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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

eine alte Dame als Gesellschafterin für sie gefunden – aber, nicht wahr, Sie gestatten, daß ich mich setze? – mit dieser wird sie wohnen.“

Marie fiel fast in einen Stuhl, Alfred gegenüber, der sich lächelnd gesetzt.

„So ist es alles, alles gar nicht wahr?“ rief sie mit bebenden Lippen.

„Was?“

„Daß Sie sich scheiden lassen, daß S-teinweber Germaine heirathet,“ brach sie aus.

Alfred sah sie an. Er schien zu überlegen, ob er ernst oder spielend mit ihr sprechen solle und wie er am klügsten handle.

„Gewiß,“ gab er freundlich zu, „gewiß ist es wahr. Sie behalten Germaine, die sich zur Zeit natürlich zurückzieht und sich selbst das Vergnügen versagt, Sie zu sehen, hier in Berlin. Ich denke, daß im Frühling ihre Vermählung mit Marbod erfolgen soll, nachdem gestern schon die Scheidung perfekt wurde.“

„Gestern schon?“

„Es lagen eben besondere Verhältnisse vor. Unsere Ehe war nur Schein.“

„Mein Gott, davon s-prechen Sie so ruhig?“

„Warum nicht? Ich liebe Germaine, als wenn sie meine Schwester wäre, und wünsche ihr ein volles Glück mit Marbod.“

Marie faltete die Hände im Schoß, sie war geschlagen, verständnißlos, unfähig, mit einer zwingenden Frage der Sache auf den Grund zu kommen.

„Das vers-tehe, wer kann! Sind Sie denn gar nicht unglücklich?“

Da verstand er, daß sie ihn von Herzen gern bemitleidet und getröstet hätte. In seinen Augen blitzte etwas auf – ein kleiner, ganz kleiner Teufel.

„Unglücklich! Ach, meine Freundin, ich glaubte oft, daß Sie in meiner Seele läsen. Sie wissen, ich stürzte mich in die Ehe mit Germaine, ohne sie zu lieben. War es nicht meine Pflicht, Germaine die Freiheit wieder zu geben, damit sie fände, was ich ihr nie werden konnte: einen Gatten? Glauben Sie mir, Sie stehen hier schuldlosen, aber unglücklichen Menschen gegenüber. Germaine ist rein wie Sonnenlicht, ebenso Marbod.“

„Das will ich für meine Person so auch gern glauben,“ sagte Marie seufzend, „aber man kann es doch nicht alle Menschen glauben machen, die nun einmal schlecht von den beiden denken. Ach, es kommt wirklich nicht auf die Schuldlosigkeit an, sondern auf das, was die Leute s-prechen. Ich bin es wenigstens meinem Ruf und meiner S-tellung schuldig, nicht mehr mit einer Frau zu verkehren, die so ins Gerede gekommen ist.“

Der kleine Teufel in Alfreds Augen begann etwas kühner zu blicken.

„Und ich?“ fragte er mit einem Seufzer, indem er sich vorbeugte und ihre Hand ergriff, die sie ihm zitternd ließ, „wollen Sie auch mich verdammen, weil mein Herz das Glück nicht finden kann, nach dem es lechzt? O Marie, theure Freundin!“

„Sie – nein, Sie verdamme ich nicht,“ stammelte sie; „Sie hätten so glücklich sein können – Sie haben ein so gutes Herz.“

„Marie, ich kann und darf Sie nicht in mein Inneres blicken lassen. Aber Sie – lassen Sie mich nicht mit dem Gedanken scheiden, daß Sie mich falsch beurtheilen. Sagen Sie mir durch einen Händedruck, daß Sie mir ein gütiges Andenken bewahren werden, auch wenn ich nie mehr zurückkehre.“

„Nie – nie?“ rief Marie. Schluchzend drückte sie seine Hand. Alles, was er sagte, kam ihr so wunderschön und so todtraurig vor. Ja, er hatte doch ein edles und gefühlvolles Herz und unter ihrem Einfluß hätte noch ein ganz guter, solider Mensch aus ihm werden können. Fühlte er das selbst? Wollte er das nur Ludolfs wegen nicht gestehen? Wie sagte er doch? „Ich kann und darf Sie nicht in mein Inneres blicken lassen.“ Sie weinte immerfort.

„Aber so fassen Sie sich doch!“

„Es ist so furchtbar,“ schluchzte sie, „daß gerade Sie immer Frauen finden, die Sie nicht vers-tehen, oder nicht vers-tehen dürfen.“

Er stand vor ihr und sah lange mit eigenthümlichem Blick auf die weinende Freundin nieder. Ob Marie diese Thränen einer andern Frau verziehen hätte? Schwerlich. Ob sie sich genau bewußt war, weshalb sie ihr flossen? Ob ihre Seele dunkel danach schmachtete, die unbestimmte Beunruhigung, die durch ihre Nerven ging, von ihm sich klar machen zu lassen?

„Ich danke Ihnen für Ihre Theilnahme,“ sagte er endlich in ganz freundlich höflicher Weise, „und Sie werden Ludolf und Schneiders Grüße von mir bringen. Sobald ich mich angekauft habe, werde ich mir erlauben, es Ludolf mitzutheilen. Vielleicht kann ich ihn und Sie dann schon im kommenden Sommer bei mir als Gäste begrüßen. Und so leben Sie wohl!“

Sie stand wankend auf. Ihre ihn überragende Gestalt mußte Halt suchen. Sie faßte nach der Stuhllehne. Ihre Hand fühlte seinen kurzen kräftigen Händedruck.

Es wurde ihr ganz dunkel vor Augen. Wollte er gehen? So gehen? Ihr war, als müsse sich noch irgend etwas ereignen – noch irgend etwas Außerordentliches, Unerhörtes. Ihr Herz schlug. Ihre Lippen wurden trocken.

Wie durch einen Schleier sah sie, daß er ging, wirklich ging, nachdem er sich noch einmal an der Thür verneigt hatte. Die Thür fiel zu. Auf dem Korridor verhallte sein Schritt.

Sie warf sich in den Stuhl, auf dem er gesessen, und legte das Haupt an die Lehne, die seine Schulter berührt hatte.

Und sie weinte, laut und heftig und lange.




15.

„Würde mein Kind mir gesunden, wenn ich es nach dem Süden führte?“ hatte Gerda den berühmten Arzt in Heidelberg gefragt.

„Ich glaube, daß eine Reise, und wenn Sie dieselbe mit dem größten Luxus ins Werk zu setzen vermöchten, Ihrem kleinen Sohn nur schaden dürfte,“ antwortete ihr der ernste milde Mann. „Die ungewöhnliche geistige Regsamkeit des Kindes ist die Todfeindin seiner Gesundheit. In immer derselben, möglichst ruhig heiteren Umgebung, in der Stille Ihres Heims kann er sich vielleicht erholen, auf einer Reise nach Kairo oder Madeira niemals. Vielleicht wären die Anlagen, die der Kleine offenbar von seinem Vater ererbt hat, nie zur verderblichen Entwickelung gekommen, wenn er vom ersten Jahr seines Lebens an in geeigneten Klimaten gewohnt hätte. Aber auch das ist schwer zu sagen. Wo die Tuberkel als konstitutionelle Eigenschaft einer Familie sich forterbt, sind unsere Rathschläge und Vorbeugungsmittel meist nur eine Beruhigung für unser eigenes Gewissen. Wir erleben da die wunderbarsten Fälle. Robuste, volle, kräftige junge Menschen sehen wir in solchen Familien oft in jähem Verfall sterben. Zarte, kränkelnde Menschenpflänzchen mit angegriffenen Lungen sehen wir zäh Widerstand leisten, erstarken und endlich den innern Feind besiegen. So kann Ihr kleiner Liebling vielleicht als erwachsener, verhältnißmäßig gesunder Mann Ihnen einst für die Sorgen danken, die Sie jetzt seinetwegen tragen.“

Und mit diesem Bescheide hatte die einsame Frau ihr geliebtes Kind wieder heimgeführt in das Haus auf den Waldbergen.

Was mit Erfindungsgabe, Geld und Fürsorge zu beschaffen war, geschah, um das Berghaus gegen die Rauhheiten des Winters zu schützen. Gerda ließ Heizungen und Ventilationen herrichten, ein Glashaus anbauen, wo das Kind unter immer grünen Bäumen spielen konnte, und mußte alle ihre Vorkehrungen täglich neu gegen das Tantchen vertheidigen.

Das alte Fräulein fand sich und ihre „Krankheit“ in der empörendsten Weise zurückgesetzt gegen den verzogenen Jungen, dessen bißchen Kränkeln die ängstliche Mutter überschätzte. Kaum fragte man sie, wie sie geschlafen habe, wie ihr die Pulver bekommen seien; niemand kümmerte sich darum, ob mittags auch ihre Speisen genau nach der neuen diätetischen Vorschrift bereitet wurden, die sie aus einer Broschüre entnommen und der Köchin klar gemacht hatte. Wenn der Arzt kam, beschäftigte er sich zumeist mit Sascha und dessen Husten. Das alte Fräulein hustete auch, seit das Kind es that, und quälte den Doktor, der ihr jeden Tag die Lungen behorchen sollte.

Endlich gab ihr dieser den Rath, nach San Remo zu reisen, denn der verständige Mann sah ein, daß die kleine anspruchsvolle Dame mit ihrem gewohnheitsmäßigen Kranksein Gerda quälte. Von da an bis zu dem Tag ihrer Abreise benahm das Tantchen sich wie jemand, der im Begriff ist, an der Schwindsucht zu sterben. Sie schrieb an alle ihre Bekannten, daß der Doktor sie wegen ihrer angegriffenen Lungen nach San Remo schicke. Sie ließ sich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 470. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_470.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)