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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Bedeutung kannte – „Wahnsinn“. – Nun, er wußte es besser und empfand es als eine Beeinträchtigung seines Glückes, daß ihm eine solche schrankenlos hingebende Liebe nicht beschieden war. Schwankte nicht auch Gertrud zwischen ihrem Vater und ihm? – Magdalene hatte kein Schwanken gekannt; die sonst so Schüchterne, Sanfte hatte sich nicht gescheut, ihn tödlich zu beleidigen und ihre ganze sichere Existenz zu opfern, um dem Mann ihrer Liebe folgen zu dürfen. Diese Liebe war ihr Verhängniß geworden, aber sie hatte ihm nicht entgehen wollen, – und als sie endlich sah, daß sie vergebens liebte, verlor sie den Verstand darüber.

„Wie erging es ihr weiter?“ fragte er gespannt.

„Traurig, wie es vorauszusehen war,“ erzählte Miß Sikes gedrückt. „Sie ging mit ihrem Verführer, der ja vor dem Gesetz ihr Gatte geworden war, nach Italien und schrieb uns erst sehr glückliche Briefe. Die wurden aber seltener, nachdem ein Kind geboren und kurz nach der Geburt gestorben war, – und hörten schließlich ganz auf. Das junge Paar führte ein regelloses Wanderleben, unsere Briefe kamen als unbestellbar zurück und wir blieben lange, lange Zeit ohne Nachricht.

Endlich, nachdem ich sie schon wie eine Todte beklagt hatte, – Frau von Langendorf war immer stumpfsinniger geworden und empfand den Verlust der Tochter kaum mehr, – traf wieder ein Brief von Magdalenen ein, wunderlich, verworren und immer auf die flehentliche Bitte zurückkommend, wir möchten verhindern, daß die ‚Tigerin‘ in der Kommandantenstraße ausgestellt würde.

Ich verstand den Wunsch nicht und ging nach der Ausstellung.

An demselben Platz, Herr, wo einst meine süße Magdalene als Ophelia traurig und rührend schön aus dem Rahmen geblickt hatte, stand nun ein Bild, für das mein Anstandsgefühl keine Worte findet, das selbst von unsern krassesten Realisten trotz der technischen Vollendung, mit der es gemacht war, beanstandet wurde: ein schönes, schwarzhaariges, dunkeläugiges Weib, frech, mit höhnischem Lächeln, schien es mir, auf mich sehend; bezeichnet war es als ‚die Tigerin‘ von Werner Lemberg.

Ich hatte keine Zeit, über den zweifellosen Zusammenhang zwischen diesem abscheulichen Bilde und meiner Magdalene zu grübeln, denn Frau von Langendorf erkrankte gefährlich. Ich meldete es Magdalene sofort an die von ihr angegebene Adresse nach Venedig, mußte aber gleich darauf der Aermsten telegraphisch mittheilen, daß ihre Mutter schnell gestorben sei. Sie konnte dann zur Beerdigung noch da sein.

Und sie kam. Aber in welchem Zustande! Welk, grau, hohläugig und wie eine Träumende. Sie that, als ob sie von einem Ausgange heimkehrte, begrüßte mich zärtlich, fragte kurz nach der Mutter, küßte gleichgültig deren kalte Stirn und verlangte zu schlafen.

Und sie schlief immerzu. Ich mußte die Mutter allein zur letzten Ruhe begleiten, – sie schlief und sprach im Schlaf. Und es war Schreckliches, was sie in ihren Traumworten offenbarte. Der Schurke mußte sie Entsetzliches haben leiden lassen, – die schlimmste Rolle spielte jene ‚Tigerin‘ in Magdalenens Phantasien – er hat sie eben wie eine Frau behandelt, der man keine Achtung und keine Rücksicht schuldet, was im Grunde ja auch nicht unverdient war. Aber daß er es that, hat mein armes Kind um den Rest des Verstandes gebracht.

Die Aerzte schüttelten den Kopf, hofften aber, daß durch verlängerten Schlaf Körper und Geist ins Gleichgewicht kommen würden.

Darüber traf ein Brief von Lemberg an Magdalene ein, den ich öffnete. Er war ein Meisterstück an Leichtfertigkeit und Verlogenheit und seinen Hauptinhalt bildete der Wunsch, Magdalene möchte nicht wiederkommen, – er müßte frei sein und könnte sie nicht brauchen. Er hätte nichts Nennenswerthes geschaffen, seit sie sein Weib wäre, und er müßte nun vorwärts, aber ohne sie, die sie eine Fessel auf dem Wege des Ruhmes für ihn wäre …

Das arme Kind hat den Brief nicht gelesen. Eines Tages erwachte sie mit dem lieblichen unschuldigen Lächeln ihrer Mädchentage. Als sie mich sah, nickte sie mir zu und fragte:

‚Bist Du auch da? Es ist ein seltsamer Traum und eine sehr lange Nacht, ich bin sehr verwundert, daß ich nichts mehr von Werner träume.‘

Und so ist es geblieben. Sie hat die Wahnvorstellung, daß alles um sie ein Traum sei, – aber sie werde bald aufwachen, der geliebte Mann werde sie erwecken, und sie werden zusammen über das viele dumme Zeug lachen, das ihr im Traum eingefallen ist.

Sie nimmt alles gleichmüthig hin. Sie ist sanft wie ein Kind, hat ihre kleinen Freuden und Liebhabereien wie in der Mädchenzeit, nur kein Interesse an der Außenwelt und an geistigen Dingen. Träten Sie heute unversehens bei ihr ein, so würde sie sich nicht wundern, sie würde nur sagen: ‚Sind Sie auch da? – wie sonderbar, daß ich auch von Ihnen träume!‘

Körperlich hat sie ihre volle zauberhafte Schönheit wieder erhalten, ihr armer Geist aber ist in der Irre und niemals wird er sich wiederfinden, – die einzige Möglichkeit wäre zugleich ein schreckliches Erwachen, während sie jetzt im Traum wenigstens nicht leidet. Sie ist unheilbar krank, aber sie ist lieblich dabei wie die unglückselige Ophelia, die sie einst auf jenem verhängnißvollen Bilde verkörperte.“

Konrad fühlte es warm in sich aufsteigen. Wieder sah er sie auf dem Gemälde vor sich in ihrer berückenden Schönheit mit dem irren, traurigen Lächeln, blumengeschmückt und in den Bach starrend, in den sie ihre Gewinde geworfen. Es war ein überwältigendes Bild gewesen und jetzt, da es sich als eine so grausam richtige Prophezeiung erwiesen hatte, doppelt packend in der Erinnerung.

„Es ist ein wunderliches Schicksal,“ sagte er traurig sinnend. „Aber sie ist bei alledem nicht unglücklich. Ein Philosoph möchte sie vielleicht sogar glücklich preisen, denn schließlich: was ist das ganze Leben anders als ein Träumen?“

Miß Sikes erwiderte nichts darauf, und auch Konrad versank in ein bewegtes Sinnen, in dem die Gegenwart keine Rolle spielte. Bang und eigenthümlich erregt war ihm zu Muth. Es war ihm, als ob er selbst in einen wunderlichen Traum gerathen wäre, und erschrocken riß er plötzlich die Augen weit auf und blickte um sich. Er hätte sich nicht gewundert, wenn er in seiner Berliner Wohnung erwacht wäre.

Aber es blieb alles, wie es war. – Da saß die alte Engländerin, in ihrem Aeußern fast wie früher, nur um einen Schatten grauer und härter in den Zügen, – und da – er fuhr entsetzt zusammen, – dieses eigenthümlich wohllautende Lachen, das da eben aus dem Nebenzimmer drang.

„Hat Lemberg denn nie mehr etwas von sich hören lassen?“ fragte er endlich, um sich aus seinem wachen Traum zu rütteln.

„Ohne Aufforderung nicht,“ erzählte Miß Sikes. „Als aber Magdalenens Krankheit zu Tage trat, machte ich ihm Mittheilung davon. Darauf schickte er etwas Geld und bat mich, die Pflege weiter zu übernehmen. Ich mußte das Geld behalten, denn meine kleinen Ersparnisse waren durch die lange Krankheit von Magdalenens Mutter aufgezehrt, und ich konnte nur wenig dazu erwerben.

Dann hofften die Aerzte viel von einem plötzlichen Wiedersehen mit Lemberg. Ich schrieb ihm das. Er antwortete, er könnte nicht kommen, er wäre schon halb auf dem Wege nach Afrika, wohin er mit einer Expedition zu gehen beabsichtigte.

Dazu schickte er wieder eine größere Summe, – und ließ nichts mehr von sich hören.

Und Magdalene verzehrte sich in ihren Traumphantasien nach ihm. Sie wollte alles ertragen, sie wollte die Frauen, die er ihr vorzog, selbst die ‚Tigerin‘, bei sich sehen und freundlich gegen sie sein, nur sollte er kommen und sie nicht so lange allein lassen. Ich bin überzeugt, sie wäre gesund geworden, wenn er gekommen wäre. – Ja, Herr, ich glaube, auch heute noch, – erschiene er plötzlich vor ihr, es wäre wirklich so, wie sie sich einbildet: ihr Geist erwachte und alles Erlebte erschiene ihr wie ein böser Traum. Aber er wird nicht mehr kommen; es ist nichts von ihm zu hören gewesen in all den Jahren. Ich habe alle Kataloge der größeren Kunstausstellungen, auf denen er sonst vertreten war, durchgesehen jahraus, jahrein, aber ich habe seinen Namen nicht gefunden. Vielleicht ist er auf jener Expedition zu Grunde gegangen, vielleicht auch an seinem zügellosen Leben. Ich rechne ihn zu den Todten.“

„Wie hat er eine Frau wie Magdalene verlassen können!“ brach es plötzlich aus Konrad mit einem Feuer, dessen er sich selbst nicht bewußt war, „ein so schönes, liebreizendes Weib, und so echt, so groß in ihrer Liebe!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 528. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_528.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)