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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

„Wo man hinsieht, nichts als Räthe, Beamte, Kanzleien, Amtsgehilfen, Schreiber, Registraturen, Aktenkapseln, Amtsuniformen, Wohlleben und Luxus der Angestellten bis zum Diener herab,“ heißt es in der Schrift, „auf der andern Seite Unwerth der Früchte, Stockung der Gewerbe, Fallen der Güterpreise, Klagen über Geldmangel und Abgaben, Steuerpresser, Gantungen, bittere Beschwerden über unredliche Magistrate, gewaltthätige Beamte, geheime Berichte, Mangel an Unparteilichkeit der Obern, Jammer und Noth überall, nirgends Ehre, nirgends Einkommen, nirgends Fröhlichkeit, denn allein in dem Dienstrock.“

Eine solche Sprache war unerhört. „Verleumdung der bestehenden Staatsgewalt und dringenden Verdacht eines begangenen Staatsverbrechens“ fand das Stuttgarter Kriminalamt darin, vergebens protestirten gesinnungstüchtige Männer in der württembergischen Kammer, unter ihnen Uhland, gegen eine gerichtliche Verfolgung des Abgeordneten – genug, nach einer langen Kette der peinlichsten Quälereien – es kam sogar soweit, daß man List mit Stockprügeln drohte – fiel am 6. April 1822 nach fünfvierteljähriger Verhandlung das Urtheil, das List zu zehnmonatiger Festungsstrafe verdammte. Das ertrug er nicht; er verließ seine junge Frau, die Tochter des Tübinger Professors Seybold, mit welcher er sich erst vor wenigen Jahren, 1818, vermählt hatte, und floh aus dem Lande, erst nach Straßburg, dann nach Baden, nach London und Paris, endlich in die Schweiz, hier wie im Elsaß und in Baden verfolgt von dem Hasse der schwerbeleidigten württembergischen Bureaukratie. Endlich kehrte er, wahrscheinlich im Mai 1824, nach Württemberg zurück. Man hatte ihn glauben gemacht, ein Gnadengesuch an den König sichere ihm die beste Aufnahme – aber kaum hatte er die Grenzen des Landes überschritten, da wurde er verhaftet, auf den Asperg gesetzt und erst im Januar 1825 zur „Auswanderung“ begnadigt. List ging nach Amerika, dem Lande, auf welches schon Lafayette in Paris seinen Sinn gelenkt hatte.

Wir haben bei diesen Schicksalen des Mannes länger verweilt, weil ihre Betrachtung geeignet ist, die patriotischen Verdienste Lists in das gebührende Licht zu setzen. Die Verfolgungen seiner württembergischen Feinde hatten damit noch kein Ende; sie hintertrieben seine Verwendung als amerikanischer Konsul in Hamburg, sie untergruben seine Stellung als Generalkonsul in Leipzig – und trotz alledem blieb „der Hintergrund aller seiner Gedanken immer Deutschland“. Weder kleinliche Nörgelei noch peinlicher Druck, weder Undank noch Verleumdung hatten ihn der geliebten Heimath entfremden können.

In Amerika war es, wo seine nationalökonomischen Ideen und Kenntnisse sich vertieften und erweiterten. Hier vollzog sich seine innere Lossagung von dem herrschenden kosmopolitischen Freihandelssystem des berühmten schottischen Nationalökonomen A. Smith, um der Ueberzeugung von dem Werthe der nationalen Schutzzölle, insbesondere von ihrer Nothwendigkeit für Deutschland Platz zu machen. Hier geschah es, daß er von ungefähr auf einem Ausfluge reichhaltige Steinkohlenlager entdeckte und diese Entdeckung ihn – ein Beispiel, wie fruchtbar bei List ein zufälliges Ereigniß seines Lebens wirken konnte – auf Ideen über die möglichst gewinnreiche Verwerthung dieser Kohlen durch Belebung und Erweiterung der Verkehrsmittel führte, – und „mitten in den Wildnissen der blauen Berge träumte er von einem deutschen Eisenbahnsystem“.

Es war ihm klar, daß nur durch ein solches die Handelseinigung Deutschlands, die schon der Kernpunkt seiner ersten öffentlichen Aeußerung gewesen war, in volle Wirksamkeit treten könne. So liefen die Linien seiner Gedanken wieder zusammen in dem einen Punkt – Deutschlands wirthschaftliche Einigung und damit auch Hebung seiner inneren Kraft und seines Einflusses nach außen.

Wir haben schon darauf hingewiesen, daß eine Anstellung Lists als Konsul der Vereinigten Staaten in Hamburg sich zerschlug, und daß List dafür das Generalkonsulat zu Leipzig übertragen erhielt. Im Jahre 1833 ließ er sich in dieser Stadt nieder und eine zeitlang schien es wirklich, als ob sich ihm endlich auch einmal die Bahn des Erfolges, und zwar im nationalen Sinne aufgefaßt öffnen sollte. Lists Flugschrift „Ueber ein sächsisches Eisenbahnsystem als Grundlage eines allgemeinen deutschen Eisenbahnsystems, und insbesondere über die Anlegung einer Eisenbahn von Leipzig nach Dresden“ hatte die Wirkung, daß diese Bahn thatsächlich gebaut wurde, freilich nicht ohne daß sich für List persönlich sofort wieder Verkürzungen und Zurücksetzungen angeschlossen hätten; man machte ihm jede Mitwirkung an der Ausführung und jede finanzielle Betheiligung unmöglich und speiste ihn schließlich mit einem „Ehrengeschenk“ von 2000 Thalern ab, eine Enttäuschung, die ihn um so schmerzlicher traf, als ihr eine kurze Periode scheinbar berechtigter Hoffnungen vorausgegangen war. Bald traten neue Sorgen hinzu. Seine Stellung in Leipzig gerieth – wie List annahm, auf württembergisches Betreiben – ins Wanken und gleichzeitig verlor er infolge einer Finanzkrisis in den Vereinigten Staaten einen Theil des Vermögens, das er sich durch seine Kohlenbergwerke dort erworben hatte.

Noch einmal versuchte es List mit Württemberg, und man empfing ihn auch dort bei Freund und Feind mit großer Aufmerksamkeit. Er war, wie er selbst scherzend es ausdrückte, „the great lion“, der Löwe des Tages, und ganz Stuttgart sprach ein paar Tage lang von nichts als von dem Konsul List. Aber als der so Gefeierte um seine bürgerliche Wiederherstellung nachsuchte, da erhielt er den Bescheid, er werde als Ausländer betrachtet, welchem der Aufenthalt im Königreich „auf Wohlverhalten“ gestattet sei.

So kehrte List abermals der Heimath den Rücken. Er wandte sich 1837 über Brüssel nach Paris, unterwegs überall neue Verbindungen anknüpfend, darunter auch mit König Leopold I. Am folgenreichsten war wohl sein Zusammentreffen mit Kolb aus Augsburg, dem Redakteur der „Allgemeinen Zeitung“, mit welchem zusammen List einst auf dem Asperg gesessen hatte und den er jetzt in Ostende wiedersah. Nicht bloß blieb Kolb dem Vielumhergetriebenen ein treuer und aufrichtiger Freund bis zum Tode – Lists letzter, verzweiflungsvoller Brief ist an ihn gerichtet – sondern List erhielt auch in der „Allgemeinen Zeitung“ ein großes mächtiges Organ zur Verbreitung seiner Ideen.

Der Aufenthalt in Paris, welcher bis 1840 währte, gewann für List Bedeutung dadurch, daß er sich während desselben ganz auf geschichtliche und nationalökonomische Studien zurückzog. Der Anlaß dazu war eine von der französischen Akademie gestellte Preisaufgabe, deren Thema etwa lautete: „Wenn eine Nation die Handelsfreiheit einführen oder ihre Zollgesetze abändern will, welche Thatsachen muß sie in Betracht ziehen, um in möglichst gerechter Weise den Vortheil der Produzenten und den der Masse der Konsumenten zu vereinigen?“ List bewältigte in wenig Wochen die Arbeit, erhielt zwar keinen Preis, sondern nur mit zwei andern Bewerbern zusammen anerkennende Erwähnung, aber ein Sammelpunkt für seine Studien war ihm doch geworden, und aus dieser Preisschrift ist später Lists Hauptwerk, das „Nationale System der politischen Oekonomie“ (7. Aufl. 1883, Stuttgart, Cotta) erwachsen.

Als der erste Band dieses Werkes erschien, 1841, befand sich List schon wieder auf deutschem Boden, zuerst in Weimar, dann in Augsburg sich niederlassend. Die außerordentliche Wirkung des Buches „bestärkte List in dem Glauben, daß die Zeit jetzt gekommen sei, eine konsequente Agitation für das Schutzsystem mit Erfolg zu versuchen. Es war nun eine Partei vorhanden, die den Werth des Nationalen Systems anerkannte und sich um das Buch wie um ein Programm vereinigte; Freunde und begeisterte Anhänger regten sich bald ebenso laut wie die Gegner und Verächter, und in diesem raschen, sichtbaren Erfolg, dieser Unruhe und Gährung unter Freund und Feind lag der schlagendste Beweis dafür, daß List eine der mächtigsten Regungen der Zeit berührt hatte.“

Von Neujahr 1843 ab erschien dann ebenfalls bei Cotta das „Zollvereinsblatt“, das fortan den Mittelpunkt von Lists schriftstellerischer und agitatorischer Thätigkeit bildete und das er in der ersten Zeit fast ganz allein schrieb. Da traten sie alle von neuem wieder auf den Plan, die Gedanken, die er da und dort in die Welt geworfen: einheitliches Kanalsystem für Deutschland, einheitliche Post, gemeinsames Maß- und Gewichtswesen, gemeinsame Handels- und Patentgesetze, nationale Organisation der Auswanderung, regelmäßiger Packet- und Dampfbootverkehr, nationale Gewerbe- und Kunstausstellungen etc. Vor allem aber verlangte er die Einsetzung einer parlamentarischen Regierung im Zollverein, ein Zollparlament. Und List durfte mit dem Erfolge zufrieden sein; denn „ohne offizielle Stellung, ohne Zusammenhang mit einer Regierung, war er der Mittelpunkt einer großen Partei geworden.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 522. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_522.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)