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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

trat er zurück und Peider stand nun allein vor dem Halbkreise. Er hatte seine modischen Kleider angelegt, sogar sein zierlicher Unglücksdegen fehlte nicht, doch seine Miene war keineswegs festfreudig. Eine fahle Blässe bedeckte sein Gesicht und die Zähne biß er aufeinander, seine gewaltige innere Aufregung zu bekämpfen. Was er sah, der verhängnißvolle Strick, die tiefernsten Mienen seiner Richter – die Augen der zahlreichen Menge rings umher, die nur auf ihn gerichtet waren – dies alles konnte nicht anders, als ihm, trotz aller heimlichen Zuversicht auf einen glücklichen Ausgang des hochnothpeinlichen Verfahrens, eine tödliche Angst einflößen. Auch in den Zügen Madulanis vermochte er nichts zu entdecken, was ihn hätte ermuthigen oder an den zukünftigen Schwiegervater erinnern können; es waren nur die des strengen unerbittlichen Richters.

Das Gericht begann. Mit den ersten Worten des Ammanns hörte das unheimliche Läuten der Glocke auf – um erst nach einer etwaigen Verurtheilung wieder zu beginnen.

„Peider,“ hub Madulani mit tiefernster, weithin hörbarer Stimme und unter einer Stille, daß man jeden Hauch hätte vernehmen können, zu reden an. „Wessen Ihr hier vor den geschworenen Männern, vor der ganzen versammelten Pfarrgemeinde angeklagt seid, das wisset Ihr – wie wir alle es wissen: einer Blutschuld, die nur durch den Tod vermittelst des Stranges gesühnt werden kann. Saget, was Ihr zu Eurer Vertheidigung vorbringen könnt.“

Aller Augen wandten sich jetzt auf den Franzosen-Peider, der eine Gewaltanstrengung machte, seine gewohnte Keckheit herauszukehren. Allein es glückte ihm nicht sogleich, er fühlte einen bösen Druck in der Kehle, der nicht weichen wollte und ihm die Stimme verschlug. Stoßweise im Anfang, dann allmählich zusammenhängender und sicherer sagte er:

„Was ich zu meiner – Vertheidigung vorbringen kann – das sollt Ihr hören! Ihr, die geschworenen Leute – und alle, die hier versammelt sind. – Eure Tochter, Ammann Gian Madulani, habe ich unter den Arven des Crestalta – geküßt! Der Beppo hat mir dies widerrechtlich und mit Gewalt gewehrt; er hat mich überfallen, niedergeworfen, mißhandelt – und ich habe meinen Degen gebraucht, mich zu vertheidigen und ihn zu züchtigen, zugleich die Schmach und Schande, welche meiner Person, meiner Ehre – angethan worden war, zu rächen, wie dies unter Leuten, die den Degen tragen dürfen, Gebrauch und Recht ist. Und ich darf meinen Degen tragen, der mir von einem Prinzen königlichen Geblütes, dem Grafen von Provence, verliehen worden ist. Dies meine erste Rechtfertigung, und nun hört die andere!“ – Er war bereits wieder der alte, kecke Franzosen-Peider geworden, und mit funkelnden Augen blickte er der Reihe nach seine Richter, die geschworenen Männer an, dann flüchtig in die Menge hinein. Nun fuhr er stolz und siegesgewiß fort: „Hätte der Beppo ein Recht gehabt, mir den Kuß, den ich der Aninia gab, zu wehren, so könnte mich wohl die Schuld, deren Ihr mich zeiht, theilweise treffen. Doch der freche Bergamasker hatte kein Recht dazu, wohl aber hatte ich ein vollgültiges Recht, das Mädchen zu küssen, denn seit dem Morgen jenes verhängnißvollen Sonntags – war die Aninia – mit Wissen und Willen ihres Vaters, Gian Madulani – meine mir verlobte Braut! Nun sprecht Euer Urtheil – überliefert mich dem Strang – wenn Ihr es dürft!“

Wenn jetzt ein Stück vom Piz Surley niedergestürzt wäre, es hätte keine größere Ueberraschung und Aufregung hervorbringen können, als diese Erklärung, die niemand in der ganzen Menge für möglich gehalten hätte. Und dem Madulani, seinem Richter, hatte der Franzosen-Peider sie ins Gesicht gesagt, somit konnte sie nicht anders als buchstäblich wahr sein. Die allgemeine Aufregung machte sich, gegen alle Gewohnheit bei ähnlichen Verhandlungen, in Rufen des Erstaunens Luft, und selbst unter den ernsten Geschworenen gab sich eine heftige Bewegung kund. Als die Ruhe wieder einigermaßen hergestellt war, erhob sich der älteste der geschworenen Leute, der von Islas oder Isola, der kleinsten zur Pfarrgemeinde gehörenden Ortschaft, ein ehrwürdiger Greis mit schneeweißem Bart und Haupthaar. Auf seinen Stab gestützt, schaute er dem Ammann lange und scharf in das Antlitz, das während der ganzen Rede des Peiders nicht mit einer Miene gezuckt, auch jetzt nichts von seinem ernsten Ausdruck verloren hatte, dann sprach er:

„Ammann Gian Madulani, ist das die Wahrheit, was der Angeklagte soeben zu seiner Vertheidigung geredet hat?“

Da wurden die Züge des Ammanns lebendig; hochauf reckte er seine mächtige Gestalt und während alle förmlich an seinem Munde hingen, beantwortete er die schwerwiegende Frage laut und fest: „Ja! der Angeklagte hat die volle Wahrheit gesagt; er war in seinem Recht, als er mein Kind küßte, denn am – selben Morgen hatte ich, Gian Madulani, ihm auf seine Werbung um Aninia – mein Jawort gegeben.“

Nun war unter den Anwesenden kein Zurückhalten mehr möglich; alle Bande der althergebrachten Ordnung schienen gesprengt, denn allerwärts wurden laute Rufe der Verwunderung hörbar. Die Freunde des Franzosen-Peiders – und es waren ihrer viele zur Stelle! – riefen sogar aus Leibeskräften, die Filzhüte und Mützen schwenkend, ein über das andere Mal: „Hoch, der Franzosen-Peider! – Der Peider hoch!“

Da schwenkte der Ammann mit drohendem Unwillen seinen Stab und mit einer Stimme, die das Tönegebraus ringsum beherrschte, rief er dreimal: „Ruhe – Ruhe, im Namen der Richter! – Ruhe! – Und wer dem Ruf nicht Folge leistet, verfällt der Klage und der Buße. Der Mann von Islas will weiter reden.“

Sofort stellte sich die Ruhe wieder ein, und der weißbärtige Alte, der sich nach seiner Frage nicht niedergesetzt hatte, fuhr mit ernst zürnendem Blick auf den Ammann also zu reden fort:

„Ammann Gian Madulani, ich frage Euch weiter: Warum habt Ihr solches Bekenntniß den geschworenen Leuten der Pfarrgemeinde nicht vor der Verhandlung kundgegeben? Ihr mußtet doch wissen, daß ein solcher Umstand die Schuld des Angeklagten hinfällig machen würde. Im Namen meiner Landgenossen begehre ich auch darüber Auskunft.“

„Die soll Euch und der ganzen Pfarrgemeinde werden,“ entgegnete der Ammann sofort und wiederum mit lauter, weithin tönender Stimme, mehr zu der Menge, als zu den Geschworenen redend. „Ich wäre ein schlechter, ungerechter Richter, hätte ich das gethan, Euer freies Urtheil durch ein solches Bekenntniß beeinflussen wollen. Ihr sollt entscheiden, ob den Angeklagten eine Schuld trifft für seine Handlung, wenngleich er sie beging als mein erklärter Eidam. Hat er unrecht gehandelt, so sage ich mich von ihm los und hebe das Verlöbniß auf, und gerichtet soll er werden wie jeder andere Mann. Und so frage ich Euch, Landgenossen und erwählte Geschworene unserer Pfarrgemeinde, auf Pflicht und Eid, so wahr Euch Gott helfe, im Angesicht des Himmels und von Grund und Grath: Ist der Peider von Sils-Baseglia, nach den Euch jetzt bekannten Umständen, schuldig der geziehenen Blutthat, oder war er in seinem Recht und kann er frei seiner Wege gehen? Antwortet! – Der Reihe nach!“ –

Da erhob sich der Mann von Sils-Baseglia und sprach laut, mühsam seine Freude unterdrückend:

„Auf Pflicht und Eid, so wahr mir Gott helfe, im Angesicht des Himmels und von Grund und Grath, der Angeklagte Peider ist der Blutthat nicht schuldig; er war in seinem Recht und kann frei seiner Wege gehen.“

Ihm folgte, sich erhebend, mit gleicher Rede der von Sils-Maria.

Der Mann von Silvaplana blickte seinen Nachbar einen Augenblick fragend an, dann sprach er, sich ebenfalls erhebend, mit kräftiger Stimme die schwerwiegende Formel seinem Vorgänger nach.

Nun standen drei der geschworenen Leute, auf ihre Stäbe gestützt, mit ebenso vielen Stimmen für den Freispruch des Peiders neben dem Ammann. Da wandte dieser sich an den Alten von Islas, der sich noch immer nicht niedergesetzt hatte, mit der kurzen Frage:

„Und Ihr, geschworener Mann von Islas?“

„Der Mann von Islas kommt zuletzt,“ erwiderte dieser ruhig, „an dem Manne von Surley ist die Reihe zu urtheilen.“

„Nun denn,“ hob der Ammann mit voller, fester Stimme zu reden an, „so sage ich, Gian Madulani, der Cavig, und als geschworener Mann von Surley: Auf Pflicht und Eid, so wahr mir Gott helfe, im Angesicht des Himmels und von Grund und Grath, der Peider von Sils-Baseglia ist der geziehenen Blutthat nicht schuldig; er war in seinem Recht und kann frei seiner Wege gehen.“

Da reckte der alte Weißbart von Islas sich höher an seinem Stabe empor; dem Ammann fest ins Antlitz schauend, die Rechte zum Himmel erhoben, sprach er mit der tiefernsten Stimme eines zürnenden Richters:

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 534. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_534.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)