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verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Körper doch die Gewalt seines überthätigen Geistes ertragen werde. Aber wie seltsam! Hier in der Einsamkeit, wo seine Mutter die ihm gewidmeten Stunden nicht mehr ihren gesellschaftlichen Anforderungen abzuringen brauchte, sondern ganz ihm lebte, hier wurden seine Wangen immer schmäler, seine großen Augen immer leuchtender. Oft klagte er, daß er nichts anzufangen wisse, obgleich seine Mutter sich in der Erfindung von spielender oder belehrender Beschäftigung erschöpfte. Auch ihm wurden die Tage endlos lang. Und oft geschah es, daß beide langsam verstummten, daß beiden das Spielzeug aus den Fingern entsank und daß beide dann still träumend aneinander geschmiegt dasaßen.

Eine geheimnißvolle Gleichheit der muthlosesten Trauerempfindung umspann Mutter und Kind. Aber nach solchen stummen bangen Minuten raffte Gerda sich gewaltsam wieder auf. Sie war nicht das Weib, im stummen Jammer wehrlos zu vergehen.

Das kränkliche alte Fräulein befand sich bei dem neuen Leben am besten. Jedermann hatte jetzt Zeit für sie und ihre zahllosen Pflegebedürfnisse. Mit nie ermüdender Geduld erfüllte Gerda ihr alle Wünsche. Das Kind störte nicht mehr durch Lärm.

Daß Gerda und der Knabe beide blaß und gramvoll aussahen, bemerkte sie nicht. Jeden Tag lobte sie die Ruhe, die eingekehrt sei, und pries das Geschick, daß zwei so unverträgliche Menschen sich noch rechtzeitig getrennt hätten. Daß sie es „schon immer gesagt hatte“, war eine Thatsache, auf die sie sich befriedigt berief. Obenein war ihr noch ein Mittel schlecht bekommen, das Alfred ihr empfohlen hatte, zu versuchen, und dies erstickte jedes Wohlwollen für ihn. –

Auf schweigsamen Spaziergängen, welche Gerda mit dem Knaben unternahm, lebte sie in Gedanken jede Stunde noch einmal durch, die sie zusammen mit Alfred gesehen. Nun war es schon über ein Jahr, seit sie sich zuerst begegnet waren, und diese erste Begegnung war ihnen gleich eine bedeutungsvolle geworden. Der erste Händedruck, den sie gewechselt, hatte ihnen schon gesagt, daß sie sich niemals gleichgültig gegenüber stehen könnten. Und seitdem, in der ganzen Reihe unglücklich-glücklicher Tage, hatte ihr Leben nur noch einen Inhalt gehabt: ihn!

Das Verwaistsein ist entsetzlich. Oft hatte Gerda Stunden, wo sich die dumpfe gedankenlose Schwere, die wie ein tödtender Druck auf ihr lag, lichtete und einer peinvoll genauen Erinnerung Platz machte. Dann begriff sie, warum ihr Leben niemals wieder ein zufriedenes werden konnte, wie es gewesen war, ehe sie ihn gekannt. Er hatte sie den Sonnenschein kennen gelehrt. All die kleinen lieben Beweise einer tiefsten Zärtlichkeit fielen ihr ein. Wie sehr er sich an dem Ton ihres Lachens erfreut und diesen nachzuahmen versucht hatte! Wie eine gewisse Art von ihr, „Nein“, zu sagen, ihm reizend und drollig erschienen war! Wie er täglich mehrmals über eine widerspenstige Haarsträhne, die sich dem Knoten im Nacken nicht einfügte, gescholten hatte und sie doch selbst gern mit raschem Finger herauszog, wenn sie ja einmal glatt lag. Ach, all die winzigen Einzelzüge der Gesammterscheinung, die nur ein Liebender sieht und bewundert!

Das war erstorben, und nun gab es niemand mehr, der Gerda neckte, umschmeichelte, wie ein Kind behandelte. – Wie eine Neugeburt der Seele war ihr, der ernsten, gereiften, von aller Welt als Respektsperson behandelten Frau, es gewesen, in heiteren Augenblicken von ihm wie ein verzogenes Kind behandelt zu werden. –

Der Knabe unterbrach die Grübeleien seiner Mutter nie durch eine Frage. Seltsam unkindlich, wie er in manchen Dingen war, sprach er auch niemals von dem geliebten Freund, warum er gegangen sei, oder wann er wiederkomme. Aber Gerda fühlte mit immer steigender Bangigkeit, daß er an Heimweh vergehe. Freudlos und müde lernte und spielte er. Widerwillig aß er. Seine sonst so erfinderische Phantasie sann nichts mehr aus.

Seit mehr als einem Jahre war er gewöhnt gewesen, dem geliebten Freund alles anzuvertrauen, was er mit seinen Spieldingen zusammen erlebte. Und Alfred war liebevoll mit ihm gegangen, überall hin, er hatte ihn immer verstanden und nie ausgelacht, wie die Tante oft that. Ja, Alfred war mit zum dichtenden Kinde geworden und hatte so schön zu erzählen gewußt. Wenn Sascha fragte, wo der Wind herkäme und was er sänge, wußte Alfred vom eisigen Norden, oder von der heißen Wüste, von fernen Meeren und Schneebergen zu erzählen, und wenn Sascha es nicht glauben wollte, berief er sich auf die Schwalbe als Zeugin.

Die Blumen, der Wind und die Schwalbe waren stumm geworden, und in der todten Natur langweilte sich das Kind.

Nur an einem zeigte es noch Antheil: an den Schreibkünsten, deren Anfangsgründe Alfred ihn gelehrt. Von dem Griffel und der Schiefertafel rückte er zum Bleistift und Papier vor. Und einmal fand Gerda ihn vor ihrem Schreibtisch bei der Tinte.

Seine Fingerchen, der Daumen, Zeige- und Mittelfinger der Rechten waren bis zum Gelenk schwarz, so tief hatte er die Feder eingetaucht, und der Bogen war mit runden Tropfenflecken übersäet. Saschas Gesicht war weinerlich verzogen.

„Was machst Du da?“ fragte seine Mutter.

„Ich will mit Tinte schreiben lernen, gerade so, wie es gemacht wird, wenn man Briefe schreibt,“ sagte er, „und immer wenn ich einen Buchstaben machen will, wird es bloß ein Klecks.“

Gerdas Herz klopfte. Vor ihren Augen ward es dunkel.

„Du hast die Feder zu voll von Tinte,“ bedeutete sie mit unsicherer Stimme und im zärtlichsten Ton. „Komm, ich will Dir einen reinen Federhalter geben. So – mein Liebling, siehst Du, nur die Spitze. Willst Du an Tantchen schreiben? Soll ich Dir zeigen, wie es gemacht wird?“

Gerda wußte ganz genau, was ihr Kind wollte und dachte. Jeder Pulsschlag sagte es ihr. Mit zitternden Fingern legte sie ihm einen Bogen hin. „Da oben schreibst Du: ‚Liebes Tantchen‘, dann kommt ein Ausrufungszeichen, und dann da, weiter unten, schreibst Du was anderes. Zum Beispiel: ‚Ich hoffe, daß Du morgen ganz wohl bist, und grüße Dich als Dein Sascha‘,“ sagte sie; „Tantchen wird aber eine Freude haben.“

Sascha begann „Liebes Tantchen“ hinzumalen. Seine Wangen glühten. Das war sehr gut mit dem Brief an Tantchen, da sah er, wie es gemacht wurde.

Gerda überwachte, mit Anweisungen aushelfend, die Fertigstellung dieses Briefleins.

„Trag Du es ihr hin,“ bat Sascha, vor Eifer glühend und mit einem – ach, lange nicht gesehenen Lächeln, „ich will’s noch ein bißchen mit Tinte versuchen.“

Gehorsam ging Gerda. Und als sie nach einer Stunde wieder kam, saß Sascha still am Fenster. Sie aber fragte nicht, was aus seinen weiteren Schreibversuchen geworden sei.

Die hatten freilich Mühe genug gekostet, aber endlich war doch ein Brief zustande gekommen. Die ganze erste Seite war von der Anrede ausgefüllt.

„Liber süser Papa liber guhter Papa,“ stand da in steilen Buchstaben auf den Bleistiftlinien, die eng und weit, schräg und gerade das Papier überquerten.

„Bitte komm doch Wiehder Du hast einmahl gesagt Du Willst mein Papa sein Ich und Mama Sind sehr Traurich und so grüse Ich Dich als Dein Sascha.“

Das kleine deutsche w war Saschas Todfeind, er zog das große lateinische vor, das ihm leichter gelang. Von Interpunktionen hatte er natürlich noch keine Ahnung.

Eine weitere und noch größere Schwierigkeit hatte ihm die Aufschrift des Couvertes gemacht. Den Familiennamen Alfreds hatte er vielleicht einmal gehört, aber er wußte ihn nicht. Er wußte aber genau, daß ein solcher, wie auch die Angabe einer Straße und einer Stadt auf dem Brief nothwendig ist. Eine vollkommene Entmuthigung preßte ihm Thränen aus. Aber dann kam ihm ein Trostgedanke. Neugestärkt, schrieb er schief und kaum leserlich auf das Couvert: „An Papa Alfred.“

Er schloß das Couvert sehr sorgfältig; als er es in die Tasche stecken wollte, war es zu groß. Da schob er es unter seinen Kittel auf die Brust.

Gerda bemerkte, daß der Knabe sich den ganzen Tag in der Nähe der Verwalterwohnung aufhielt. Auch sah sie, daß der Kleine seinen Zweck, den er offenbar hatte, erreichte, denn gegen abend kam der Verwalter heim und Sascha redete ihn an. Sie ahnte, mit welcher Frage!

Von nun an zeigte Sascha sich heiterer und bat jeden Tag, ob er nicht mit der Jungfer nach Baden hinunterspazieren dürfe. Gerda schlug es ihm immer wieder ab. Sie hatte das Couvert bemerkt, welches das Kind allabendlich unter das Kopfkissen steckte und allmorgendlich wieder auf der Brust verbarg. Ja – wenn sie nichts, nichts bemerkt gehabt hätte, und wenn das geliebte Kind wie ein Geist der Versöhnung „ihn“ wieder hergeführt – aber so – sie mußte doch gestehen, wenn er des Kindes Ruf Folge

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