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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

War das dasselbe Mädchen, das ihm gestern glückstrahlend, unbekümmert um alles andere auf der Straße entgegengestürzt war – und das heute ihm nicht einmal das Geleit gegeben hatte? Wie sie ihn morgen wohl empfangen würde, in Gegenwart der angekündigten Tante? Am liebsten wäre er gar nicht hin gegangen, aber am Ende war es dieser Familie gegenüber nicht angebracht, Empfindlichkeit zu zeigen. Er mußte die Sache wohl gehen lassen – und im Grunde konnte er sich ja gewiß jeder Prüfung unterwerfen, in der Voraussicht, daß ihm eine vollständige Ehrenerklärung von dem widerstrebenden Vater werden müsse.

Er war ein fleißiger, in seinem Beruf hochangesehener Mann, sein öffentliches, wie sein Privatleben lagen klar vor jedermanns Augen und er konnte sich sagen, daß er sich rein von den unter seinen Genossen üblichen Ausschreitungen gehalten – allerdings, nachdem er seine Erfahrungen gemacht und theuer bezahlt hatte.

Aber darüber waren Jahre vergangen. Damals, nachdem er so schändlich betrogen worden war, hatte er das von der Jugend vielgebrauchte, seelentödtende Betäubungsmittel eines sogenannten „tollen Lebens“ an sich probiert, aber seine starke Natur hatte widerstanden und er war nach kurzer Zeit in sein altes Geleise zurückgekehrt, das durch seine vornehmen zurückhaltenden Gewohnheiten fest eingedämmt war.

Auf solchem Wege führten seine Gedanken ihn wieder zu dem traurigen Erlebniß seiner Vergangenheit zurück, und dann fiel ihm auch die gestrige Begegnung wieder ein.

Auch jetzt dachte er nicht ohne eine gewisse Beklommenheit an die Möglichkeit eines Wiederbegegnens mit Magdalene . . . um sich gleich darauf über sich zu ärgern. Was kümmerte ihn heute jene Frau, die ihn schamlos betrogen hatte, heute, wo ein junges, reines Mädchen bereit war, sein Weib zu werden?

Ja, war sie denn bereit dazu? . . . Alle Wetter, da war er wieder auf dem Ausgangspunkt seines Grübelns, und er wollte nicht grübeln, es konnte ihn nur erbittern und verstimmen. Und er war seit dem „shocking“ von gestern abend niedergedrückt genug. Hatte dieses Erkennen und dieses Erinnern ihn nicht zudem in die leichtsinnige Gesellschaft geführt, in der Gertruds Vater ihn beobachtete? Er hatte es sich gleich gedacht, es war ein böses Zeichen gewesen, es hatte ihm Unglück gebracht, dieses abscheuliche shocking.

Und wieder, während des ganzen öden Tages, den er zwecklos und grüblerisch verbrachte, beunruhigte es ihn; – er sah die Gestalt der alten Miß vor sich und endlich gar, in der langen, schlaflosen Nacht, kam ihm plötzlich der Wunsch, sie wiederzusehen. Erst verwarf er ihn – welcher Gewinn sollte ihm daraus erwachsen? Aber je mehr er darüber nachdachte, desto mehr Gründe fand er, ihn für entschuldbar, natürlich und endlich leicht ausführbar zu halten.

Im Grunde war es ja geradezu Schicksalsstimme, die ihn nachzog. Schon hatte seine Braut ihm von einem gewissen Zusammenhang mit der Engländerin erzählt – übrigens merkwürdig, wie die Welt klein war – suchte er sie nicht selbst auf, so traf er sie vielleicht zufällig, und das wäre ihm weniger angenehm, als wenn er sie besuchte . . . „Doch wozu all diese Scheingründe,“ sagte er sich schließlich ärgerlich, „ich habe eben den Wunsch, die gute, ehrliche Sikes einmal zu sehen, und überflüssige Zeit, diesem Wunsch gerecht zu werden, habe ich wahrlich auch.“

Entschlossen ließ er sich beim Morgenkaffee das Adreßbuch geben und notierte sich die Adresse der Miß Sikes, Sprachlehrerin, Hintertragheim.

In einem schiefwinkeligen, düstern Zimmer, dessen Fenster auf einen von hohen Mauern umgebenen Hof sah, saß Miß Sikes und korrigierte Hefte. Sonst war das ihre Abend- oder besser gesagt Nachtbeschäftigung, denn es wurde oft zwei Uhr und darüber, ehe die scharfen kleinen blauen Augen sich zur verdienten Ruhe schlossen.

Heute war durch die Absage einer Schülerin eine freie Stunde auf die Mittagszeit gefallen, die konnte gut verwendet werden. Das zu korrigierende Häuflein Hefte wurde immer kleiner. Befriedigt blickte die alte Engländerin darauf hin, dann lehnte sie sich in ihren Stuhl zurück und legte die Hand über die leise gerötheten Augen.

In die vorhin nur durch das Geräusch ihrer korrigierenden Feder unterbrochene Stille drang jetzt aus dem Nebenzimmer kreischendes Vogelgeschrei.

„Garstiges Thier,“ dachte die Engländerin – aber was war da zu machen: Magdalene liebte ihn so sehr, sie sprach mit ihm, erzählte ihm von ihren Träumen . . . arme, arme Magdalene!

Eine zärtliche Sehnsucht nach ihrem Schmerzenskind ließ sie von ihrem Arbeitsplatz aufstehen und die Thür zu dem Nebengemach öffnen.

Seufzend blickte sie hinein, seufzend, obgleich Glanz, Blumenduft und Behaglichkeit aus dem geräumigen Zimmer in ihre dunkle Arbeitsstube geradezu strahlten.

Da standen in sinnigster Anordnung bequeme und doch zierliche Möbel, denen man die Sorgfalt, mit der sie ausgesucht waren, ordentlich ansah. Stück für Stück hatte Miß Sikes sie erworben, mühsam zusammengespart und mit so feinem und besonderem Geschmack gestellt, als ob sie sich in diesem hellen, freundlichen Zimmer für alle Dunkelheit und Unbehaglichkeit ihres übrigen Daseins hätte entschädigen wollen. Und doch waren es nur wenige Augenblicke in ihrem arbeitsvollen Leben, die sie in diesem Blumengarten zubrachte, und Freude und Erholung fand sie nicht in ihnen.

Ihr trauriger Blick streifte die dem Eingang gegenüber in einem niedrigen Sessel liegende Frau, die den schreienden Papagei neckte.

Welche Formvollendung in diesem herrlichen Körper, welch hinreißende Schönheit in diesen Zügen, gleich auffallend in Form und Farben! Dazu dieses volle wellige Goldhaar, in schweren Flechten den kleinen Kopf schmückend! Nun wendete sie ihn, – und der Ausdruck des Entzückens in den Augen der alten Lehrerin wich dem der tiefsten Trauer.

Die wundervollen blauen Augen hatten einen irrenden, träumenden Blick, um den kleinen, schöngeschnittenen Mund lag ein eigenthümlich schlaffer, müder Zug, der es deutlich erkennbar machte, daß eine kranke Seele in dieser schönen Form sich barg.

Miß Sikes fuhr sich mit der magern Hand über die Augen, – ihr Eintritt war nicht bemerkt worden, so ging sie denn, ohne die Thür zu schließen, an ihren Tisch zurück und verscheuchte die trüben Gedanken, indem sie einen fehlerhaften Satzbau in dem gerade vor ihr liegenden Heft mit dicken, rothen Strichen und großen Buchstaben rügte.

Da klang draußen die Glocke, – Miß Sikes horchte danach und stand langsam auf, um die Thür zu dem Nebenzimmer zu schließen.

Ein Blick auf die ihr von dem Mädchen gebrachte Karte ließ sie in ihrem Vorhaben innehalten. Mit ungläubigem Staunen las sie:

„Konrad Herrendörfer, Rechtsanwalt und Notar“, und mit Mühe brachte sie ein „ich bitte“ als Bescheid auf die stumme Frage des wartenden Mädchens hervor. –

Das also war Konrad Herrendörfer, den sie in blühender Jugendfrische so oft gesehen hatte, dessen letzter Anblick, obgleich viele Jahre darüber vergangen waren, ihr in dauernder, schrecklicher Erinnerung geblieben war!

Der sehr schlanke, etwas überlegen dreinschauende, nicht mehr ganz junge Mann erinnerte sie wenig an den ihr bekannten Konrad Herrendörfer, den sie wie verlegen und staunend in ihrem Gast suchte und auf dessen Anrede sie wartete.

Konrad selbst empfand in dem Augenblick, in dem er dem alten Mädchen gegenüberstand, daß er es besser unterlassen hätte, sie wieder aufzusuchen.

Er sah an ihrer mühsam behaupteten Fassung, an der wechselnden Farbe des unverändert gebliebenen Gesichts, daß sein Kommen einen peinlichen Eindruck gemacht hatte; die beiderseitige Wohlerzogenheit machte dann dem sekundenlangen Schweigen ein Ende – sie reichten sich die Hände und Miß Sikes führte ihren Besuch zu dem alten, mit Leder bezogenen Sofa in der Ecke.

Darüber kamen sie an der offenen Thür vorbei. Die blonde Frau stand einen Augenblick im vollen Sonnenlicht in all ihrer berückenden Schönheit vor ihnen . . . Miß Sikes schloß leicht zusammenfahrend die Thür und sah ängstlich nach ihrem Gast, der sehr blaß geworden und seinem Gesicht einen möglichst unbefangenen Ausdruck zu geben bemüht war.

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 512. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_512.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)