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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

„Sie hat ihn eben zu sehr geliebt, und das hat er nicht vertragen können,“ sagte Miß Sikes. „Viele Männer sollen diese häßliche Eigenschaft haben.“

Das klang so lehrhaft, Konrad hätte lachen mögen, ein nervöses gereiztes Lachen. Aber er bezwang sich.

„Noch eine offene Frage, Miß Sikes,“ sagte er, „die Sie dem alten Freunde nicht übel deuten mögen. Ist es Ihnen in pekuniärer Hinsicht nicht schwer geworden, Magdalene, die ja ganz ohne Mittel ist, bei sich zu behalten?“

Die alte Miß erröthete.

„Anfangs oft,“ sagte sie dann nach kurzem Bedenken. „Ich mußte Berlin verlassen, der vielen Bekannten wegen, die an Magdalenens Geschick Antheil nahmen oder Neugier dafür zeigten. Ich ging hierher und hatte anfangs oft schwere Sorgen. Aber allmählich bin ich bekannt geworden, man sucht jetzt meinen Unterricht und ich verdiene so viel, daß ich meinem Kinde ein behagliches Nestchen habe herrichten können und imstande bin, ihr armes Leben nach Kräften zu verschönen.“

Konrad drückte ihr gerührt die Hand.

„Ich bewundere Sie aufrichtig, Miß Sikes, und wenn Sie einmal einen Freund brauchen sollten, sei es in welcher Hinsicht auch, – ich würde zu Ihrer Verfügung stehen.“

Miß Sikes sah ihn mit sprechendem Blick an, als ob sie etwas sagen wollte, aber die Worte versagten ihr und sie wendete sich ab. Konrad stand auf.

„Bleiben Sie denn hier und wie kommen Sie eigentlich hierher, wenn ich mir die Frage erlauben darf?“ sagte sie da. „Ihr Erscheinen hier ist so wunderbar, so unerwartet.“

Da war Konrad mit einem Schlage ganz und gar in die Gegenwart versetzt, – aber seltsam, es war ein peinliches, unklares Gefühl, das in ihm aufkam.

Er erröthete auch und sprach von Familienangelegenheiten, die ihn noch einige Tage hier aufhalten würden, während deren er jedenfalls noch bei ihr vorsprechen würde.

„O richtig, Sie sind mit den Heins verwandt, es war ja Gertrud Hein, mit der ich Sie zusammen auf der Straße sah, als Sie –“

„Ich war unhöflich und bitte nachträglich um Entschuldigung,“ sagte Konrad hastig. „Aber Ihr ‚shocking‘ war die Veranlassung, daß ich Sie heute aufsuchte.“

Damit verabschiedete er sich herzlich, aber mit einem zögernden Blick auf die dunkle, geschlossene Thür, hinter der Magdalene den seltsamen Traum träumte, von dem sie erst mit dem Tode erwachen sollte.

Und noch auf der Straße glaubte er sie vor sich zu sehen, wie sie in dem flüchtigen Augenblick seines Eintritts dagestanden hatte, schöner als je in ihrer üppigen Entfaltung mit den goldschimmernden Haaren und den großen räthselhaften Augen.

Darüber entging ihm die schlanke Gestalt auf der gegenüberliegenden Seite des Trottoirs, die bei seinem Anblick zögernd stehen blieb und mit verwunderten, ein wenig traurigen Blicken sein träumerisches Gesicht musterte. Es war Gertrud Hein, die er vorübergehen ließ, ohne ihrer Nähe gewahr zu werden, – während sie mit pochendem Herzen so lange auf seine Anrede wartete, bis er ihren Blicken entschwunden war. – – – – – – – – – – – – – – – – –

Gertrud hatte die schwersten Stunden ihres jungen, bisher so glücklichen Lebens durchlebt. Sie begriff den gütigen Vater nicht, sie wußte nicht, was sie von dem Geliebten denken sollte, der ihr mit der finstern, hochmüthigen Miene fremd war. Der Vater suchte sie zu beruhigen, aber da er es ohne Gründe, nur mit Zärtlichkeiten und der Bitte, ihm zu vertrauen, that, wurde sie immer unruhiger, ein peinliches, drückendes Gefühl verdrängte alle Hoffnungsfreudigkeit und die bräutlichen Glücksgefühle in ihr.

Am nächsten Morgen wollte der Vater wieder verreisen – da hatte sie mit den kleinen Reisevorbereitungen zu thun – aber die Nacht ging schlaflos für sie hin, wohl die erste derartige in ihrem Leben.

Erst als der Vater ihr beim Abschied sagte, er wolle ihre Zukunft ordnen, und er hoffe, eine glückliche, kleine Braut zu segnen, wenn er in einigen Tagen wiederkomme – sie solle nicht fürchten, daß er sie von dem Auserwählten zu trennen beabsichtige, dazu sei sie zu selbständig in ihrem Empfinden und Handeln – aber er selbst müsse in allem klar sehen, bevor er sein Kind an das Schicksal ausliefere, – erst da kam etwas Ruhe, das alte Vertrauen zum Vater und die Gewißheit von des Geliebten unangreifbarer Würde über sie. Ihre Augen wurden wieder klar, und das alte sonnige Lächeln erschien in dem lieblichen Gesicht.

Und nun war der Vater fort, Tante Karoline kam aus ihrem Stift erst am Nachmittag zu ihr; da blieb ihr noch manche Stunde zum Träumen und Denken an den nahen und doch fernen Liebsten.

Aber sie sehnte sich nach Aussprache und sie hatte niemand, mit dem sie über ihn sprechen konnte. Nicht über ihre Liebe, nein, die war ihr zu heilig, aber über ihn, seine hervorragende Person, seine – ja, da fiel es ihr ein: Miß Sikes kannte ihn ja, Miß Sikes, der sie längst einen Besuch hätte machen sollen. Im Grunde war es unartig, daß sie es noch länger aufschieben wollte, sie mußte der alten strengen Dame auch ein entschuldigendes Wort über ihr auffallendes Benehmen von der Straße sagen, und ohne sich klar zu machen, daß sie das ja nicht könne, ohne ihr Geheimniß preiszugeben, nur im Drange, den Namen des Geliebten von einem andern nennen, ihn loben zu hören – denn daß er gelobt würde, das war ja selbstverständlich! – kleidete sie sich an und ging den wohlbekannten Weg hinunter.

Mit ihrem scharfen Auge sah sie schon in größerer Entfernung Konrad aus dem Hause treten. Also auch er hatte die alte Lehrerin aufgesucht, vielleicht in derselben Absicht wie sie. Ob er sie nun ansprechen würde – natürlich, nun mußte er sie ja sehen! Aber er sah sie nicht, und als sie sich ihm bemerkbar machen wollte, fiel ihr der träumerisch versunkene Ausdruck seines Gesichts, die feine Röthe, die dasselbe überzog, auf, und es erfüllte sie auch mit freudigem Stolz, wie stattlich und vornehm er daherkam.

Und dann war er vorüber, und sie staunte, daß er ihre Nähe nicht geahnt hatte; sie empfand eine leise Enttäuschung.

„Aber er dachte ja an mich,“ sagte sie sich dann froh, „wie will ich ihn heute nachmittag mit seiner Versunkenheit necken!“

Und leichtfüßig eilte sie die beiden Treppen hinauf, die zu der Wohnung ihrer alten Lehrerin führten.

Die Flurthüre stand weit geöffnet, das Dienstmädchen war nicht da, sie anzumelden, und so klopfte denn Gertrud an die Thür des Zimmers, an dem sie oft in leiser Scheu vor der gestrengen Lehrerin gesessen hatte. Und während sie auf das „Herein“ Miß Sikes’ wartete, fühlte sie eine Anwandlung von Reue über ihr Kommen, gerade wie Konrad Herrendörfer vorhin. – Doch sollte sie nun umkehren?

In ihrem Sinnen hatte sie wohl die Aufforderung, einzutreten, überhört. Mechanisch öffnete sie die Thür, aber das Zimmer, in welches sie trat, war leer. Sollte sie sich an der andern Thür bemerkbar machen? Sie that es und öffnete auf das „Herein“ einer weichen Frauenstimme.

Entzückt und starr vor Staunen blieb sie an der Thür des reizenden Gemachs, das einen so starken Gegensatz zu dem düstern Lehrzimmer bildete, stehen und voller Entzücken sah sie die wunderschöne Frau an, die ihr klassisch schönes und dabei unsagbar liebliches Gesicht ihr voll zugewendet hatte und sie mit einem fragenden Blick musterte.

Das war also die Nichte der Miß Sikes, die so wunderlich zurückgezogen lebte! Gertrud hatte von ihr gehört, aber eine ältere Frau dabei in Gedanken gehabt – und nun diese märchenhaft schöne Erscheinung, inmitten eines blumendurchdufteten, luxuriösen Raumes, wie Gertrud ihn ähnlich nie gesehen hatte.

„Verzeihung,“ sagte sie endlich leise, „ich suchte Miß Sikes.“

Die schöne Frau gab keine Antwort, aber sie nahm Gertruds Hand und zog sie zu einem kleinen Sessel neben sich.

„Kommen Sie doch,“ sagte sie weich und mit eigenartiger Betonung, „ich habe Sie ja noch nie gesehen. Waren Sie schon öfters hier?“

Gertrud erzählte ihr von ihren Stunden, die sie bis zum vergangenen Frühjahr von Miß Sikes erhalten und die sie auch im Winter fortgesetzt hätte – wenn – ein glückliches Lächeln trat in ihr Gesicht, sie brach ab und sprach ihre Verwunderung aus, daß sie die Dame früher nie gesehen hätte.

„Auch ich habe noch nie von Ihnen geträumt,“ sagte Magdalene Lemberg, „und es geschieht selten, daß fremde Gestalten vor mir auftauchen. Aber es ist eine angenehme Unterbrechung, und Sie sehen lieb aus. Wie heißen Sie denn?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 530. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_530.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)