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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

und ihr Mann folgte einer nunmehr beinah dreißigjährigen Gewohnheit und richtete sich in allem nach seiner Frau. So ging ihr altes friedliches Leben zu dreien in dieser Zeit scheinbar ungestört weiter. Nur stockte bei den Mahlzeiten jetzt oft das Gespräch, welches freilich nie sehr lebhaft gewesen war, und in unbewachten Momenten hingen die Blicke der Frau an ihrem Sohn mit einer sorgenvollen Zärtlichkeit, welche diesen ruhigen, beinah harten Zügen sonst fremd war und der sie auch niemals Worte lieh. Dem Vater wurde es schwerer, seine Gefühle so zu beherrschen. Zuweilen, wenn die drei am Kamin saßen, räusperte er sich eine Weile und fing endlich an: „Paul, mein Sohn –“

Dann warf ihm aber seine Frau einen strengen Blick zu und schüttelte fast unmerklich den Kopf, und der arme Alte stand auf, ging zu dem Sohn, klopfte ihm auf die Schulter und sagte in halbklagendem Ton:

„Paul, mein Sohn, ich gehe jetzt meine Zeitungen lesen.“

„Also auf Wiedersehen, Vater!“ sagte dann der Sohn und nickte ihm freundlich zu.

„Also auf Wiedersehen!“ sagte er, als er auf dem Bahnhof seinen Eltern zum letztenmal die Hand drückte.

„Ach wann, mein Sohn Paul?“ sagte der Vater und seufzte tief.

„Nun, ich denke und hoffe, in längstens zwei Jahren wieder hier zu sein und Ihnen Ihren Sohn sicher wiederzubringen!“ rief Doktor Herwig fröhlich.

Frau Jung warf ihm einen feindlichen Blick zu und trat zu ihrem Sohn, indem sie Herwig halb den Rücken wendete. Sie hatte sich wortlos darein gefunden, daß Paul den gefährlichen und mühevollen Weg eines Forschungsreisenden einschlagen wollte, aber den, der ihn auf diesen Weg geführt hatte, haßte sie.

„Lebe wohl, Paul!“ sagte sie und hielt seine beiden Hände mit männlich festem Druck. „Ich habe Dir keine Hindernisse in den Weg gelegt, das Zeugniß mußt Du mir geben. Aber nun, ehe Du Dich dort unten muthwillig in eine Gefahr begiebst, denke auch an Deine Eltern, die in der Welt nichts haben außer Dir!“

Sie trat zurück und sah ihn noch einmal an. Da verzog sich ihr Gesicht plötzlich wie in äußerstem körperlichen Schmerz. Paul wollte rasch auf sie zutreten, aber sie winkte ihm abwehrend mit der Hand, wandte sich um und war bald im Gewühl des Bahnhofs verschwunden. Als ihr Mann, der bis zur Abfahrt des Zuges geblieben war, um seinen Sohn wieder und wieder ein letztes Mal zu umarmen, etwas später nach Hause kam und besorgt in ihr Zimmer trat, fand er sie in ihrer gewohnten ruhigen Art ihren Beschäftigungen nachgehend.

* * *

Paul blieb ein Jahr und sieben Monate fort, und diese Zeit verging den beiden alten Leuten sehr langsam. Zwar thaten die Freunde das Ihrige, um sie ihnen zu verkürzen, und die verwaisten Eltern erkannten das dankbar an; außerdem kamen Pauls Briefe. Sie kamen natürlich selten und in unregelmäßigen Zwischenräumen; aber jeder Brief war ein Ereigniß. – Wie herrlich konnte er aber auch schreiben, dieser so ruhige, träumerische Mensch! Die Augen der alten Leute strahlten und ihre Herzen erwärmten sich an dem Feuer dieser Schilderungen. Der Träumer war erwacht, der Unthätige hatte seinen Beruf – oder vielmehr sein Beruf hatte ihn gefunden.

„Ich danke es meinen Sternen,“ schrieb er, „daß sie mich verhindert haben, mein Leben an irgend eine gleichgültige Thätigkeit fortzuwerfen, die mir keine Befriedigung gegeben hätte, während ich jetzt erst weiß, was es heißt, zu leben. Ich bedaure die anderen Menschen, die das nie erfahren werden. Hier fühlt man es bei jedem Athemzug, man lebt so kräftig mit Augen und Ohren, Händen und Füßen, Vernunft und allen Sinnen, wie man es in unseren zahmen, lauwarmen, abgeschlossenen Verhältnissen nie könnte.“

Solche Stellen unterdrückte Frau Jung, wenn sie „Pauls letzten Brief“ dem Kreis der Freunde vorlas, die sich dazu stets mit dem lebhaftesten Interesse versammelten. „Sie würden es doch nicht verstehen, es nur für den gewöhnlichen Hochmuth des Reisenden halten, der auf sein Vaterland herabsehen will,“ sagte sie zu ihrem Mann. Aber die Schilderungen von Land und Leuten, von Jagden und halsbrechenden Fahrten über Stromschnellen, von merkwürdigen, neuentdeckten Thieren und Pflanzen las sie vor und genoß die Bewunderung der Freunde schweigend, aber gründlich.

Einmal schrieb Paul in lebhafter Erregung über die Entdeckung einer Insel, die er auf einer einsamen Expedition gemacht hatte. Sie lag in einem der gewaltigen Seen, war gänzlich unbewohnt und erfreute sich einer besonders mannigfaltigen und glänzenden Flora und Fauna. Doktor Herwig hatte ebenfalls eine begeisterte Schilderung eingesendet, welche sogar Frau Jung milder gegen ihn stimmte.

„Ihr Sohn ist zum Forschungsreisenden geboren,“ schrieb er. „Er ist ein unschätzbarer Gefährte für mich. Wir haben die neu entdeckte Insel ‚Pauls-Insel‘ genannt, ich wollte, Sie könnten sie sehen. Hätten Sie nicht Lust, überzusiedeln? Es ist der Mühe werth!“

„Es ist eine kleine Perle,“ schrieb Paul, „wollen wir uns da ein Königreich gründen? Kommt herüber; Ihr müßt mir aber noch eine hübsche kleine europäische Königin mitbringen, denn eine schwarze Schwiegertochter werdet Ihr Euch doch nicht wünschen.“

Einige Photographien und Zeichnungen von seiner Insel lagen dieser Sendung bei und gingen von Hand zu Hand. Ueberall wurden Ausrufe der Bewunderung laut. – Die aufmerksamste Zuhörerin war auch die jüngste des ganzen Kreises. Ein reizendes zierliches kleines Persönchen, zwischen Kind und Dämchen, mit kurzen blonden Locken, die sie von Zeit zu Zeit mit ihren schlanken Fingerchen ungeduldig von der Stirn zurückschob, über die sie immer wieder fielen. Die großen blauen Augen hingen gebannt an den Lippen der Vorleserin, und ein immer tieferes Roth stieg in das liebliche Kindergesicht und färbte dasselbe schließlich bei der Stelle von der hübschen kleinen europäische Königin bis all die Haarwurzeln. Wie hilfesuchend wendete sich die zierliche Kleine an die neben ihr sitzende Mutter, und diese lächelte ihr zu, indem sie ihr die Ansichten von der Pauls-Insel reichte, welche sie eben aufmerksam betrachtet hatte. Ada breitete diese vor sich aus, stützte den Kopf in beide Hände und versank gänzlich in das Studium dieser Blätter.

Von jenem Tage an geschah in Adas innerstem Heiligthum eine große Veränderung. Eine Anzahl älterer Bilder ihrer Anbetung wurden mit ebenso großem Eifer gestürzt, wie sie einst errichtet worden waren, und auf einsamem Sockel erhob sich eine Gestalt, in welcher nur die begeisterte Priesterin das Urbild erkennen konnte. Es war eine Gestalt wie die Riesen der Vorzeit, mit hoch erhobenem Haupt, mit großen dunklen Augen, die von innerem Feuer strahlten und leuchteten, mit langherabwallenden Locken – ach, Ada! sehr lang war das schlichte Haar Deines Helden nie gewesen, aber wenn Du es jetzt hättest sehen können, dicht abrasirt, nur wie eine braune Farbe den runden, etwas dicken Kopf bedeckend! – Um dieses Götterbild wehten und rauschten Palmen, dufteten seltsam prächtige Blumen in leuchtenden Farben. Bunte Vögel flogen durch diesen Märchenwald, und die kleine Priesterin lauschte stundenlang ihrem Gesang und berauschte ihre phantastische Seele an den fremdartigen Gebilden. Mit einem Wort, und um es in unserem geliebten Deutsch auszudrücken: Ada Laurin liebte Paul Jung!

Ada Laurin war einzige Tochter ihrer Eltern, wie Paul Jung einziger Sohn der seinigen war. Die beiden Familien verkehrten seit langen Jahren ziemlich nahe, Ada hatte oft Gelegenheit gehabt, Paul zu sehen und mitunter, wenn er gerade dazu aufgelegt war, auch ihn reden zu hören, aber wir müssen gestehen, daß sie diese Gelegenheiten ziemlich ungenützt hatte vorübergehen lassen. Damals wäre es ihr auch nicht entfernt in den Sinn gekommen, einen Helden in ihm zu sehen, damals entsprach ihr Vetter, der Lieutenant, der tollkühne Reiter, gewandte Tänzer und gefürchtete Pistolenschütz, viel mehr ihrem männlichen Ideal. Aber dann war Paul eines Tages zu ihren Eltern gekommen, lebhaft, munter, mit leuchtenden Augen, wie sie ihn noch nie gesehen hatte – er sah wirklich hübsch aus. Er hatte die Familie aufs äußerste überrascht, indem er, so gemüthlich und selbstverständlich, als handle es sich um eine vierzehntägige Ferienreise, erzählte, daß er eine Forschungsreise nach Innerafrika machen würde. Ada hatte ihn mit großen Augen angesehen, er war unsäglich in ihrer Achtung gestiegen; während der halben Stunde, welche sein Besuch dauerte, verwandte sie keinen Blick von ihm und entdeckte in dieser Zeit, daß er einen höchst bedeutenden Kopf habe. Sie begriff gar nicht, daß sie das früher nie bemerkt haben sollte, obwohl es ihr jetzt ganz klar war, daß sie immer eine besonders gute Meinung von Paul gehabt hatte. Je mehr sie darüber nachdachte, desto schwerer

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 335. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_335.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)