Seite:Die Gartenlaube (1889) 520.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

„Wenn das ein Traum war, was ich da auf meiner Stirn – auf meinen Lippen gefühlt habe, dann will ich lieber sterben, als ohne dies weiterleben,“ rief Beppo außer sich, mit einer starrsinnigen Energie in den düstern Augen. Er ließ Aninias Hand fahren und tastete mit der seinen nach dem Verband, um ihn von der Wunde herunter zu reißen. Doch Aninia war schneller als er. Sie stürzte über ihn, unfähig in diesem schrecklichen Augenblick, nur einen Laut von sich zu geben. Aber entschlossen und kraftvoll riß sie seine Hände zurück und schützte seine Brust mit ihrem Angesicht. Thräne um Thräne rann von ihren Augen, sie wollte sprechen und konnte nicht. Endlich stammelte sie: „Nein, Beppo – nein! – es war kein Traum! Ich bin und bleibe Dir gut!“ Zugleich erfaßte sie leidenschaftlich mit beiden Händen seinen Kopf und drückte einen langen, heißen Kuß auf seine Lippen. – Im folgenden Augenblick war sie aus der Kammer verschwunden.

Zitternd vor Freude und Erschöpfung ließ der Kranke den Kopf vollends in das Kissen zurücksinken. Seine Kraft war zu Ende, aber er fühlte sich von einer Seligkeit durchströmt, wie sie bisher das Herz des armen Burschen nicht gekannt hatte. – Viel Nachdenken war Beppos Sache überhaupt nicht, und heute wollte sein noch müder Kopf keinen andern Gedanken fassen als: „Sie hat Dich geküßt, sie hat Dich lieb!“ Das stellte er sich so lange immer wieder vor, bis allmählich die Bilder und Gedanken zum Traum ineinanderflossen und ein wohlthuender Schlaf den Glücklichen umfing.

Als Aninia in athemloser Hast in ihrer Kammer angekommen war, sich dort in einen Sitz warf und, die Hände vor das Antlitz gedrückt, sich zu beruhigen, zu sammeln suchte, da hörte sie draußen leichte Schritte; in der Nebenstube, wo die Mutter schlief, wurde die Thür leise geöffnet und geschlossen.

Seltsam! Die Mutter mußte also doch nicht zur Ruhe gegangen, sondern noch im Innern des Hauses gewesen sein.

(Fortsetzung folgt.)




Friedrich List.

Mit Illustration S. 517.

Deutschlands innere Einigung in diesem Jahrhundert hat wie jede große geschichtliche Umwälzung ihre Märtyrer; der größten einer aber ist Friedrich List. Nicht äußere Gewalt hat ihn weggerafft, sondern die innere Zernichtung, die hoffnungslose Enttäuschung, die unsägliche Trostlosigkeit dessen, der auf ein von den höchsten Idealen getragenes, von rastlosen Mühen erfülltes Dasein zurückblickt mit dem bittern Gefühl, daß alles umsonst gewesen, daß das hohe Gut, dem all sein Streben gegolten, verloren, sein Dank nur Mißgunst und Verfolgung, das Endergebniß nur Zerrüttung seiner Arbeitskraft und seiner Familien- und Vermögensverhältnisse sei.

Und doch war sein Wirken nicht umsonst gewesen! Aber des kühnen Mannes glühender Drang nach vorwärts ließ ihn über der Vorstellung des großen Endziels die kleinen Anfänge nicht sehen, ließ ihn, der von dem Bilde köstlicher Früchte erfüllt war, die schüchternen, scheinbar kümmerlichen Ansätze mißachten. Das ist das Tragische in seinem Geschick. So starb er, ein Opfer seiner widerstrebenden Zeit, aber auch ein Opfer seines eigenen allzu stürmischen Charakters.

Am 6. August sind es hundert Jahre, seit Friedrich List als der Sohn eines vermöglichen Weißgerbers zu Reutlingen in Württemberg das Licht der Welt erblickte. Reutlingen war bis zum Jahre 1802, bis zu seiner Einverleibung in Württemberg, eine Freie Reichsstadt, und das ist nicht ohne Bedeutung für die Entwickelung Lists gewesen. „Er sog,“ sagt sein Biograph, Ludwig Häusser (Friedrich Lists gesammelte Schriften I. Stuttgart und Tübingen, Cotta, 1850), „das reichsstädtische Selbstgefühl, die Vorliebe für freie bürgerliche und korporative Verhältnisse, die Abneigung gegen Beamtenthum und Schreiberwesen, man kann sagen mit der Muttermilch ein.“ So konnte denn auch der verzweifelte Versuch Lists, der die Lateinschule seiner Vaterstadt ohne besonderen Glanz besucht und dann kurze Zeit in seinem väterlichen Geschäft widerwillig eine Lehre durchgemacht hatte, der Versuch, im württembergischen Staatsdienste als einer dieser „Schreiber“ sich eine berufliche Existenz zu schaffen, kaum von Erfolg begleitet sein. Eine kurze Zeit, während unter dem Minister Wangenheim die liberalen Ideen im württembergischen Staats- und Gemeindeleben zur Geltung kamen, fand auch List eine ihm zusagende Wirksamkeit, zuerst als Beamter im Ministerium, dann als Professor an der neugegründeten staatswirthschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen, aber mit dem Sieg von Wangenheims reaktionären Gegnern, Ende 1817, war auch seiner Stellung der innere und äußere Halt genommen.

Lists Lösung vom württembergischen Staatsdienst, die unter solchen Umständen kommen mußte, ward schließlich durch ein Vorkommniß herbeigeführt, welches in der Geschichte der wirthschaftlichen Entwickelung Deutschlands einen Markstein bildet. Seit Jahren schon regten sich in dem deutschen Handelsstand die Bestrebungen zur Besserung des wirthschaftlichen Nothstands in den deutschen Ländern. Insbesondere waren es die Binnenzölle, das heißt die Zölle, welche die einzelnen deutschen Staaten an ihren Grenzen gegen einander erhoben, gegen die sich die öffentliche Meinung immer entschiedener auflehnte. Es fehlte nur an einem Manne, der es verstand, diese getheilten, zersplitterten, zum Theil auch noch ganz unsicher tastenden Strebungen mit kräftiger Hand und klarem Geiste zusammenzufassen.

Im Frühjahr 1819 reiste nun List zu wissenschaftlichen Zwecken nach Göttingen. Unterwegs traf er in Frankfurt a. M. mit einer Anzahl von Kaufleuten und Fabrikanten zusammen, welche mit ihm die Noth der Zeit besprachen und ihn schließlich darum angingen, in ihrem Auftrag eine Bittschrift an die Bundesversammlung in Frankfurt zu richten, in welcher um „Aufhebung der Zölle und Mauthen im Innern Deutschlands und um Aufstellung eines allgemeinen deutschen, auf dem Prinzip der Retorsion (das heißt der Wiedervergeltung fremder Eingangszölle durch eigene) beruhenden Zollsystems gegen die angrenzenden Staaten“ ersucht wurde. Freudig ging List darauf ein, ja, er trieb seine Auftraggeber weiter, als sie ursprünglich selbst gewollt hatten, er veranlaßte sie, zur Wahrung ihrer Interessen und zur Verbreitung der in der Eingabe vertretenen Ideen einen Verein zu gründen, der unter dem Namen „Deutscher Handels- und Gewerbeverein“ längere Zeit eine beachtenswerthe Rolle spielte und zu dessen Konsulenten List sich ernennen ließ. Daran knüpfte die württembergische Regierung an, um den ihr unbequemen Beamten abzuschütteln. Sie forderte List zur Rechtfertigung darüber auf, wie er als Beamter ohne eingeholte Erlaubniß eine weitere Stellung habe annehmen können, und List antwortete mit einem Entlassungsgesuch. Es wurde am 21. Mai 1819 genehmigt, und damit war List losgeankert von dem festen Boden einer heimathlichen bürgerlichen Existenz, um fortan rastlos umherzuwandern, nirgends seßhaft, nirgends heimisch, sorgenvoll um sicheren Grund und Boden für seine Familie ringend, und doch selbst für Ruhe und Beharren nicht geschaffen.

Zunächst benutzte List seine Freiheit zu einer umfangreichen Agitation im Dienste des Handelsvereins. Da der deutsche Bundestag zu Frankfurt das eingereichte Bittgesuch und ebenso ein zweites ablehnte und die Bittsteller an die Einzelregierungen verwies, so bereiste List die Höfe von München, Stuttgart, Karlsruhe, Berlin und Wien, bearbeitete fünf Monate lang die in letztgenannter Stadt zum Kongresse versammelten Staatsmänner, war unermüdlich und in allen Formen schriftstellerisch thätig, beschäftigte sich nebenbei mit dem Plane einer deutschen Industrie- und Kunstausstellung, ohne freilich auf irgend einem Felde nennenswerthe Erfolge zu erzielen.

Hatte dieser letztere Umstand schon seine Beziehungen zu den rechnenden Kaufleuten des Handelsvereins gelockert, so wurden sie vollständig gelöst durch ein Ereigniß, welches wohl den dunkelsten Punkt in Lists an trüben Schicksalen wahrhaft überreichem Leben bildet. Von seiner Vaterstadt Reutlingen 1820 wiederholt in die württembergische Ständeversammlung gewählt – eine erste Wahl war wegen „unzureichenden Alters“ für ungültig erklärt worden – verfaßte der eifrige Abgeordnete im Einverständniß mit seinen Wählern eine Bittschrift, welche er an die Kammer einzureichen gedachte und in welcher er alle Schäden des württembergischen Regierungssystems mit rücksichtsloser Offenheit ans Licht zog und in vierzig Punkten seine reformatorischen Forderungen zusammenfaßte.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 520. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_520.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)