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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Welche prächtigen Naturschilderungen in den Stimmungsbildern aus den Jahres- und Tageszeiten! Welch herrliche Farbengebung und kühne Anschauung!

An dem Faden der stimmungsvollen Landschaftsmalerei reihen sich einige der schmucksten dichterischen Perlen auf, wie „Erster Schnee“, „Abendregen“, „Wetternacht“, ein Gedicht, das sich oft zu hymnenartigem Schwung erhebt; das Auge des Landschafters ist in diesen Gedichten nicht zu verkennen, ebenso wenig in andern das Auge des Genremalers, mag uns ein Gemsjäger, ein Taugenichts, ein alter Bettler oder ein Schöngeist vorgeführt werden. Eine Reihe von Genrebildern enthält die „Feueridylle“, eine der besten Dichtungen Kellers, in welcher seine markige Pinselführung am meisten hervortritt. Es wird darin der Brand eines Bauernhauses geschildert: das Bild des habsüchtigen, reichen Bauersmannes, der nicht genug für sich zusammenraffen kann, zeichnet sich dabei in einer Menge einzelner Züge wie ein Vexirbild in den herunterbrennenden Wänden ab. Das Kruzifix, das ein bilderstürmender Ahn geraubt; die von einem Jüngling gerettete Bibel, während der Bauer lieber gewünscht hätte, sein Hauptbuch mit allen darin eingezeichneten Schuldnern gerettet zu sehen; der alte dürre Todtenkranz, der aus den Flammen geflüchtet wird: das sind solche in die Augen fallende Requisiten der sich vor uns entrollenden flammenhellen Schaubühne.

Eine andere Reihe von Gedichten schildert uns die Empfindungen eines lebendig Begrabenen; es ist darin viel Grauenhaftes, unheimlich Anschauliches, ein dumpfes Brüten der Gedanken, deren Gespinnste wie zerreißliche Grabesschleier aus der Tiefe emporflattern, zerreißlich auch allerdings für die kritische Erwägung, daß in solcher Lage kein Mensch Muße haben wird, so ruhig in der „Gedankenfabrik“ zu arbeiten.

Gottfried Keller ist ein echter schweizer Poet; nicht nur beweisen das zahlreiche Gedichte, besonders die „Ode ans Vaterland“:

„O mein Heimathland! O mein Vaterland!
Wie so innig, feurig lieb’ ich dich!“

und zahlreiche Lieder bei Sänger- und Kriegerfesten; das beweist nicht nur das landschaftliche Kolorit seiner Gedichte, in denen die Schweiz mit ihren hohen Alpen und blauen Seen immer den Hintergrund, oft den Mittelpunkt bildet; das beweist vor allem die Physiognomie dieser Gedichte selbst, die mit ihrer oft grandiosen Schlichtheit an die Alpennatur erinnern.

Einige Jahre nach der zweiten Sammlung der „Gedichte“ erschien Gottfried Kellers großes Hauptwerk: „Der grüne Heinrich“ (4 Bde., 1854–1855; zweite Bearbeitung 1879–1880), das einiges Aufsehen erregte und mit dem sich die hervorragende Kritik damals eingehend beschäftigte, das aber das größere Publikum nicht in gleichem Maße anzog. Es ist ein Künstlerroman, der im Inhalt etwas an die Romane der romantischen Schule und den „Wilhelm Meister“, in der Darstellungsweise, den breiten Einschiebungen und Einschachtelungen, den oft selbstgenügsamen reichen Naturschilderungen, der Vorliebe für Ausmalung der Kindheit und Jugendjahre an Jean Paul erinnert.

Der „grüne Heinrich“ ist ein Künstler, der es in seiner Laufbahn zu nichts bringt; was ihn fördern sollte, erweist sich vielfach als hemmend für ihn, und es liegt in seinem träumerischen Naturell eine Schranke für eine tüchtig zugreifende Thätigkeit. Desto reicher ist seine Gemüthswelt, und Keller leuchtet in alle ihre Tiefen hinein; da zeigt sich oft ein Farbenspiel von wunderbarem Glanze und großer Mannigfaltigkeit. Die Handlung des Romans selbst ist dürftig und bei einer kurzen Erzählung derselben würde man es unbegreiflich finden, wie der Dichter damit vier Bände füllen konnte. Ungefähr die Hälfte nehmen die eigenen Aufzeichnungen des „grünen Heinrich“ über seine Kindheit und Jugend ein; hier finden wir viel Frisches, jedenfalls Selbsterlebtes; doch wie wenigen ist solche Rückschau in die Geheimnisse der Kinderseele gegönnt! Das Bild des Vaters, vor allem das der Mutter, eine tüchtige poesievolle Zeichnung, tritt lebendig vor uns hin, ebenso die Gespielen und das ganze Treiben der Kinderwelt. In vorgerückteren Jahren berührt die Liebe in Doppelgestalt das Herz des jungen Helden: die zarte Anna, welche die sanftesten Accorde seines Seelenlebens anschlägt, die üppige Judith, welche ihn mit sinnlichem Zauber berauscht, sind in anmuthenden Kontrast gestellt. Schweizer Volkssitten, besonders die Tellaufführung durch das Volk selbst und mit dem Hintergrunde der freien schweizer Natur heben das Genrebild zu nationaler Bedeutung. Ein unausgegohrener Charakter, eine verfehlte Existenz, ein früher Tod aus innerstem Herzeleid – um diesen gleichsam „immergrünen Heinrich“ interessant zu machen, bedurfte es einer genialen Darstellungskraft.

An künstlerischem Maß, an knapper gedrungener Form sind dem großen Roman Gottfried Kellers weit überlegen seine Erzählungen: „Die Leute von Seldwyla“ später (1856, später 4 Bde. 1874), jedenfalls das Vollendetste, was seine Muse geschaffen hat. Paul Heyse spricht von den „unsterblichen Seldwylern“ und nennt Keller den Shakespeare der Novelle. Vielleicht mag zu diesem Lobe die Perle der Sammlung, die Erzählung „Romeo und Julie auf dem Dorfe“, Anlaß gegeben haben, die Geschichte einer innigen Liebe zwischen den Kindern zweier Bauern, die von erbitterter Feindschaft beseelt und dadurch zuletzt verkommen und zu Grunde gegangen sind. Der letzte Festtag dieser Liebe mit seinem wehmüthigen Glücksschimmer und der Tod der Liebenden, die sich von dem losgeankerten Heuschiff in die Fluthen stürzen, ist mit einem wahrhaft magischen Farbenzauber geschildert. Vergleicht man damit die etwas derb zugreifenden Dorfgeschichten eines Jeremias Gotthelf, so lernt man erst recht die dichterische Weihe des größern schweizer Poeten schätzen. Im übrigen werden uns von den lustigen Leuten von Seldwyla mancherlei anziehende und ergötzliche Exemplare vorgeführt. Zu der vermehrten Sammlung der letzten Auflage verdient am meisten die Novelle „Dietegen“ hervorgehoben zu werden, in welcher die tragischen Schlagschatten am tiefsten und schwersten fallen, lieblich Inniges und grauenhaft Schreckliches miteinander wechselt.

Wenn auch in den „Züricher Novellen“ (2 Bde. 1878) die Darstellungsweise Kellers nicht die gleiche helle, bezaubernde Farbe erreicht wie in den „Leuten von Seldwyla“, wenn das Alltägliche bisweilen auch in trockenerem Ton geschildert ist, so sind doch auch hier die Vorzüge seines markigen Talentes unverkennbar. Diese Novellen wurzeln im Boden der Stadt Zürich und haben zum Theil einen historischen Hintergrund wie die des schweizer Dichters K. F. Meyer. Ein eigenartiges Charaktergemälde ist die neueste Erzählung Kellers „Martin Salander“ (1886). Man hat derselben ihre Alltäglichkeit und überwiegende Spießbürgerlichkeit vorgeworfen. Freilich fehlt dem Hauptcharakter und den Kaufmannskreisen, in denen sich die Handlung bewegt, aller romantische Reiz, doch groß ist in dem Werke die Kunst der Gestaltung, der Beleuchtung, der feinen Detailmalerei und der stimmungsvollen Wirkung durch einfache Mittel. Noch erwähnen wir den Novellenkranz „Das Sinngedicht“ (1882), der viel Originelles und Tiefsinniges enthält, und die „Sieben Legenden“ eine Uebertragung kirchlicher Ueberlieferungen ins Weltliche, nur selten mit leichter spöttischer Beimischung, meistens ohne Gefährdung ihres echt menschlichen Kerns.

Von den Dichtern der deutschen Schweiz ist der mannhafte, tiefempfindende, eigenartige Gottfried Keller derjenige, der vor allen berufen ist, auf unserem modernen Parnaß an der Seite der Begabtesten zu sitzen; darum Ehre dem wackeren Dichter an seinem Gedenktage!

Rudolf v. Gottschall.




Die Wacht an der See im Frühling 1889.

Ein Ueberblick von Gerhard Walter. Mit Illustrationen von Hans Hampke.
(Schluß.)


Zwei Jahre zurück! Zwischen den Korallenriffen der Solomonsinseln oder vor den Admiralitätsinseln auf der australischen Station fährt vorsichtig ein schlankes Schiff; die deutsche Kriegsflagge weht von der Gaffel und hebt sich licht ab von dem Dunkelgrün der Strandwaldungen, aus denen schwerer Duft mit der linden Brise herüberweht; dort an Land steigt Rauch auf aus dem Dorf unter den Palmen und Mangobäumen mit seinen palmblattgedeckten Hütten; im Gebüsch verborgen lauern ängstlich dunkle Gestalten. Auf dem Kreuzer – es mag hier der „Adler“ sein oder dort der „Eber“ – steigt plötzlich eine weiße Rauchwolke auf; nun ein dumpfer Knall, ein heulendes Zischen – die Granate schlägt ein zwischen den Hütten – ein Krachen und Feuersprühen aus weißem Pulverdampf – und wieder und immer wieder; im Wald ist’s wie ausgestorben; das Dorf geht in Flammen auf: das Todtenmal für einen weißen Mann, den die dunkelbraunen Gesellen erschlagen und dessen Gut sie geraubt haben. Hinter dem Heck des Kreuzers hervor schießen vor behendem, gleichmäßigem Ruderschlag die Boote mit der Landungskompagnie, im Bug der Barkasse das blinkende Landungsgeschütz: Deutschland schützt – oder rächt das Blut seiner Söhne; und die scheue Kunde davon fliegt von Insel zu Insel. – Dann kam Befehl für beide Schiffe nach den Samoainseln. Sie wußten nicht, daß der Palmenstrand von Upolu ihnen ein Kirchhof werden sollte. – Sie lagen da im Hafen von Apia. Da kam die „Olga“ noch dazu: das war das vierte Geschwader, den Deutschen dort zu Schirm und Wehr zugesandt. Die Leute von dem Geschwader fochten den Heldenkampf von Veilele – eine Handvoll gegen ein Heer, aber alles Männer; dreimal mit der blanken Waffe: „Marsch, marsch, hurrah!“ sich stürmend Luft schaffend und den Weg bahnend – – und viel deutsches Blut floß unter dem lichtgrünen Schirmdach der Pisangs und tropfte durchs dichtverschlungene Gebüsch zur Erde; und unter den Palmen am Strande der See ruhen die todten Seeleute im langen Schlaf. – –

Und dann kam der furchtbare 16. März 1889 mit seinem Orkangebrüll; und den „Eber“ hob eine Riesensee und schmetterte das ungeheure Gewicht auf das Riff; ein kurzes Schwanken – und das todwunde zerbrochene Schiff rollt mit allen, die darin leben, zurück in die rasende, tiefe See. – Und bald liegt auch der „Adler“ flügellahm und sterbend auf dem Korallenfels; der Todten und des Leids genug an einem Tage für Deutschland! –

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 475. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_475.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)