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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Silberfranken in die Hand und bat ihn, mir dieses Coupé zu öffnen. Er zögerte ein paar Augenblicke, murmelte etwas von ‚reservirt‘, sah dann nach der Uhr der Abfahrtshalle, und da der große Zeiger dicht vor der Vier stand, so öffnete er mir kurz entschlossen, trotz einer Art Widerstandes von innen, die Coupéthür. Ich sprang hinein, der Schaffner schlug die Thür zu, – und – ich befand mich gegenüber dem Kerl mit dem gelben Koffer! Unvermeidlich, dieser Mensch! dachte ich.

Jener hatte offenbar darauf gerechnet, das Coupé für sich allein zu behalten. Wüthend öffnete er das Fenster, steckte den Kopf hinaus, daß die Spitzen der dichten langen Bartkoteletten im Winde flatterten, und herrschte den Schaffner an:

‚Habe ich Ihnen darum fünf Franken gegeben, daß Sie mir mein Coupé ganz voll stopfen? Habe ich Ihnen nicht gesagt, ich wollte allein bleiben?!‘ –

Dies war mir doch zu stark, und ich sagte höflich zu ihm: ‚Auf der Eisenbahn, mein Herr, hat jedermann die gleichen Rechte!‘

Aber er schien mich gar nicht zu hören, da er noch immer den Kopf zum Fenster hinausbog und sich mit dem Beamten zankte, der in dem sicheren Gefühl des baldigen Zugabganges nur spöttisch verschmitzt mit den Schultern zuckte.

Da, im letzten Augenblick, der große Zeiger berührte fast schon den dicken schwarzen Punkt der Vier, prallte der Backenbärtige zurück und wurde ganz still. Unsere Coupéthür wurde plötzlich aufgerissen, – ein Herr in Civil, augenscheinlich ein Beamter der geheimen Polizei, war auf das Trittbrett gestiegen, beugte sich in unser Coupé, fixirte uns wenige Sekunden mit durchbohrendem Blick und fragte dann kurz, gebieterisch:

‚Wohin reisen die Herren?‘

Mein Reisegefährte, der beim Aufreißen der Thür zusammengefahren war, hatte sich inzwischen wieder gefaßt und antwortete barsch: ‚Wie können Sie es wagen, in dieser Weise die Thür aufzureißen und solche unverschämte Frage zu stellen? Wer sind Sie?‘

Der Beamte wollte auffahren und im selben Tone erwidern. Doch, war es die Wirkung der Grobheit meines Reisegefährten, war es die Ueberzeugung, daß er unrecht hatte, – genug, er berührte leicht seinen Hut, sagte: ‚Pardon, es ist gut,‘ und stieg zum Perron hinunter. Ich hörte ihn dann noch das benachbarte Coupé öffnen, in welchem sich eine Herde Engländerinnen befand, und die Thür gleich wieder schließen. – Inzwischen war die Abfahrtsminute vorüber, eine Glocke ertönte, ein kurzer Pfiff von der Maschine, und der Zug fuhr hinaus in die beginnende Nacht.

Mein Mitreisender that einen tiefen Athemzug. ‚Was sagen Sie zu dieser unglaublichen Unverschämtheit?‘ wandte er sich an mich, ganz höflich, beinah zuthulich geworden.

‚Wahrscheinlich ein Polizeikommissar, der nach dem Raubmörder sucht,‘ erwiderte ich ruhig.

‚So, so, ja das ist wohl möglich. Etwas höflicher hätte er trotzdem sein können. – Um was für einen Raubmörder handelt es sich denn?‘

Ich zog die Nummer des ‚Soir‘ aus der Ueberziehertasche und hielt ihm die vierte Seite hinüber. Er dankte und las sie aufmerksam. Dabei studierte ich sein Gesicht. Scheinbar unbewegliche Züge, nicht einmal so viel Interesse darin, wie doch dieser außerordentliche Fall es bei jedem erwecken mußte, der zum ersten Mal davon hörte. Nur in seinen wasserblauen Augen unter den leicht ergrauten buschigen Brauen zuckte es wie Wetterleuchten.

Die Gasflamme an der Decke brannte trübe, flackerig. Der Bärtige hob das Blatt näher ans Auge. Aha, es interessirt ihn also doch! Wahrscheinlich das Signalement. – Wieder blickte ich auf seine beiden großen knochigen Hände und zählte, kindisch genug, die Finger an jeder. Natürlich je fünf.

Er reichte mir, abermals dankend, das Blatt zurück. ‚Ein recht erheblicher Diebstahl. Kein Wunder, daß die Polizei hinterher ist. Ueber 200 000 Franken Belohnung ist kein Pappenstiel. Aber sie hat es ja kinderleicht: sie braucht ja nur jedermanns Finger zu zählen,‘ und er lachte laut, vielleicht ein wenig zu laut und roh.

‚Ich fürchte,‘ entgegnete ich, ‚wir werden unterwegs noch oft von der Polizei belästigt werden.‘

‚Meinen Sie? Es ist doch recht ungemüthlich, in einer Zeit zu reisen, in der jeder Reisende im Verdacht steht, ein Raubmörder zu sein. – Wäre es nicht das Bequemste, man untersuchte den ganzen Zug ein für allemal und heftete dann an jede Coupéthür draußen einen Zettel: ‚Hierin befindet sich der Raubmörder nicht‘ –? Und wieder lachte er seine laute Lache.

Dann fragte er geschmeidig: ‚Darf ich wissen, bis wohin ich das Vergnügen Ihrer Gesellschaft haben werde?‘

‚Ich reise nach Köln.‘

‚Ei, wie sich das trifft! Auch ich habe mein Billet zunächst bis nach Köln genommen. Will die 11 000 Jungfrauen sehen‘ – wieder das ekle Lachen –, ‚dann reise ich nach Berlin. In Köln wird man uns wohl auch polizeilich empfangen und ausforschen?‘

‚Das ist leicht möglich,‘ versetzte ich und wollte hinzufügen: ‚Vielleicht erwartet uns dort gar mein Bruder, der Polizeihauptmann ist,‘ – aber ich besann mich: wozu jenen wissen lassen, daß Du zur Polizei gehörst? Er hätte mich am Ende selbst für einen verkappten Polizisten gehalten, und die lange Reise mit ihm wäre dadurch gewiß nicht angenehmer geworden. Ich mußte nun einmal wohl oder übel die elf Stunden mit ihm zurechtkommen.

Jeder von uns beiden hatte eine der dreisitzigen Coupéseiten für sich belegt und die Armstützen in die Höhe geklappt. So sicher ich war, daß ich nicht schlafen würde, richtete ich mir’s doch zum Schlafen ein. Das Wetter war frühlingsfeucht und milde; dazu verbreiteten die beiden langen, mit heißem Wasser gefüllten Blechheizkästen am Fußboden eine sehr behagliche Wärme. Aus meiner getigerten Reisedecke machte ich mir ein molliges Kopfkissen, streckte mich der Länge nach auf den Sitz, mit dem Gesicht in der Zugrichtung, meinem Reisegefährten zugekehrt, schloß die Augen und versuchte zu schlafen.

Mit rasender Geschwindigkeit glitt der Expreßzug über die Schienen. Leider befand sich unser Coupé, als das letzte des Wagens, gerade über dem einen Räderpaar. So spürte ich jede Erschütterung bis ins Mark. Die eintönige Musik der Räder setzte ein und hörte nicht mehr auf, bald leiser, wenn wir übers offene Land hinsausten; bald stärker, wenn ein Einschnitt, eine Station oder ein Tunnel passiert wurde. Immer im gleichen Takt, unaufhörlich, bis zur verzweifelten Ermüdung des Gehirns, und dennoch kein Schlaf! –

Auch der Bärtige drüben konnte oder mochte nicht schlafen. Er hatte sich gar nicht niedergelegt. Ich hatte, bevor ich mich auf den Sitz gestreckt, die eine Hälfte des blauen Lampenblendschirms vor die Gasglocke gezogen, um meinen schlafbedürftigen Augen wenigstens äußerliche Erholung zu gönnen. Das ermöglichte mir zugleich, den andern unbemerkt von Zeit zu Zeit durch meine halbgeöffneten Augenwimpern zu beobachten. Er dachte wohl, ich schliefe; jedenfalls kümmerte er sich nicht um mich. Ueber ihm im Hängenetz lag sein eleganter gelber Koffer mit Nickelbeschlägen, hell von der Gasflamme beschienen. Ganz neu, wie eben gekauft. Es war ein sogenannter Blasebalgkoffer, doch war er so vollgestopft, daß kaum eine Falte an den Seiten sich zeigte. Ich bemerkte das alles durch die hin und wider sich ein wenig öffnenden Wimpern. Was ich nur damit wollte?! Nie zuvor hatte ich Dinge, die mich nichts angingen, so deutlich beobachtet.

Der Bärtige hatte seinen runden braunen Hut, auch einen ganz neuen, abgenommen und neben den neuen Koffer ins Netz gelegt. Dann hatte er aus seiner Ueberrocktasche eine schwarzseidene Reisemütze gezogen und aufgesetzt, allem Anscheine nach auch noch nie zuvor getragen. Dabei hatte sich ein schwarzer, innen weiß gefütterter Winterhandschuh mit dem Handgelenkende ein wenig aus der Tasche geschoben. Dieser Handschuh war das einzige an dem Menschen, was nicht nagelneu aussah.

Er blätterte eifrig hin und her in einem ganz neuen, knisternden Kursbuch. Von Zeit zu Zeit warf er über die Blätter des Buches hinweg einen verstohlenen, scheuen Blick auf mich. Unwillkürlich schloß ich dann jedesmal die Augen. Ich wußte nicht, warum, – aber mir war, als drückte man sie mir jedesmal zu.

Plötzlich steht er leise, leise auf, legt so behutsam wie etwas Zerbrechliches sein Kursbuch ins Netz, dann dreht er sich wieder mit einem lauernden Blick nach mir um. Ich rühre mich nicht und drücke die Augen zu. Nun beginnt er das rothe Plüschpolster, worauf er gesessen, vorsichtig, kaum hörbar herauszuzerren, nach jedem leisen Ruck innehaltend, lauschend, – fast so weit heraus, wie es überhaupt möglich war, ohne daß er mich dabei berührte. – Wie seltsam! Ich lag doch ganz behaglich da, empfand gar kein Bedürfniß nach einem breiteren Lager. Aber freilich, der andere war viel breiter gebaut als ich. – Hätten ihm da nicht ein paar Zoll weiter heraus genügen können?

Nun war er mit seinem mühseligen Geschäft fertig und wieder

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 462. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_462.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)