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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

fühlte auch auf diesem Gebiete die ernstere Stimmung der Volkslyrik, von welcher der eingangs erwähnte Dichter singt:

„Du fühlst des Volkes Freud und Pein,
Du kennst sein Sorgen und sein Schaffen;
Du greifst in seine Arbeit ein,
Wenn müde Hände hier erschlaffen.
Und ob es weint, und ob es lacht,
Du theilest mit ihm Lust und Leiden,
Du folgst ihm ins Gewühl der Schlacht
Und hilfst ihm seine Garben schneiden.“

Wie Silcher als Sammler, Gründer und Leiter der „Tübinger Liedertafel“ zur Wiederbelebung und Verbreitung schwäbischer und anderer deutscher Volkslieder gewirkt, wie dadurch sein Name weit über das engere Vaterland hinaus bekannt wurde, – das hat sein Landsmann Dr. Otto Elben in seiner Schrift: „Der volksthümliche deutsche Männergesang“ (2. Auflage, Tübingen 1887) in warmen Worten berichtet, Worte, die ich dem Leser nicht vorenthalten will. „Die Vereine für den Männergesang,“ heißt es daselbst, „umfaßten ein gutes Theil des Volks und wirkten volksthümlich: was stand ihnen näher, als vom Volke die Schätze seiner Poesie in sich aufzunehmen, das Volkslied auch in den neuen Kreisen volksthümlicher Kunstjünger zu pflegen. Die Männergesangvereine haben diese Aufgabe ergriffen. Sie haben ihren Führer gefunden, der sich die größten Verdienste erworben, der, von keinem seiner vielen Nachfolger erreicht, mit dem glücklichsten Sinne uns die schönsten Blüthen der Volksmusik zugeführt hat: Friedrich Silcher. Im Jahre 1825 erschien das erste Heft seiner Volkslieder, für vier Männerstimmen gesetzt, zwölf Nummern enthaltend, 1826 folgte das zweite, zu Anfang der dreißiger Jahre das dritte und vierte Heft. Nunmehr zählt die ganze Sammlung (12 Hefte, Tübingen bei Laupp) 144 Volkslieder, alle für vierstimmigen Männergesang. Diese Volkslieder sind so weit verbreitet, als deutscher Gesang reicht: sie erklingen an den Ufern des Susquehanna und Ohio so gut wie im deutschen Vaterland, und als der Kölner Männergesangverein in London (1853 und 1854) dem deutschen Liede die herrlichsten Triumphe bereitete, da standen obenan die Volkslieder, da erregte das schwäbische: ‚Jetzt gang i ans Brünnele‘ etc. etc. den tiefsten Eindruck. Woher solche Erfolge? Ist es bloß, daß Silcher mit seinen Heften den ersten glücklichen Griff gethan? Nein, seiner Verdienste sind mehr, es bedurfte hier nicht allein eines gelehrten fleißigen Sammlers, es bedurfte einer so eigenthümlich sinnigen poetischen Begabung, wie sie in Silcher aufgetreten, um uns unverfälscht die köstlichen Früchte wiedergeben zu können. Silchers Verdienst ist in mehrfacher Richtung anzuerkennen. Als Sammler hat er die echte Quelle gefunden, nicht vergilbte Handschriften, sondern die lebendig fließende der Volkskreise; er hat die Melodien jenen naiven Klassen des Volks abgelauscht. Wir wüßten von mehr als einem der köstlichsten schwäbischen Volkslieder zu berichten, welche, von den schmucken Dirnen der der Universitätsstadt Tübingen nahen Dörfer, z. B. Niedernau, Bezingen, gesungen, die Aufmerksamkeit des Meisters erregten und aus dem Munde der Mädchen in seine Sammlung übergingen. Die Melodien sind äußerst treu gegeben; der vierstimmige Satz ist klar, einfach, ungekünstelt, ohne gesuchte Harmonien . . .“

Als dieses Werk in seiner 1. Auflage erschien, 1854, lebte Silcher noch. Geboren am 27. Juni 1789 zu Schnaith bei Schorndorf in Württemberg, wo sein Vater Schullehrer war, stand er damals in seinem 66. Lebensjahre und konnte sich der vielen Beweise der Anerkennung seiner großen Verdienste, die ihm sowohl in der Heimath als im Auslande in würdigster Weise zu theil geworden sind, noch erfreuen. Im Jahre 1817 als Musikdirektor an die Universität Tübingen berufen, wirkte er dort 42 Jahre lang für die Musik in Kirchen und Schulen und für den Gesang in freien Vereinen, die er zu hoher Blüthe führte. Am 26. August 1860 schloß der Wiedererwecker des deutschen Volksliedes, der Sänger unserer lieblichsten Weisen, seine Augen; aber die Schätze, die er hinterlassen, haben seinen Namen unsterblich gemacht. Ja, fortleben wird

Der uns diese Liedlein neu gesang, so wol gesungen hat.“




Frau Reineke als Lehrmeisterin.

(Zu dem Bilde S. 497.)

Dichtung und Fabel haben ihren Kranz geflochten um Reineke, den rothen Freibeuter, den populärsten Raubgesellen, welcher Flur und Wald durchstreift, und so sprichwörtlich ist seine Schlauheit geworden, daß „schlau“ und „Fuchs“ zusammen gehören wie Reiter und Roß. Wohl weiß der Jäger, daß die Schlauheit des Fuchses in mancher Geschichte übertrieben geschildert wird, aber Reineke bleibt doch das interessanteste heimische Raubthier schon aus dem Grunde, weil er nicht wie die andern Familienglieder sein räuberisches Gewerbe fast ausschließlich im Dunkel der Nacht verbirgt, sondern sich auch bei Tage bei seinem Thun und Treiben belauschen läßt.

Jedes Wild ist scheu und mißtrauisch in Gegenden, wo es immerwährenden Verfolgungen ausgesetzt ist, „vertraut“, wo ein schonender Jagdherr dasselbe hegt und da Reineke seiner Räubereien wegen auf keinem Reviere gern gesehen, sondern, wo und wann man seiner habhaft werden kann, um Flinte und Eisen verfolgt wird, so prägt sich in erster Linie Mißtrauen und Vorsicht in seinem Wesen aus. Einen schlauen Streich von Reineke zu sehen, gehört zu den größten Seltenheiten im Jägerleben, und obgleich ich Hunderte von Füchsen zu allen Tages- und Jahreszeiten stundenlang beobachtet und auch Hunderte erlegt habe, so weiß ich doch dem Leser nur ein Beispiel zu erzählen, daß eine Füchsin oder „Fehe“, wie sie der Jäger nennt, zum Schutz ihres „Gehecks“ vor den fortwährenden Verfolgungen des Jägers in ihrer Vorsicht einen hohen Grad von Schlauheit bewies, und ehe ich auf die von Maffeis Künstlerhand dargestellte Scene unserer Abbildung eingehe, möchte ich diesen selbsterlebten Vorfall schildern.

Mein alter Freund, der Förster G. im Lippe-Detmoldischen, hatte ein Geheck junger Füchse auf einem Bau „ausgemacht“ und beim Ansitz nach und nach drei Stück davon geschossen. Das hatte die „Fehe“ aber übelgenommen und war mit dem Rest der jungen Räuberbrut ausgewandert. Doch Freund Grünrock wußte die Feinde seiner Wildbahn bald wieder auszumachen und an einem heiteren Nachmittage Anfang Juni saßen wir 60 Schritt von dem betreffenden Bau. Durch dichtes Fichtengebüsch sind wir vor den scharfen „Sehern“ der Füchsin und des Gehecks geschützt.

Kaum haben wir eine halbe Stunde dort gesessen, da lugt aus der Röhre ein rother spitzer Kopf hervor, der die „Lauscher“ sichernd nach vorn streckt und die Nase windend hin und her dreht, dann schiebt sich Frau Fehe halb aus dem Bau, sichert nochmals und zeigt uns endlich ihren dürren, feingebauten Leib, an dem die dünne „Lunte“ (Schwanz) trauernd fast den Boden streift und der in seinem zerzausten kurzhaarigen Gewande uns daran gemahnt, daß Mutterfreuden und Nahrungssorgen auf das Aeußere nicht allzu vortheilhaft wirken. Sie untersucht den ganzen Bau mit der Nase dicht auf der Erde, beschnuppert jede Röhre, steht still, lauscht und umkreist endlich in weitem Bogen nochmals ihren Zufluchtsort, aber nichts Verdächtiges sieht und wittert sie. Jetzt erst wähnt sie sich sicher. Sie eilt zur Röhre, steckt den Kopf hinein, lockt – – und in demselben Augenblick stürzen drei junge Füchschen neben ihr heraus, jagen sich, zausen, überschlagen und wälzen sich – übermüthig wie die Jugend, wenn sie, den harten Schulbänken entfliehend, aus der Thür hervorquillt.

Die Alte steht als Wache auf dem Bau und schaut vergnüglich dem munteren Gejage der graurothen, noch mit dem ersten Jugendrocke bekleideten Bürschchen zu. Jetzt hat das eine einen abgenagten Hasenlauf, an dessen unterem Ende noch eine Spanne lang Balg sitzt, ergriffen und ein anderes will ihm dieses Spielzeug streitig machen. Von beiden Seiten zerrend, ziehen sie sich hin und her, bis endlich Reinhard die Sache leid wird. Er läßt den Lauf los und will rauflustig sein Brüderchen ergreifen; dieses flieht, die beiden andern setzen hinter ihm drein. Jetzt hat der Flüchtling einen alleinstehenden kleinen Fichtenbusch erreicht, und so rasch er kann, geht’s um ihn herum in schnellster Flucht, und da jeder den vor ihm Dahineilenden zu haschen sucht, so sieht man nicht mehr, welcher der erste, welcher der letzte ist, es berührt fast die Nase des einen die Lunte des andern, daß man glauben möchte, ein Ring aus lebenden Kettengliedern umkreise den Busch.

Da stößt die Fehe einen leisen Ton aus – – die Kettenglieder lösen sich, und wie auf Kommando ist das Kleeblatt unter der Erde verschwunden.

Noch eine Minute tritt die Füchsin auf dem Bau hin und her, dann horcht sie in die Röhre und trabt fort – vielleicht um Fraß zu holen? – nein, noch nicht. Nach fünf Minuten kommt sie wieder – leise schleichend – sie hebt den Lauf so vorsichtig und langsam und setzt ihn so behutsam wieder nieder wie ein Hühnerhund, der mit hoher Nase einer Kette Hühner nachzieht – Schritt vor Schritt – niemand soll sie hören – bis zur Röhre – sie lauscht hinein – nichts regt sich. Was bedeutet das? Sie hat den Jungen verboten, während ihrer Abwesenheit draußen zu spielen, und jetzt schleicht sie noch einmal an den Bau, um nachzusehen, ob die Kleinen auch gehorsam sind, damit ihnen kein Leid geschehe.

Machen es viele Menschen nicht ebenso? – Nachdem Mutterliebe und Besorgniß die Alte angetrieben haben, all ihre Schlauheit zum Schutze der Lieblinge anzuwenden, schleicht sie endlich leise vom Bau und verschwindet.

Eine Stunde ist verflossen, da tönt von fern her ein langgezogener Schrei zu uns herüber. Es ist der Klageton, welchen ein Haushahn in größter Angst ausstößt – trompetentonartig langgezogen. Immer näher kommen die Schreckenslaute und endlich erscheint zwischen den Stämmen die Fehe, welche im hochgehobenen Rachen einen noch lebenden, goldig schimmernden Haushahn am gebrochenen Flügel herbeischleppt. Stolz kommt sie angetrabt mit ihrem unglücklichen Opfer, das kraftlos mit dem noch gesunden Fittich in die Luft schlägt und mit seinen bespornten Füßen nach der Brust des Siegers tritt, als wollte es mit letzter Kraftanstrengung nochmals versuchen, sich zu befreien. Doch es gelingt ihm nicht, und nun

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 499. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_499.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)