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verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Er hatte es sich geschworen, Herr zu werden über sich und aus eigener Kraft den Abgrund unüberbrückbar aufzuthun zwischen sich und ihr, den er mit einer Heirath schaffen wollte und nicht hatte schaffen können durch die wunderlichste Schicksalsfügung.

Er setzte sich wieder an den Schreibtisch und schrieb mit eiliger Feder Verse nieder, flüchtig, undurchdacht – nur wie aus einem Nothgefühl heraus, das in irgend einem Ausdruck Befriedigung erhofft:


„Daß wir zusammen einst geschritten,
Daß wir vereint gedacht, gelitten,
Schwand mir, wie eines Liedes Klänge
Hinsterben, fast im Tagsgedränge;
Ich dachte Dein und jener Zeiten kaum,
Und wenn ich dachte, dacht’ ich wie im Traum.

Da, als sie Deinen Namen riefen,
Was hat mich jählings so ergriffen?
Es ist mir gleich Lots Weib ergangen,
Nicht dämpfen konnt’ ich das Verlangen,
Zurückzuschau’n und in die Gluth zu seh’n –
Ich sah zurück und blieb entgeistert steh’n.“


Nein, das befreite nicht, das waren schöne Lügen, gereimte Unwahrheiten. Als er wieder las, wie es dastand, daß er „ihrer kaum gedacht“, ergriff er das Papier, drückte es zum Ball zusammen und warf es in den Papierkorb.

Ihrer kaum gedacht?!

Er senkte seine Stirn auf die verschränkten Arme nieder, die auf der Tischplatte ruhten, und blieb so lange – lange.

Ein Frauenkleid rauschte hinter ihm, ein leise schreitender Fuß war herangekommen. Er hörte es wohl, doch regte er sich nicht. Unbeweglich trug er auch die Hand, die sich dann auf seine Schulter legte. Erst als eine innige Stimme sanft seinen Namen rief, wandte er das gramvolle Gesicht dem jungen Weibe zu.

In ihren Augen standen Thränen, nicht die aufsteigenden Thränen beginnender Rührung, sondern die letzten Tropfen von vergossenen Fluthen.

Alfred sprang auf und zog sie in seine Arme.

„Auch Du!“ rief er schmerzlich. „Und warum?“

Germaine versuchte an seiner Schulter ihr Gesicht zu verstecken; sie war eine von den Frauen, die sich schämen, wenn man bei ihnen Gefühlserregungen sieht.

Da sie schwieg, glaubte Alfred mit der natürlichen Selbstsucht des Unglücks, sie habe um seinetwillen geweint. Er streichelte ihr sanft das Haar, versuchte zu lächeln und sagte:

„Gewiß, es wird vorübergehen. Es muß für alles ein Vergessen geben. Auch dafür. Aber weine nicht! Erinnerungsschmerzen thun weh, so weh, daß sie für Stunden überwältigen können – aber doch wird mein Leben leer sein, wenn sie mir nicht mehr kommen.“

Germaine faßte sich und, wie es ihre Art war, gelang ihr dies vollständig. Mit ruhiger Stimme bat sie Alfred, doch schlafen zu gehen, der Lichtschein, der aus seiner halb offenstehenden Thür gekommen, habe sie erschreckt und hierher gelockt; seinen Nerven sei das späte Aufsitzen und das Versinken in finstere Grübeleien gewiß nicht gut. Er versprach ihr, was sie wollte.

Als sie wieder gegangen war, fiel ihm erst ein, daß sie den Lichtschein aus seiner Thür gar nicht hätte sehen können, wenn sie selbst nicht noch zu ungewohnter Zeit im Zimmer daneben gewesen wäre. Und sie war schon mit Thränenspuren gekommen. Sorgenvoll dachte er nach, welche Beunruhigungen an dieses immer gleich sanfte und reine Frauenherz getreten sein konnten. Er bemerkte, daß sein Nachdenken ganz unnütz war, denn es stützte sich auf keinerlei Beobachtungen. Er hatte Germaine neben sich hergehen lassen, ohne im mindesten darüber nachzudenken, ob ihre Stunden auch anregend und befriedigend ausgefüllt seien. Und wie zufrieden und still hatte sie dabei um ihn gewaltet! Es mußte schon ein hoher Grad von Unglücksgefühl sein, der sie zu Thränen brachte, zu Thränen, die sie ihm nicht verbarg.

Mit dem Vorsatz, sich fortan mehr und eingehender um Germainens Tageseintheilung, ihre Interessen und Abneigungen zu bekümmern, ging er schlafen.

Als sie am andern Morgen beim Frühstück zusammensaßen, überraschte er sie durch Fragen und Vorschläge. Ob sie Talente habe zur Musik, zur Malerei, für Sprachen. Ob sie durch Unterrichtnehmen dergleichen weiter pflegen wolle, oder ob er ihr in den Fächern, darin er sich etwas zutrauen dürfe, dienen könne.

„Wie merkwürdig!“ sagte Germaine, „gerade in dieser Nacht habe auch ich gedacht, daß es gesünder sein möchte, wenn ich, anstatt zu naschen, mich ernährte. Ich habe bunt durcheinander gelesen, was mir unter Deinen Büchern verlockend erschien. Dabei habe ich nebenher das bißchen häusliche Geschäfte besorgt. Eine feste Tageseintheilung möchte besser sein; ich werde sie strenge innehalten. In dieser möchte ich dann Stunden feststellen, wo ich Kunstgeschichte und Sprachen weitertreibe. Du weißt wohl gar nicht, was ich für ein unwissender Mensch bin. Ich schäme mich oft vor … ja, ich schäme mich manchmal.“

„Gut, ich habe ‚Kugler‘ und ‚Schnaase‘, wir wollen sie gleich suchen.“

Sie standen beide vor den Regalen der Bücherwand und suchten vergebens nach den Werken. Auch das Fehlen anderer Bücher fiel Alfred dabei auf.

„Es steht noch von Baden-Baden her eine kleine Kiste – dem Gewicht nach mit Büchern – uneröffnet in der Kammer,“ sagte Germaine.

Die Kammer war ein gänzlich lichtloses Kabinett, das man einer Korridornische abgewonnen hatte. Germaine ging mit einem Licht und einem Brecheisen dahin. Aber es gelang ihr nicht, die von Fritz derzeit gut besorgte Vernagelung zu sprengen.

„Es ist gut, daß Du kommst,“ sagte sie zu Alfred, der ihr folgte, um die Bücher zu tragen, „meine Hände sind doch zu schwach.“

Das Licht stand auf einer umgestülpten leeren Kiste; rings an den weißgetünchten Wänden hing allerlei Kleidung, die außer Gebrauch gesetzt war. Reisekoffer thürmten sich in einer Ecke, leere Bilderrahmen und alte Bilder lehnten an der Wand. Bündel zusammengeschnürter illustrirter Journale lagen in einem staubigen Haufen auf dem rauhen Estrich. Es roch nach Staub, Leder und Holz.

„Das ist ja Fritzens Livree,“ sagte Germaine, als Alfred den Deckel gesprengt hatte. Sie nahm die Kleidungsstücke mit spitzen, vorsichtigen Fingern heraus wie etwas, das man mit leisem Widerwillen anfaßt.

„Die Sachen kann man hier gleich mit anhängen,“ meinte sie und trug die Röcke zu den Kleiderhaken an der Wand.

„Ordentlich eingepackt hat er, das muß man dem fatalen Menschen lassen.“ sagte sie, sich abermals zur Kiste beugend, auf deren Ecke Alfred saß, „sieh da – aus der Westentasche guckt ein Papier!“

Sie zog es heraus. Ihren Lippen entrang sich ein Laut – wie wenn ein Schrei noch mit Mühe zurückgehalten wird.

„Was hast Du?“ fragte Alfred, seinen suchenden Blick von den Bucheinbänden zu ihr erhebend, die zitternd dastand, die Hand zusammengekrampft, die Augen bang auf ihn geheftet.

Es war vielleicht nur der düstere, unwirthliche Raum, den das Licht der Kerze nur nothdürftig und unfreundlich erhellte, welcher Germainens Gesicht so seltsam bleich erscheinen ließ.

„Was hast Du?“ fragte er noch einmal.

Da lösten sich ihre Finger und ein Papier fiel heraus, ein geschlossenes Briefcouvert, das von dem Druck der Hand zerknüllt war.

Er bückte sich danach. Er las die Aufschrift und seine Hand sank lahm auf seine Kniee nieder.

Man hörte keinen Athemzug. Wie zwei leblose Wesen verharrten sie.

Draußen auf dem Korridor gingen Hausbewohner vorbei; man hörte sie sprechen. Sie mochten irgendwo eine Thür öffnen und schließen, wodurch ein Windstoß über den Korridor ging, denn die Kammerthür knarrte, öffnete sich mehr und fiel dann krachend zu. Nun waren die beiden wie eingekerkert in dem düstern Loch.

Von dem Krach schrak Alfred zusammen. Er sah Germaine an. Der angstvolle Schmerz in seinem Blick ergriff sie unsagbar.

„Lies doch!“ sagte sie leise.

Seine bebenden Finger erbrachen das Couvert. Vor seinen Augen flirrte es. Hilfesuchend sah er wieder Germaine an. Sie trat zu ihm, hockte neben ihm nieder und las flüsternd von dem in seiner Hand zitternden Blatt ab:

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verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1889, Seite 431. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_431.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)