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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

„Komm, Marbod, ich will Dich vorstellen,“ hörte er Alfred sagen, und dann kein Wort mehr.

Nicht imstande, seinen tödlichen Schrecken zu bemeistern, stand er und sah Germaine an, die ihrerseits nach einigen Augenblicken, in denen es schien, als sammle sie eine Erinnerung, sehr freundlich sagte:

„Ich glaube, ich habe schon einmal flüchtig das Vergnügen gehabt – in Schwalbach, nicht wahr, durch Frau von Zech. Wie geht es Frau Hauptmann von Zech? Wir haben nicht wieder von ihr gehört, seit sie aus Schwalbach ging.“

Und zu ihrem Unbehagen wurde Germaine bei den alltäglichen Worten ganz roth und fragte sich, wo in aller Welt denn hier eine Veranlassung zum Erröthen sei.

Alfred aber sah die vollkommene Fassungslosigkeit in seines Freundes Gesicht. Erst begriff er nicht, was das bedeute. Dann, als Germaine sprach, kehrte plötzlich in sein Gedächtniß zurück, was Marbod ihm einmal gesagt von einem Mädchen, „blond und ruhevoll, kraftvoll und rosig, das ganze Wesen eine Wohlthat“. Er lächelte. Ein sonderbares, ironisirendes Lächeln.

Er klopfte Marbod auf die Schulter und sagte:

„Ich hoffe, Ihr werdet die besten Freunde sein. Germaine soll der gute Engel unserer Winterabende werden. Aber nun komm! Gieb ihr den Arm, wir wollen einen Wagen nehmen. Du fährst doch mit uns? Hast Du alles besorgt?“

Marbod hatte sich bezwungen. Mit ruhiger Stimme, die aber feindselig kalt klang, antwortete er:

„Nicht alles. Nur die Wohnung. Was die kirchliche Trauung anbetrifft, so waren Deine Befehle zu ungenau, um ausgeführt werden zu können.“

„Desto besser. Wir verzichten auf eine Trauung – allerlei Gründe – genug, es kann nicht sein, lassen wir es. Vorwärts also zum Wagen!“

Und Alfred ging so hastig voran, daß Marbod nichts übrig blieb, als mit Germaine zu folgen.

Er fühlte, daß er etwas sagen müsse. Doch wollte ihm kein leeres Wort über die Lippen. Wenn er sie nicht felsenfest geschlossen hätte, würde eine heftige, vorwurfsvolle, erniedrigende Frage herausgekommen sein. „Wie konntest Du, gerade Du, ohne Liebe heirathen? Ist Deine Weiblichkeit also nur Komödie gewesen?“ Der Schmerz, den jede Enttäuschung bereitet, war ihm sehr bitter.

Germaine wunderte sich, daß er nicht sprach, auch ihre erste Frage nach seiner Schwester nicht beantwortet hatte. Ein Gespräch über gemeinsame Bekannte ist doch sonst die willkommenste Aushilfe zwischen Fremden, die zusammen sprechen müssen.

Sie wartete so lange auf eine Anrede von ihm, bis auch sie zu verlegen ward, um ihrerseits anzufangen.

Alfred erwartete sie am Wagen und sah sie so schweigsam nebeneinander herankommen.

„Du fährst mit uns?“

„Nein!“

„So kommst Du heute abend?“

„Nein!“

„Aber ich bitte Sie,“ begann hier Germaine mit unsicherer Stimme, „mich nicht glauben zu machen, daß meine Gegenwart Ihren freien Verkehr mit Alfred stört. Ich weiß, daß Ihre Freundschaft das Beglückendste für ihn ist. Sie werden nicht aufhören dürfen, ihm Beweise derselben zu geben, wenn Sie ihn nicht unglücklich machen wollen.“

„In der That,“ sagte Marbod, sich zu einer Lüge aufraffend, „ich fürchtete zu stören.“ Er wußte recht gut, daß Alfred einfach sagen würde. „Wir brauchen Dich nicht,“ wenn er mit Germaine hätte allein sein wollen.

„Wir wollen immer so wahr bleiben, wie wir es gewesen sind,“ sprach Alfred, gab ihm die Hand und sah ihn fest an.

Dieses Wort und dieser Blick trafen Marbod; ihm schien es, als durchschaute Alfred ihn vollkommen.

„Also heute abend,“ sagte er tonlos.

Alfred und Germaine fuhren davon. Er stand und sah dem Wagen nach.

„Und ich – ich habe ihr die Rosen auf die Schwelle der neuen Heimath streuen müssen,“ dachte er bitter.




12.

Die Ravenswann und die Schneider hatten nach der interessanten Hochzeit nicht mehr lange Ruhe in Baden-Baden gehabt. Sie packten ihre Sachen und beschlossen, nach einem kleinen Besuch in Heidelberg, wo der Assessor studiert hatte, nach Berlin zurückzukehren.

In Heidelberg wurde den beiden Frauen eine Begegnung, die sie dann noch tagelang beschäftigte. Während ihre Männer Ravenswanns alte Corpskneipe zu einem Frühschoppen aufsuchten – eine Unregelmäßigkeit in der Lebensweise, die der Assessor sich nur einmal jährlich und nur hier gestattete – saßen die Frauen reisemüde und gelangweilt auf der Terrasse vor ihrem Hotel, den Mittagsschein der Herbstsonne noch benutzend.

Da fuhr ein Wagen vor, der Portier eilte heraus, öffnete den Schlag und wartete, bis die Herrschaften, die ihn benutzen wollten, aus dem Hause kamen.

Eine mittelgroße Dame erschien; sie trug einen Reisemantel, einen grauen Filzhut und über diesem, sowie um Gesicht und Haar einen grauen Gazeschleier. So ein glänzender Seidenschleier, der Hut und Haupt umhüllt, wirkt undurchdringlich; Marie Ravenswann konnte nicht einmal sehen, ob die Dame jung oder alt sei. Aber das Kind, welches an der Hand des Mädchens folgte, kam ihr sehr bekannt vor.

Auf einmal, durch einen Blick von Jettchen Schneider belehrt, wußte sie es: der kleine Offingen.

Mit athemloser Spannung sahen sie nun zu, wie die verschleierte Dame einstieg, wie die Jungfer das Kind in den Wagen hob und es mit einer Reisedecke umwickelte. Dann schloß der Portier den Wagen und kehrte mit der Jungfer in das Haus zurück.

Als wenige Minuten nachher der Oberkellner unter die Thür trat, winkte Frau Doktor Schneider ihn heran.

„Bitte, sagen Sie doch, Herr Oberkellner, wohnt eine Baronin Offingen hier?“

„Allerdings. Die Dame sind aus Baden-Baden mit dem jungen Herrn Baron und Bedienung,“ antwortete der beflissene Mann.

„Schon lange?“

„Seit gestern.“

„Wissen Sie, ob die Herrschaft lange hier bleibt?“ fragte Frau Schneider weiter. Frau Marie besaß nicht die Souveränität im Ausfragen wie ihre Freundin und setzte ein bißchen zu ängstlich vor dem Kellner hinzu:

„Wir kennen die Dame nämlich, daher interessirt es uns.“

„So viel ich weiß,“ sagte der Mann höflich, „sind Frau Baronin hier, um den berühmten Professor Willradt zu konsultieren.“

„Sie ist krank!“ riefen beide Frauen und sahen sich an.

„So viel ich weiß, der kleine Junker. Wie die Bonne sagt, soll es erblich sein.“

„Danke,“ sagte Frau Doktor Schneider, gnädig mit dem Kopfe nickend. „Du mußt wissen, Mietze, daß der erste Mann der Offingen an der Schwindsucht starb.“

„Wie gräßlich! Da kann man wirklich von der sichtbaren S-trafe des Himmels s-prechen, die die leichtsinnige Frau trifft. Das einzige Kind! Ja, wo einmal Auszehrung in der Familie ist …“

„Unsinn,“ sagte Frau Doktor Schneider, „mein Mann sagt, Auszehrung giebt es nicht, das sind Tuberkeln und das ist organisch, freilich auch erblich und ansteckend.“

Sie harrten auf ihrem Platz aus, bis die Baronin Offingen zurückkam, und konnten, als sie mit dem Kinde vorüberging, den halblauten Ausruf „wie elend!“ nicht unterdrücken, wobei Gerda von Offingen sichtbar zusammenzuckte, ohne übrigens aufzusehen. War dieser Ausruf Mitleid mit dem zarten Kind? Mit der geprüften Mutter? War er das triumphirende Gefühl, mit dem der vermeintlich Gerechte sich über den vermeintlich Ungerechten erhebt? Vielleicht war beides, das Mitleidige und das Schadenfrohe, darin vermengt, denn die Regungen des Herzens sind oft unentwirrbar verwoben aus Schlechtem und Gutem.

Tagelang sprachen sie noch davon, und Frau Mietze nahm sich vor, bei der ersten Gelegenheit Alfred davon zu erzählen. Sie brannte darauf, ihn wiederzusehen, und sowie sie in Berlin ihre ganze Wohnung reingemacht hatte, mit einer Umständlichkeit, als habe sich dort in den fünf Wochen der Staub eines Jahrhunderts angesammelt, erließ sie Einladungen zu einer Abendgesellschaft.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 412. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_412.jpg&oldid=- (Version vom 1.6.2021)