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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Frau, und wie Ihr mich empfangen würdet, wenn ich, der stellenlos gewordene Banksekretär, ankäme mit der Viertelmillion oder so etwas ähnlichem zur Belohnung und als der glorreiche Aufspürer des größten Diebes der Neuzeit. Das war doch ein ander Ding, als anzukommen mit einer Tausendfrankennote und kaum genug Kleingeld, um einen lustigen Tag im lustigen Köln zu verleben!

Ja, aber hatte ich ihn denn schon, den Dieb? Hatte nicht vielmehr er mich? – Da saß er ja auf Griffes Weite mir gegenüber. Wären wir nur erst auf der nächsten Station! Am besten auf der Grenzstation. Dort mußten wir alle hinaus, ich konnte mit einem Polizeibeamten sprechen, konnte ihn verhaften, seinen Raub mit Beschlag belegen lassen, konnte –

So? Konnte ich wirklich? O ja, möglich war das, aber ob auch sicher? ob auch rathsam? Im fremden Lande, ich, der Prussien, auf einer kleinen französischen Eisenbahnstation, wo kein Mensch mich kannte? Wo man sicher lieber selbst die Belohnung eingesteckt hätte? Komm du hinterher und klage und beweise, daß du es gewesen bist, der seine Ergreifung veranlaßt hat! Der Himmel ist hoch und Bismarck ist weit. Und der Kerl war bewaffnet! Den ersten, der Hand an ihn zu legen versuchte, schoß er zweifellos nieder.

So sann und sann ich darüber nach, was ich mit dem Menschen anfangen sollte. ‚Das Fell des Bären,‘ weißt Du! – Da fielst Du mir ein, Richard!“ –

„So! Also erst jetzt! Hättest schon früher darauf kommen können!“

„Sei froh, daß ich in der Lage überhaupt auf etwas Gescheites kam. Und ans nächste denkt man ja immer zuletzt.

Ich muß dich bis über die deutsche Grenze haben, dachte ich; dich sammt deinen geraubten Millionen. Bis nach Aachen. – Warum nur bis nach Aachen? – Nach Köln, natürlich nach Köln! Und dort nimmt dich der ausgezeichnetste aller Polizeihauptleute Mitteleuropas in freundlichen Empfang, wir theilen uns in die viertel oder fünftel Million Belohnung und machen im Mai, dann aber mit Evchen, eine lustige Reise nach Paris zur Ausstellung. Das richtige Fell des Bären! Ich machte schon Pläne, was ich mit den auf mich fallenden hunderttausend Franken wohl am besten anfangen würde.

Wie sollte ich Dich nur zur Stelle schaffen? Morgens um halb sechs Uhr auf den Kölner Centralbahnhof. – Durch eine Depesche, wie sonst? Ja, aber wo und wie eine Depesche schreiben und aufgeben, ohne den Mörder Lunte riechen zu lassen? Und ohne daß der annehmende Telegraphist den ganzen Braten erführe? Sah mich der Vierfingrige auf der Grenzstation zum Telegraphenamt gehen, so war ich geliefert, oder ich durfte nachher nicht in dem Coupé mit ihm bleiben. Und suchte ich mir ein anderes, so wußte er, woran er war, und verschwand auf irgend einer kleinen belgischen Station; ich fand dann in Köln das Raubnest leer. Die Depesche mußte, wenn überhaupt, dann in französisch sprechendem Lande, in Frankreich oder Belgien, aufgegeben werden. Am besten noch in Frankreich oder recht nahe der französischen Grenze. Weiter nach Osten verstanden die belgischen Telegraphisten schon eher eine deutsch abgefaßte Depesche und konnten mir durch irgend eine selbst gutgemeinte Einmischung meinen Jagdplan zerstören. Hatte ich all das Entsetzliche der letzten Stunden durchgemacht und sollte noch so nahe am Ziele um meinen Fang gebracht werden? Vorsicht, mehr als bisher; laß dir Zeit!

Die Depesche! Ein anderes Mittel gab es nicht. Der annehmende Telegraphist würde sie mechanisch abklappern, und erst der auf der Empfangsstation oder der Empfänger selbst, also Du, Richard, würden wissen, um was es sich handelt. – Aber besser ist besser: selbst der empfangende Telegraphist in Köln durfte nichts Sicheres herauslesen, ebensowenig der Beamte an irgend einer Umschaltestelle unterwegs! Du allein! – Wenn ich das nur richtig heraus hätte! Schon die Adresse war bedenklich. Der ‚Polizeihauptmann‘ allein konnte alles verrathen. Und die Depesche selbst mußte alles und nichts sagen. Genug, um Dich zu bestimmen, pünktlich auf dem Posten zu sein, die ganze Geschichte nicht für einen Jux zu halten, – und doch nicht genug, um irgend einem Dritten etwas zu verrathen.

Ich sann nach. Nie hat die Abfassung einer kurzen Depesche einem menschlichen Gehirn so viel Mühe gemacht. Und wenn der Kerl mir zur Seite blieb, meine Depesche las? Ob er nicht am Ende Deutsch verstand?! Kerle von der Sorte sprechen meist mehr als eine Sprache. – Unaufhaltsam donnerte der Zug vorwärts, näher und näher der Grenze. Sollte die Depesche am richtigen Ort aufgegeben werden, so mußte ich sie jetzt im Kopf fertig haben. – War das schon die Grenze? Ich war noch nicht fertig, hatte eigentlich noch nicht das erste Wort meiner Depesche gefunden. – Nein, ‚Aulnoye!‘ rief es draußen, also noch nicht einmal Jeumont, die Grenzstation auf der Fahrt von Deutschland.

Der Zug hielt in Aulnoye mehrere Minuten; er wurde hier getheilt: ‚Wagenwechsel nach Brüssel!‘ schrie es den Zug entlang. Die vorderen Wagen gingen nach Brüssel, die hinteren nach Deutschland. Unser Wagen wird auf dem Bahnhof ein wenig hin und her geschoben und gerüttelt. Sich jetzt länger schlafend zu stellen, müßte selbst einem Einfältigeren als dem Mordbuben verdächtig erscheinen. So ‚erwache‘ ich denn bei einem besonders kräftigen Kuppelungsstoß, fahre auf, reibe mir die Augen und setze mich aufrecht hin. Ah, wie wohl das thut, wieder einmal zu sitzen, nicht mehr der Länge nach dazuliegen wie ein hilfloses Schaf auf der Schlachtbank! Ich rücke ans Fenster, die Scheiben sind von innen hauchbeschlagen, von außen verregnet. So wende ich mich denn mit Aufgebot all meiner Ruhe und Unbefangenheit zu dem Vierfingrigen: ‚Ist dies schon die belgische Grenze, mein Herr? Warum öffnet man nicht?‘

‚Nein, mein Herr,‘ antwortet jener sehr höflich, ‚dies ist erst Aulnoye. Wir halten noch in Maubeuge und in Jeumont, dann kommt Erquelinnes; noch fünfzig Minuten, mein Herr.‘

‚Hast Dein Kursbuch mit Erfolg auswendig gelernt,‘ denke ich und sage dann laut zu ihm: ‚Ach, da muß man bald seine Sachen zusammenpacken für die Zolldurchsuchung.‘

‚Ja,‘ meint der andere, ‚aber ich denke doch, man wird uns nicht zum Aussteigen zwingen?‘

Er ist ganz ruhig, fast heiter. In der Stimme klingt nichts nach Verdacht, nach Aengstlichkeit. Dies ist die Minute, oder keine, um ihm meine Depesche glimpflich beizubringen. Und ich antworte nach einer kleinen Pause, in der ich mir mit meinem Kopfkissen zu schaffen mache: ‚Aussteigen müssen wir sicher; die Belgier sind strenge Zöllner. Uebrigens, ich muß so wie so aussteigen, ich habe eine Depesche aufzugeben.‘

Das Wort ‚Depesche‘ hat ihn doch erschreckt. Nur ein blitzschnelles Zucken um die Augen, aber es war mir nicht entgangen. Jetzt nur vorwärts, da half nichts. – ‚Ja, eine Depesche an meine Schwester in Köln; ich habe in der Eile der Abreise ganz vergessen, ihr meine Rückkehr von Paris aus zu melden. Ich wohne nämlich mit meiner Schwester zusammen.‘

Er hatte sich beruhigt und fragte theilnehmend: ‚Werden Sie auch Zeit genug dazu in Erquelinnes finden? Sie wissen, gerade an den Zollstationen kann man nichts nebenbei besorgen.‘

‚Ja, ich glaube, Sie haben recht. Am besten schreibt man die Depesche schon vorher und giebt sie dann zur Besorgung.‘

Das gefiel ihm ausnehmend.

‚Ich habe nur ein Bedenken,‘ fuhr ich fort, ‚meine Schwester versteht nicht Französisch, und ich fürchte, der belgische Telegraphist in Erquelinnes versteht nicht Deutsch.‘

‚Wenn Sie recht leserlich deutsch mit lateinischen Buchstaben schreiben,‘ meinte er, ‚so wird das nichts auf sich haben. Deutsch allerdings wird der gute Mann in Erquelinnes sicher so wenig verstehen wie ich. – Was wollen Sie, wir Franzosen sind nun mal in solchen Künsten unverbesserliche Dummköpfe.‘

Gott sei Dank, er verstand also kein Deutsch! Oder war das nur eine Falle für mich? Unmöglich, das Bekenntniß seiner Unwissenheit hatte einen Klang elementarer Aufrichtigkeit. – Ich suche in der Brusttasche nach einem Stück Papier, finde aber nichts Brauchbares. Der Kündigungsbrief des Comptoirs geräth mir zwischen die Finger, daran hing ein großes leeres Blatt. Aber nein, der Mensch hätte die Siegel oder das Papier oder sonst etwas Verdächtiges daran erkannt.

‚Sie suchen gewiß ein Blatt Papier für Ihre Depesche, mein Herr?‘

Dies ist ein ‚comble‘, wie wir in Paris sagen: fängt der Kerl richtig an, selbst in den Taschen nach einem Stück Papier für mich zu suchen! Ich wehre ab, bitte ihn, sich keine Mühe zu geben, aber er ist nun mal im Eifer hilfreicher Dienstfertigkeit und sucht weiter. Da kommt ihm ein guter Einfall: ‚Bitte, mein Herr, nehmen Sie eines dieser leeren Blätter hinten aus dem Kursbuch, die sind sogar liniirt, der Drucker hat augenscheinlich an Fälle wie diesen gedacht,‘ – und er reißt mir zwei Blätter heraus. Ich danke ihm tiefgerührt. Hat man je einen angenehmeren Mörder gesehen?

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 480. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_480.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)