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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Ein deutscher Liebesgott.

Erzählung von Stefanie Keyser.
(Fortsetzung.)


Sif war wie betäubt, als sie so plötzlich allein dastand. Noch sah sie, wie Ellen, an dem Purzelmann vorüberschreitend, zu demselben aufschaute mit einem Lachen, welches die blendenden Reihen ihrer Perlenzähnchen blitzen ließ. Dann flatterte die breite maisfarbige Moireeschärpe davon.

Sie wandte sich wie zu einem Leidensgefährten zum Purzelmann. Sie hätte ihn am liebsten wieder mitgenommen. Armes Kerlchen! Wie wird es Dir ergehen! Die Thränen, die ihr in die Augen traten, schrieb sie dem Mitleiden mit dem Götzen zu. Er aber grinste vergnügt auf sie herab. Dann ging sie.

Ehe die Thür hinter ihr zufiel, sah sie aus der Tiefe des Museums den Direktor heraneilen, die Augen verstört nach ihr gerichtet. Aber sie drückte die eisenbeschlagene Pforte fest zu und schritt dann rasch die Stufen hinab, die vor ihr schon so oft Menschenfüße begangen hatten, die auch hinter sich gelassen hatten, was des Lebens Glück genannt wird.

Als sie ihren Stubenschlüssel im Hotel verlangte, fragte der Kellner mit einem aufmerksamen Blick in ihr blasses Gesicht, ob sie auf ihrem Zimmer zu soupiren wünsche. Sie nickte und bestellte Thee. Dann stieg sie in ihr viertes Stockwerk hinauf, müde, als sei sie plötzlich um ein Jahrzehnt gealtert. Aus dem Fenster sah sie, wie der Wagen der jungen Dame von dem Kutscher langsam im regelrechten Bogen über den Platz geführt wurde. Jetzt winkte ein Diener in der Museumspforte. Der Landauer fuhr vor. Fräulein Arion erschien mit ihrem Gefolge, der Direktor an ihrer Seite.

Sif flüchtete schnell in den Hintergrund des Zimmers. Sein erster Blick war über die Front des Hotels geflogen. Er hob Ellen in den Wagen, trat mit einer Verbeugung zurück. Der Landauer rollte davon. Abermals spähte sein Blick herüber, ehe er langsam die Stufen wieder hinauf stieg. Noch einmal sah er sich um, dann verschwand er in der Thür.

Der Kellner hatte unterdessen den Theetisch hergerichtet. „Lassen Sie alles hier stehen!“ befahl Sif. „Ich wünsche, nicht wieder gestört zu werden. Punkt vier Uhr wollen Sie wecken, Rechnung und Frühstück und einen Platz im Hotelwagen bereit halten. Mit dem Fünfuhrzug reise ich ab.“

„Sehr wohl!“ Er verschwand, und Sif verschloß hinter ihm die Thür. Sie wollte auch für keine Botschaft mehr erreichbar sein. Nein, sie wollte nichts mehr von ihm wissen!

Und gleich darauf saß sie hinter dem Vorhang, um hinüberzuspähen nach der Thür, hinter welcher er weilte.

Jetzt endlich verließ er das Museum. Er stand auf dem Platz und schaute herüber, that einige Schritte, wie unschlüssig, wandte sich wieder, während er seine Handschuhe zuknöpfte, und ging endlich stracks auf das Hotel zu. Sie meinte vor Herzklopfen ersticken zu müssen. Im nächsten Augenblick erwartete sie das Pochen des Kellners zu vernehmen. Aber es blieb still. Hatte der dienstbare Geist gemeldet, daß sie nicht mehr zu sprechen war?

Sie lugte, gedeckt von der Gardine, hinab. Es dämmerte schon stark; aber sie hätte den Fortgehenden ganz gut erkennen können. Er ging nicht. Ach, er aß vielleicht zu Abend unten im Speisesaal, glaubte, sie würde auch ihr Abendbrot dort verzehren, und er wollte ganz kollegialisch mit ihr soupiren.

Würde er eine solche Voraussetzung auch Fräulein Arion gegenüber sich gestatten? Nein, o nein! Eine heiße Röthe schoß in ihr Gesicht. Und was hatte sie gethan, um so ohne Achtung behandelt zu werden? Sie war, der eigenen Würde trauend, allein hierher gefahren, hatte einen Wunsch und Auftrag ihres kranken Vaters erfüllt.

Mit hastigen Schritten ging sie in dem engen Zimmerchen hin und her. Die Zurücksetzung, die sie erfahren hatte, brannte bis in ihr Herz hinein. Vergeblich zeigte ihr die Erinnerung sein Bild, wie er sichtbar geängstigt ihr nacheilte.

Nein, sie wollte ihn nicht wieder sehen! Und dabei lugte sie doch hinab auf die Straße, wo die Gaslaternen Tageshelle verbreiteten, daß man die kommenden und gehenden Gäste deutlich erkennen konnte. Die Hünengestalt wurde nicht sichtbar.

Endlich verstummte der Tageslärm. Die Lichter, die in den langen Häuserreihen nach und nach aufgeleuchtet waren, verlöschten ebenso allmählich wieder. Die letzten Gäste gingen nach Haus. Sie hörte das Zuschlagen der großen Hotelthür. Unter dem Gewimmel von dunklen Gestalten mochte er sich mit verloren haben, wie die Menschen sich eben im Leben aus den Augen kommen.

Durch das klaffende Fenster wehte schon frische Morgenluft, und jenseit der steilen Dächer, über die sie hinweg sehen konnte, graute am Himmel der erste matte Tagesschimmer. In ein paar Stunden ging es heim.

Heim! Sie athmete tief auf bei dem Gedanken.

Und sie wollte nicht wieder fort von Tannenroda. Ihr Vater hatte doch recht. Dort droben in der Einsamkeit gewöhnte man sich leichter an den Gedanken, allein durch das Leben zu gehen. All das schöne Geräth, das sie hier entzückt hatte, es war geschaffen, um glückliche Familienkreise mit Behagen zu umgeben. Sie besaß keinen Theil daran. Das gegenseitige Sichverstehen, die Uebereinstimmung mit einem andern Menschen, die sie hier zum erstenmal gefunden zu haben glaubte, sie führten nur zum Heil bei gleicher Lebensstellung. Der berühmte Direktor und die reiche junge Dame fanden von selbst sofort das richtige Verhalten gegen einander, während sie wie das Mädchen in dem Märchen von der Frau Holle alle vorkommende Arbeit that und dann gleich Aschenbrödel im Winkel sitzen gelassen wurde.

Sie stellte die Tellerchen, von denen sie ab und zu einen Bissen genommen hatte, auf dem Theebrett zusammen. Dann machte sie Toilette zur Nacht, aber es ging langsam damit von statten. Denn während sie die langen Zöpfe flocht, mußte sie an den Flachs denken, den sie unter seinen Augen gesponnen hatte. Der herbe Dnft des letzten Wachholderzweigleins, das sie aus der Kleidertasche schüttelte, versenkte sie in wehmüthige Träumerei; sie meinte den warmen Blick zu fühlen, den er auf sie heftete, während sie das Feuer in dem Götzenbild anzündete.

Sie packte ihre kleine Handtasche wieder und seufzte: „O, hätte ich nie diese Reise unternommen! Da wäre mir die Erinnerung an den geharnischten Reiter geblieben als schönes Traumbild meiner Jugend, und ich hätte in der Einsamkeit meines Lebens doch eine lichte Erinnerung gehabt. Nun ist alles zerstört und verzerrt, daß ich das ganze Ereigniß aus meinem Leben tilgen möchte.“ Voll heißen Schmerzes drückte sie das Schloß zu. –

Zur richtigen Stunde fuhr der Hotelwagen vor. Sif warf noch einen Blick hinüber auf die hohen schmalen Fenster des Museums, dann rollte sie wieder der Eisenbahn zu.

Als sie am Schalter stand und ihr Billet bezahlte, griff plötzlich eine Hand nach der Reisetasche und eine gedämpfte Stimme sprach: „Erlauben Sie mir, wenigstens im letzten Augenblick meine Pflicht gegen den Gast üben zu dürfen.“

Es ging ihr wie ein Schlag durch alle Glieder; aber sie ließ die Tasche nicht los und trat zurück. Obgleich von Purpurröthe übergossen, sprach sie mit fester Stimme: „Ich danke. Sie haben keine Verbindlichkeit gegen mich zu erfüllen. Ich kam ja nur als Bote, dessen Pflicht es ist, das ihm übergebene Packet richtig abzuliefern.“

Er sah sie tief erschrocken an. „Sie haben sich so viel bemüht,“ stotterte er.

Je bestürzter er erschien, je mehr fand Sif ihr Gleichgewicht wieder. „Für meinen Vater,“ sagte sie kühl.

Er verlor gänzlich die Fassung. Das anspruchslose Mädchen entpuppte sich plötzlich als herbe stolze Frau. Er wagte nicht, an das alte deutsche Spinnrad zu erinnern, das sie wieder in Gang gebracht, auch ohne daß es ihr Vater gewünscht hatte, über das sie gemeinsam die Häupter geneigt, an dem sie vereint den unzerreißbaren Kreuzknoten geknüpft hatten.

Er folgte ihr in den Wartesalon.

„Ich versuchte gestern abend noch, Ihnen meine Entschuldigung zu bringen,“ begann er aufs neue; „aber der Kellner sagte mir, daß Sie nicht gestört zu werden wünschten.“ Er wollte lächeln und erzählen, daß der Kellner ihm vorwurfsvoll gesagt habe, wenn die Damen aus dem Museum kämen, wäre Schlaf das einzige Rettungsmittel für sie. Aber auch der Scherz erstarb, das Lächeln verging ihm, so fremd sah sie ihn darüber an, daß es etwas zu entschuldigen geben sollte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 422. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_422.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)