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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Und dennoch, hat die Sache nicht ein Loch? Wenn nun ein Mitreisender, ich oder ein anderer, der unterwegs einstiege, ihn daran hinderte, – einer, der nicht so gut wie ich aufs ‚Schlafen‘ sich verstünde? – Spaß! Der Revolver oder was sonst räumt jeden lästigen Zeugen schnell aus dem Wege. Aber wer sollte in diesen Expreßzug unterwegs einsteigen? Höchstens ein über Aachen hinausfahrender Reisender; denn wer würde diesen unpassenden Zug benutzen, der durch alle größeren Städte Belgiens und die Grenzstädte Deutschlands mitten in der Märznacht fuhr, während es so viele bequemer liegende Schnellzüge auf dieser Weltverkehrslinie gab? Und angenommen, es stiege jemand ein, den jener Mordbube sich nicht getraute, zu ermorden, oder gar das ganze Coupé füllte sich mit Reisenden, – hatte er nur erst seinen Raub unter den Polstern versteckt, so konnte er ihn ja im schlimmsten Falle ruhig darunter lassen, bis wir in Köln ausstiegen, und ihn dort als letzter im Wagen bleibend wieder in den Koffer packen. Wie kindisch einfach das war; aber aufs Einfachste kommt man ja stets zuletzt. Jetzt sah ich alles wie von greller Sonne beschienen vor mir. Und noch lebte ich, und – lebend wich ich nicht von diesem Platz, ehe ich nicht am Ziel, das sich mir jenseit der deutschen Grenze lockend aufthat angelangt war. Das stand fest!

‚St. Quentin!‘ – Man öffnete hier gar nicht einmal die Thüren. Mein Reisegefährte hatte sich näher ans Fenster nach dem Perron zu gesetzt. Er horchte auf ein Gespräch dicht unter der Coupéthür, vielleicht zwischen dem Stationsvorsteher und dem Zugführer. Der eine scherzte:

‚Haben Sie vielleicht den Vierfingrigen in Ihrem Zuge?‘

‚Kann schon sein,‘ erwiderte der andere lachend, ‚aber gesagt hat er’s uns bis jetzt nicht. Wollen Sie ihn vielleicht mal fragen?‘ und beide lachten.

‚Aber das Comptoir war auch ohne den Diebstahl futsch, was?‘

Ja, so sagt man! – Aber wir müssen fort. Gute Nacht! Auf Wiedersehen! Ich komme morgen mit dem Schneckenzug, mit Nr. 11, zurück.‘

‚Gute Nacht!‘

Vorwärts! – Erst wartete mein Mann wieder, bis der Zug mit voller Kraft fuhr. Dann erhob er sich wie vorhin, nur vielleicht noch ängstlicher, behutsamer. Wieder zog er seinen Sitz, den er in Tergnier zurückgestoßen hatte, heraus, weit, ganz weit. Wieder klappte er seinen Koffer auf und hob Packet auf Packet, noch fünf zu den vorhin versteckten drei, alle von gleicher Größe, heraus, stopfte sie in den leeren Raum unter den Polstern, so geräuschlos, daß nur, wer alles schon wußte, etwas hören konnte. Aber ich hörte alles, hörte es aus dem Rasseln der Räder, dem Schnauben der Maschine, dem Klappern der Fensterrahmen heraus. Um mich kümmerte er sich nicht mehr; meiner war er sicher, so oder so, schlafend oder nicht schlafend.

Das Geschäft war bald erledigt. Im Koffer blieb so gut wie nichts, nur einige Wäschestücke, Schuhe, eine Bürste. Das machte ihn bedenklich, er sah mit komischer Verlegenheit in den leeren Koffer. An der Zollgrenze konnte der erst recht auffallen. Dann kam ihm ein Gedanke, jedenfalls ein guter, denn als er sich wieder mit dem Gesicht zu mir herumdrehte, lächelte er selbstzufrieden. Doch erst schob er, jetzt mit einiger Mühe, das Polster wieder über die verborgenen Packete; dann blieb er ein Weilchen sinnend stehen, zog seinen schweren Ueberrock aus und legte ihn vorsichtig auf den Eckplatz. Er konnte aber nicht verhindern, daß derselbe, wie durch ein schweres Gewicht hinabgezogen, auf den Boden glitt, auf den einen Heizblechkasten, mit einem gedämpften aber vernehmlichen Prall, wie umwickeltes Metall. –

Hatte ich etwas gehört? – War ich erwacht? – Mit einem krampfhaften Griff hatte er den Rock wieder aufgehoben, in die Seitentasche gefaßt, einen schweren Bulldoggrevolver herausgezogen und auf den Sitz gelegt.

Nein, ich hatte nichts gehört. Ich war nicht erwacht. Ruhig wie bisher lag ich da und athmete tief und langsam ein und aus. – Wie das wohl that, noch athmen zu können!

Ich hatte ihn entwaffnet. Wenigstens steckte er den Revolver mit dem Lauf nach unten in die rechte Hosentasche, daß nur das letzte Ende des Kolbens herausschaute. Darauf zog er sich den Rock, den er unter dem Ueberzieher trug, vom Leibe, dann auch die Weste, zog seinen Ueberrock übers Hemd wieder an, knöpfte ihn bis oben zu und steckte den Revolver wieder in die Tasche. Den ausgezogenen Rock sammt der Weste packte er unordentlich je in eine Tasche des leeren Koffers und verschloß diesen wieder mit dem Schlüsselchen.

Es ist vollbracht. Er hat seinen Raub in Sicherheit, da, wo niemand ihn sucht. Jetzt mag die Grenze, mag die zweite Grenze kommen, ihn ficht das nicht an!

Auch bei ihm wie bei mir läßt jetzt die Spannung nach; er ist müde geworden und legt sich der Länge nach auf die weichen Polster und ruht wie ein Drache auf seinen Schätzen.

Lange dauert’s nicht mit seiner Ruhe. Nach knapp zehn Minuten schnellt er wieder auf, diesmal ohne ängstliche Rücksicht auf meinen Schlaf, holt sich das Kursbuch aus dem Netz herunter und studirt darin, sinnend, blätternd, rechnend. Für mich giebt’s jetzt kaum noch etwas zu beobachten. Ich könnte jetzt wirklich schlafen, das heißt, wenn ich könnte. Aber es lohnte wohl auch nicht mehr, die Grenze mußte bald da sein. Wie bald? Auch ich rechnete. Und wie ich rechnete, fielen meine zwinkernden Blicke auf einen schwarzen Fleck am Fußboden, halb unter dem Sitze des andern, da unten zwischen seinen Füßen. Was das nur war? Regte es sich nicht? Kroch es nicht hervor? Nein, nur der unruhig hin und her zuckende Fuß des andern, bald der linke, bald der rechte, schob an dem schwarzen Ding, daß es sich selbst zu rühren schien. Der Schatten des tief hinab reichenden Sitzes gegenüber verbarg mir den größten Theil des schwarzen Flecks, und ich wagte nicht, meine Augenlider weiter zu öffnen als zum feinsten Spalt. Aber das Schwarze da ließ meine Blicke nicht mehr los. Wie eine dickgeschwollene schwarze Riesenspinne lag es am Boden und streckte seine wulstigen Beine gegen mich aus. – Seine Beine? – Nein, nein, Finger waren es, schwarze Teufelskrallen, gekrümmt wie zum Angreifen, zum Festpacken. Eine dicke schwarze Faust, – nein, eine Hand, – nein, ein Handschuh! Nichts als ein Handschuh, derselbe, der vorhin aus des Menschen Ueberrocktasche gefallen war, als der Rock selbst zu Boden glitt.

Er hatte nichts Geheimnißvolles mehr für mich, der schwarze, eben noch so unheimliche Fleck, der nichts war als ein ganz gewöhnlicher Handschuh, und dennoch ließ er meine Blicke nicht mehr von sich. Meine Augen hatten sich längst an das Halbdunkel gewöhnt; ich sah selbst die dunkelbraunen Raupen auf der äußeren Handschuhfläche. Ich sah jeden Finger. – Jeden?! – Nein, nicht jeden! – Daß ich nicht mit lautem Schrei aufsprang! – Nein, ich sah nicht jeden, denn der schwarze Handschuh hatte nur vier Finger!

Ich hatte ihn! ich hatte ihn! Noch wußte ich nicht, wie alles zusammenhing; aber ich wußte bestimmt, ich hatte ihn, den vierfingrigen Mörder und Räuber!

Aber wie? Was ist’s mit diesem Handschuh? Ich schloß die Augen, um nichts mehr außen zu sehen, und suchte. Fünf Finger von Fleisch und Bein, kein Zweifel daran war möglich. Und trotzdem nur vier Finger von Leder? – – O du erzschlauer Tölpel, der du wie alle Erzschlauen nicht schlau genug gewesen bist! Eine Masche nur hast Du offen gelassen in dem Netz, und nun schlüpft die Entdeckung durch diese eine Masche hinein. Der du an den vierfingrigen Handschuh nicht mehr gedacht hast, womit du dir, zwei Finger in einen Lederfinger zwängend, ein so unübertreffliches falsches Signalement zurechtgeschneidert. Der du ihn nicht, zu Hause angekommen nach der Mordnacht, in tausend Stücke zerschnitten, ihn nicht verbrannt hast! – Hast was zugelernt, Mordgesell, he? – Wirst dich vor die Stirn schlagen und dich einen Esel schimpfen, wenn ich dich erst in Nummer Sicher gesetzt? Hättest doch besser gethan, mich kaltblütig zu erdrosseln, nur der Vollständigkeit wegen, – besser zu vorsichtig als zu nachsichtig, was? Beinahe hätte ich laut aufgelacht über die Dummheit dieses abgefeimten Satanskerls.

Wenn er nur später nicht zu dem Verdacht käme, ich könnte des Handschuhs gewahr geworden sein! Wenn er ihn nur bald vermißte, suchte, wieder einsteckte! Ich brauchte ihn ja nicht mehr, ich wußte alles. Auch der üppige schwarzgraue Backenbart machte mir jetzt keine Sorge mehr. Der war gewiß so neu wie alles andere, was der fliehende Mörder am Leibe trug.

Da lag also das Glück, der Reichthum auf Armeslänge vor mir. Fünf Prozent vom Inhalt jener acht Packete, fünf Centimes von jedem Franken, den der Millionendieb so dummschlau versteckt hatte, gehörten mir zu ehrlichem Besitz, wenn es mir gelang, lebend nur bis zur nächsten Station zu kommen. Und dann dachte ich an Dich, mein alter Junge, und an Deine kleine

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 479. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_479.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)