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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

andern das höchste Glück verheißen, und um dieser himmlischen Verheißung willen ist etwas in uns, das uns zwingt, immer wieder zu versuchen, ob wir uns nicht lieben können.“

Er stand auf.

„Geh zu meiner Schwester,“ sagte er abgewandt.

Marbod sah, wie tief erschüttert der Freund war.

„Es giebt auch noch so etwas wie Selbstüberwindung,“ versuchte er tröstend zu sagen, „zu der ein denkender und erkennender Mensch sich um der Liebe willen zwingen kann. Reise zu ihr und versuche es noch einmal!“

„Umsonst,“ flüsterte Alfred, „sie wird mir auch meine schnelle Heirath nicht vergeben können.“

Und dann, sich gewaltig bezwingend, sprach er heiter:

„Du zeigst keine Eile, Germaine zu verkünden, daß ich Euch meinen brüderlichen Segen gegeben habe.“

Germaine, die vielleicht den Verlauf der Unterredung geahnt hatte und nicht länger imstande war, die Erwartung zu ertragen, erschien auf der Schwelle. Ihr Antlitz glühte, ihre Augen leuchteten.

„Marbod,“ fragte sie laut, „denken Sie noch, daß ich unrecht thue, Sie so anzusehen, wie meine Seele fühlt?“

„Germaine!“ rief er zu ihr eilend, „so haben Sie mich durchschaut?“

„Ganz und gar,“ sagte sie mit glücklichem Lächeln.

„Und so wissen Sie auch, wie grenzenlos ich Sie liebe!“ rief er und zog sie an sein Herz.

Alfred konnte den Anblick ihres Glückes nicht ertragen, er trat an das Fenster, preßte die Stirn gegen die Scheiben und sah auf die vorbeitreibenden Menschen hinab, die da mit gleichgültigen Gesichtern über die Straße gingen und ihre Noth, ihr Glück, ihren Jammer oder ihre Leere unter ihrer Alltagserscheinung verbargen.

Der unglückliche Mann sah ihnen zu und dachte, daß diese Gleichgültigkeit auf den Menschengesichtern nur wie eine Palimpsestschrift sei, die, fortgewischt, darunter die wahren Schriftzüge der Lebensschicksale erkennen lasse.

Und weiter dachte er, mit wie viel Schriften die Zeit und das Leben auch die Seite bedecken möchten, auf der die Tragödie seiner Liebe gestanden hatte, daß hier, immer wieder lesbar, ihm der eine Name hervorleuchten müßte, der ihm Leben und Tod bedeutete. Gerda!




14.

Das ganze Leben in der Weltstadt hatte gedämpfte Töne angenommen. Der Himmel selbst hatte einen Schalldämpfer auf die lautklirrenden Saiten des Rieseninstrumentes gesetzt. Seit Tagen lagen Schneemassen in kaum zu überwältigender Menge in den Straßen. Weihnachten stand vor der Thür, und trotz der bösen Zustände auf den Gassen hatte der Verkehr eine beängstigende Lebendigkeit angenommen.

Vom Fahrdamm waren die Schneemassen möglichst hinweggeräumt und lagen als Wälle an den Grenzen der Bürgersteige. Da und dort hatte man in diese weißgrauen, langgestreckten Haufen Bresche gemacht und die Fußgänger schlüpften durch die sich schnell verbreiternden Lücken herüber und hinüber. An den Pferdebahnzeilen entlang waren emsig Männer mit Spitzschaufeln beschäftigt. Dumpf und zurückgehalten klang das Rollen der Räder und der schnelle Tritt der Rosseshufe. Schriller aber als sonst klang die Warnungspfeife der Pferdebahnkutscher.

Die tausendfältigen Wärmeströme, die in den Straßen einer großen Stadt tagsüber zusammenfließen, bewirkten zwar kein Thauen des Schnees, aber doch ein feucht aufsteigendes Verdunsten. Bläulich und unrein schien die Luft und verdichtete sich in der fernen Perspektive der Straßenzeilen zu grauem Nebel, durch den die Lichter, die man eben entzündete, wie glanzlose rothgelbe und weißbläuliche Punkte blinkten.

Aus den Fenstern des Café Bauer brach schon lange ein heller Lichtstrom, als es draußen noch Tag war. Oben in den warmen und gemächlichen Leseräumen hatte Doktor Moritz Bendel eine Stunde lang gesessen und bezahlte eben seinen Kaffee, als die Gräfin Mollin mit der Mara und dem kleinen Prasch erschien. Die dunkeläugige Sängerin, die jüngst als Carmen große Erfolge errungen hatte, war für Doktor Bendel nicht ganz gleichgültig. Eingeweihte sagten sogar, er wolle sie heirathen, finde jedoch in ihrem Herzen noch allzu lebhaft die Erinnerung an den „Traum Haumond“, wie die Mollin jene flüchtige Beziehung nannte.

Die Gräfin war sehr heiter. Ihr Schützling hatte sein Hölderlin-Buch herausgegeben und von einem berühmten Goetheforscher, dem er es zugesandt, einen lobenden Brief bekommen. Die Begegnung mit Bendel war ihr deshalb sehr gelegen, sie konnten dem erfahrenen Journalisten den Brief gleich zu lesen geben, denn Prasch hatte ihn immer bei sich. Mit der ihr eigenen Lebhaftigkeit trug sie die Sache vor.

Bendel wechselte indeß mit der Sängerin einen Händedruck, hörte achtungsvoll zu und fragte endlich, als die Gräfin Prasch den Brief aus der Hand gerissen und ihm sogleich vorgelesen hatte, mit seiner sanftklingenden Ironie:

„Sie theilen mir den Brief mit, weil Sie auf eine Indiskretion meinerseits hoffen?“

„Das nicht gerade,“ sagte der naive Prasch, „aber ich möchte wohl hören, ob ich diesen Brief drucken lassen kann.“

„Wie Ihr Taktgefühl es Ihnen gebietet,“ meinte Bendel, der nie einen Rath ertheilte.

Die Gräfin holte sich fünf Blätter vom Zeitungsständer und kam mit dem zusammengerollten Lesestoff wieder an den Tisch.

„Sie entschuldigen! Aber ich suche eine Notiz.“

Herr von Prasch bestellte für sie und sich Thee, Fräulein Mara befahl ein Glas Melange, und man setzte sich nun erst. Die ganze Briefgeschichte hatte die Mollin stehend vorgetragen.

„Ich möchte wohl mein Buch Steinweber schicken. Er ist Ihr näherer Bekannter, nicht wahr? Wissen Sie seine Adresse?“ fragte Prasch.

Bendel nannte Marbods Wohnung.

„Man sieht weder ihn noch Haumond irgendwo,“ sprach der kleine Prasch mit seiner hellen, langsamen Stimme weiter; „irgend jemand hat mir eine ungeheuerliche Geschichte erzählt; man sagt, Haumond werde geschieden von der Frau, die er Anfangs Oktober geheirathet hat, und Steinweber stehe dieser Scheidung sehr nahe. Trotzdem wohne das gewesene Ehepaar unter einem Dache weiter und Steinweber sei täglicher Gast. Sie werden uns das Allergenaueste von der Sache mittheilen können.“

Bendel errieth ganz genau, daß die Sängerin unterwegs Prasch gebeten hatte, die Rede auf diese Geschichte zu bringen. Er sah daher nicht Prasch an, sondern begegnete fest dem dunklen Auge der Mara, als er antwortete:

„Das Allergenaueste kann ich Ihnen freilich sagen, nämlich dies: daß Germaine von Haumond eine edle und tadellose Weiblichkeit besitzt. Warum sie sich schon scheiden lassen, ist ja durchaus eine Frage, die nur die Betheiligten interessirt. Meine Privatmeinung geht dahin, daß Haumond sich so eilig verheirathet hat, um die schöne Baronin zu vergessen, daß es ihm aber durchaus nicht gelungen ist, und daß vielleicht seine große Leidenschaft für diese Frau ihm den Wunsch eingegeben hat, seine Freiheit wieder zu erlangen.“

Dabei sagte sein Blick nach der Sängerin: „Für Dich ist er in keinem Fall wiederzugewinnen.“

„Was für merkwürdige Verhältnisse! Liebe Freundin, glauben Sie, daß Gerda ihn wieder annimmt?“

Die Gräfin fuhr aus ihrer Lektüre auf und sah durch ihren Kneifer abwesend auf den Fragenden und dann sogleich wieder hinein in die Zeitung.

„Warum nicht? Liebe verzeiht viel,“ sagte die Mara.

„Ja, das thut sie,“ stimmte Bendel ihr bedeutungsvoll zu. „Aber auch dies ‚viel‘ hat eine Grenze, an welcher ein Charakter innehält.“

Er erhob sich.

„Sie gehen?“ fragte Prasch ängstlich. Er hatte ja noch keine Gewißheit, ob Bendel für oder gegen die Veröffentlichung des Briefes von dem berühmten Manne war.

„Ich muß. Eine Einladung ruft mich schon früh zum Assessor Ravenswann.“

„Dort verkehren Sie?“ fragte Prasch mit seinem knabenhaften Erstaunen.

„Steinweber hat mich auf Ravenswanns Wunsch eingeführt, schon Anfangs November. Aber allen Einladungen konnte ich nicht folgen, ich war immer schon ‚besetzt‘, bis wir nun von langer Hand vorher den heutigen Abend feststellten,“ erzählte Bendel, indem er sich den Pelz umnahm, die Hilfe des Kellners ablehnend. In

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 450. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_450.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)