durch angenehme und liebenswürdige Formen auszeichnen.

Andererseits ist freilich „Höflichkeit um jeden Preis“ ein schlechter Grundsatz für denjenigen, der den Idealen des Lebens, der Wahrheit, der Freiheit, dem Vaterlande dienen will. Es ist sogar ein schlechter Grundsatz für den gewöhnlichen Sterblichen, und Schopenhauer hat recht: „Wer die Höflichkeit bis zum Opfern realer Interessen treibt, gleicht dem, der echte Goldstücke statt Rechenpfennige ausgiebt.“ Das wird niemand in Abrede stellen, daß in unseren Grußformen, in unserem geselligen und schriftlichen Verkehr Gedankenlosigkeiten, Ungereimtheiten, Unwahrheiten genug vorkommen. Hier trifft das Volkslied das Richtige: „A bissele Lieb’ und a bissele Treu’ und a bissele Falschheit ist allweil dabei.“ Auch von der Höflichkeit gilt vielfach der Rath des Mephistopheles: „Im ganzen haltet euch an Worte!“ Es ist mit der Höflichkeit ähnlich wie mit der Mode. Viele beklagen sich über die Geschmacklosigkeit, die Unvernunft, die Tollheiten, die Tyrannei gewisser Moden. Aber es ist nun einmal nicht jedermanns Sache, gegen den Strom zu schwimmen. Der Aesthetiker Vischer hat den sittlichen Muth gehabt, in seinen Schriften ernst und launig, witzig und spöttisch gegen die Verkehrtheiten und Uebertreibungen der Mode, insbesondere soweit sie die Toilette unserer Damen betreffen, zu Felde zu ziehen. Es wäre zu wünschen, daß einer nach ihm käme, der mit umfassender Kenntniß des ganzen Gebietes der Höflichkeit ausgerüstet es unternähme, die Lächerlichkeiten und Auswüchse einer sogenannten Tugend nachzuweisen und gebührend zu brandmarken, die uns zu Sklaven der Unvernunft und Heuchelei zu machen droht. Freilich wäre dem Tollkühnen, der das auf sich nähme, zu rathen, daß er zuvor seine Brust nicht mit dreifachem, sondern mit siebenfachem Erz zu panzern nicht vergäße.

Auch eignet sich die Höflichkeit schon um deswillen nicht zum alleinigen Grundsatz des Lebens, weil sie in ihrem Gefolge einige Abarten hat, die uns vollends mißtrauisch gegen die einseitige Bevorzugung derselben machen müssen. Dazu gehört in erster Linie die sogenannte „Galanterie“. Zwar ist sie ursprünglich ein französisches Gewächs, allein ihre Stecklinge gedeihen munter auch auf deutschem Boden. Je höher wir weibliche Anmuth, Schönheit und Würde achten, desto mehr werden wir uns angewidert fühlen von dem unnatürlichen, erkünstelten, faden Wesen, welches den Grundzug dieser krankhaften Ueberspannung des Frauendienstes bildet. Noch widerwärtiger wirkt auf gesunde Nerven das Gebaren, welches mit dem Gesammtnamen der Schmeichelei bezeichnet werden kann. Dem Verdienste seine Krone, der Bedeutung ihre Anerkennung, der Schwäche ihre Nachsicht, aber alles, was recht ist! Den Narren einen Weisen nennen, den Feigling einen Helden, den Unwürdigen einen Vortrefflichen, eine miserable Leistung zur Vollkommenheit aufbauschen, der Eitelkeit und dem Ehrgeiz das Opfer der eigenen, wohlbegründeten Ueberzeugung bringen – das ist doch etwas anderes als die Höflichkeit, welche die Schwächen der Freunde entschuldigt und reuigen Sündern Gnade für Recht erweist. Zu den Abarten der Höflichkeit ist endlich der Servilismus zu zählen, dessen klassischer Vertreter noch immer der edle Polonius ist. „Seht ihr die Wolke dort, beinahe an Gestalt eines Kamels?“ fragt ihn Prinz Hamlet. „Beim Himmel, sie sieht wirklich aus wie ein Kamel.“ – „Mich dünkt, sie sieht aus wie ein Wiesel.“ „Sie hat einen Rücken wie ein Wiesel.“ – „Oder wie ein Walfisch?“ „Ganz wie ein Walfisch.“ – Das komische Gegenbild zu dieser Figur mag jener Dorfpastor bieten, dem die Nachricht zugegangen war, sein Patron, ein Edelmann, sei wegen hochverräterischer Umtriebe draußen irgendwo geköpft worden, und der am nächsten Sonntage der versammelten Gemeinde von diesem betrübenden Ereigniß Mittheilung machte mit den Worten, der gnädige Herr sei „an einer Halskrankheit gestorben“.

Wer das Wesen der Höflichkeit begreifen will, muß unterscheiden lernen zwischen falscher und wahrer Höflichkeit. Die falsche Höflichkeit ist nichts anderes als der Deckmantel der Selbstsucht, die Politur und der Firniß des äußeren Benehmens, oft kaum verschieden von Falschheit und Verstellung, freundlich ins Gesicht, unfreundlich in der Gesinnung, nach der Aufsassung, daß der Mensch einen Rücken nur dazu habe, daß ihn seine Freunde hinter demselben schonungslos beurtheilen, lästern und verleumden. Die wahre Höflichkeit ist etwas anderes: sie ist die bewußte und gewohnte Verleugnung der Selbstsucht, die Rücksichtnahme auf das Wohl und Wehe anderer, die Duldung fremder Meinungen und Ueberzeugungen, die Selbstbeherrschung in Anwandlungen von Schwäche und Leidenschaft, die sittliche Triebfeder des Edelmuthes. Nicht alle Künstler der äußerlichen Höflichkeit sind würdige Vertreter der innerlichen; nicht alle Meister der innerlichen sind Vorbilder der äußerlichen. Die wahre Höflichkeit ist die Schule des Bemühens, daß Uebereinstimmung hergestellt werde zwischen den Aeußerlichkeiten und Innerlichkeiten des Lebens, und je besser sie diesen Zweck erfüllt, desto größeren Anspruch hat sie, als sittliches Gut geachtet zu werden. Sie gehört zum sinnbildlichen Schmuck des Lebens, ja sie nimmt unter allen Sinnbildern, die wir kennen, die erste Stelle ein, und auch von ihr gilt das Wort: „Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen!“




Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 332. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_332.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)