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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Schatten.

Novelle von C. Lauckner.
(Fortsetzung.)


Konrad Herrendörfer saß unterdessen in seinem einigermaßen behaglichen Zimmer, rauchte, philosophirte und ließ in seinen Gedanken Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft durcheinander gehen. Heute erfüllte ihn das „shocking“, das die vergangene Zeit in die neue gerufen, durchaus nicht mit den schwermuthsvollen Träumereien, die ihm gestern noch das Herz so schwer gemacht hatten. Es war, als ob er mit seinem Bekenntniß an Gertrud alle Wärme, alles innere Empfinden in Bezug darauf verausgabt hätte. Er begriff es selbst nicht mehr, warum er eigentlich Miß Sikes aufgesucht hatte, wie es möglich gewesen war, daß sein Herz so stürmisch schlagen konnte bei dem Anblick der einst Geliebten, warum ein so bitteres Haßgefühl in ihm erwacht war, als er gehört hatte, daß der falsche Freund hier in seiner Nähe sei.

Es war ja ein wunderliches Zusammentreffen, – für unglaublich würde er es früher gehalten haben, – das gerade jetzt alle Personen zusammenführte, die vor Jahren ein Stückchen Tragödie aufgeführt hatten, aber was kümmerte ihn jetzt im Grunde noch die verschollene Geschichte!

Von dem Standpunkt einer gerechten Vorsehung aus war er ja sogar gerächt. Sie, die sein Leben für Jahre vergiftet hatte, eine Unglückliche, doppelt Leidende, – und er, der einst ein zweiter Rubens werden sollte, ein reisender Schnellmaler, nicht besser als ein Seiltänzer oder Taschenspieler, nein, geringer als solche, denn die meinten es ernst mit ihrer Kunst, während er die seine herabgewürdigt hatte.

Die Befriedigung, die weniger vornehme Naturen bei einer solchen „Vergeltung“ vielleicht empfunden hätten, blieb ihm indessen fremd. Gleichgültig war ihm in diesem Augenblick das Schicksal des einst so bitter gehaßten Gegners, das tragische Vergehen Magdalenens, in ihm war vor der Hand nichts als ein stürmisches Sehnen nach den zornsprühenden, thränenfunkelnden Augen Gertruds, ein ungestümer Wunsch, sie für sich zu haben, fern von hier, in einer anderen Umgebung, für sich ganz allein.

Ihren Zorn, ihre Eifersucht wollte er bald verscheucht haben, – wie glücklich hatte sie ihn dadurch gemacht! Noch wenige Tage nur, und der Vater kehrte zurück mit dem „guten Zeugniß“ für ihn, – auch darüber lächelte er jetzt, und dann begann endlich, endlich die goldene Zeit des Lebens, die eines unendlichen Glücks für ihn und das liebe Mädchen.

Und so malte er sich schöne, glücksvolle Zukunftsbilder, während Gertrud an ewige Trennung dachte.

Das Klopfen des Kellners unterbrach ihn.

Wenig erbaut empfing er ein kleines Billet, – eine dringende Bitte von Miß Sikes, sie sofort aufzusuchen, sie hätte überaus Wichtiges mit ihm zu besprechen und bäte um seinen Rath.

„So ist also von der alten Geschichte nicht loszukommen,“ dachte er unwillig. „Vermuthlich hat sie von der Anwesenheit des Schuftes gehört und verliert nun den Kopf. Aber was kann ich dabei thun?“

Trotz seines Widerstrebens gab er dem Kellner doch eine zusagende Antwort und machte sich zum Fortgehen bereit.

„Diese alte Engländerin verfolgt mich geradezu,“ dachte er dabei mürrisch. „Wie viel Unannehmlichkeiten hat sie mir nicht schon gebracht, Unglück kann ich sagen, und das scheint sich ja fortzusetzen. Wenn sie nicht eine so anständige alte Person wäre, wer weiß, was ich jetzt thäte.“

Freilich hätte er nie etwas anderes gethan, als mit Rath und That da beistehen, wo man ihn darum anging, – aber auch nie, ohne sich gewissermaßen vor sich selbst zu entschuldigen, wie er es jetzt mit allen möglichen Gründen that.

Darüber langte er bei der Wohnung Miß Sikes’ an und zog nun doch einigermaßen gespannt die Glocke.

Miß Sikes saß allein in ihrem finstern Zimmer mit einem gramvoll vertieften Zug um den Mund. „O Mr. Herrendörfer,“ rief sie, ihm beide Hände entgegenstreckend, „wie gütig, daß Sie kommen, welch eine Fügung überhaupt, daß Sie jetzt gerade hier sein müssen! Es ist ein Glück für mich, daß Sie mich aufgesucht haben. Ich brauche Ihren Rath, ich wäre verlassen ohne Sie, – ach, wenn Sie mir beistehen wollten –“

„Aber gewiß, meine liebe Miß Sikes,“ versicherte Konrad, sich zu ihr setzend. „Sagen Sie mir nur, um was es sich handelt.“

Sie holte einen Brief aus ihrem Schreibtisch und legte ihn vor Konrad hin.

Jahre waren vergangen, seit er diese elegante, kräftige Handschrift nicht gesehen hatte, aber er erkannte sie auf den ersten Blick. Sie hatte nicht mehr ganz den alten Schwung, die Buchstaben gingen unsicher durcheinander.

Konrad berührte das Schreiben nicht. „Bitte, theilen Sie mir mit, inwiefern ich Ihnen dienen kann,“ sagte er zurückhaltend.

„Sie erkennen, von wem der Brief kommt, und mögen ihn nicht in die Hand nehmen,“ sagte Miß Sikes traurig. „Ich sehe es ein, es ist unendlich viel, was ich von Ihnen verlange; aber ich bin so rathlos und ich weiß, es ist eine Fügung des Himmels, der Sie mir geschickt hat.“

„Ich will Ihnen gern dienen, Miß Sikes, aber eine unmittelbare Berührung mit dem Mann da müßte ausgeschlossen sein.“

Miß Sikes nickte. Sie suchte sich zu sammeln, um genau und doch kurz zu berichten. Ihr Gesicht zuckte vor Erregung und sie überhörte den leisen Gesang, der gedämpft aus dem Nebenzimmer klang und der Konrads Sinne erzittern ließ:

„Es vergeht kein Stund’ in der Nacht,
Da mein Herze nicht erwacht.“

Eine gebrochene, leise, tonlose Stimme, aber süß wie Vogelgezwitscher, – das war der so vielbewunderte, herrliche Gesang von Magdalene Langendorf. Wie die Blumen im Nebenzimmer duften mußten! Bis hierher drang der starke, süße Geruch, der sich mit dem klanglosen Gesang zugleich in Konrads Sinne schmeichelte und ihn in einen traumhaften Zustand versetzte, aus dem ihn erst die harte, thränenerstickte Stimme der alten Engländerin aufschreckte.

„Um es kurz zu sagen,“ begann sie, „er ist hier. Während Ihres Besuches heute hat man seinen Brief abgegeben. In dem ersten Schreck eilte ich damit gleich hinter Ihnen her, um es Ihnen sofort zu sagen; aber ich muß wohl nach der entgegengesetzten Seite gegangen sein, denn ich konnte Sie nicht finden. Er scheint seit einigen Tagen hier zu sein, – ich bin ganz verwirrt durch die Nachricht, ich habe ihn ja todt geglaubt.“

„Er ist als reisender Konzertmaler hierher gekommen,“ fügte Konrad verächtlich ein.

„Sie wissen also von seinem Hiersein?“ fragte die Engländerin erstaunt.

„Seit einer Stunde,“ sagte Konrad etwas ungeduldig. „Aber was will er von Ihnen und woher weiß er, daß Sie hier leben?“

„Er schreibt nicht wie ein Gentleman,“ sagte Miß Sikes; „er hat meine Adresse mit Hilfe polizeilicher Nachforschungen in Berlin erfahren und ist ebenso unterrichtet über Magdalenens Aufenthalt bei mir. Er wünscht jetzt, anderer günstiger Aussichten wegen, von ihr, die ihn vor Jahren verlassen hat, endlich auch gerichtlich geschieden zu werden. Zu einer Entschädigung, schreibt er, sei er nicht verpflichtet, da sie von ihm gegangen sei. Er wende sich an mich, da er mit seiner früheren Gattin in beiderseitigem Interesse nicht mehr als durchaus nothwendig unmittelbar verhandeln wolle . . . Was soll ich nun thun? Das arme Geschöpf aus seinem Traume erwecken, – und ich bin überzeugt, daß sie zum Bewußtsein kommt, wenn sie ihn sieht, aber sehen muß sie ihn doch wohl bei solchen Verhandlungen – oder würde eine Angabe ihres Zustandes genügen, um sie davor zu bewahren und doch eine gerichtliche Scheidung herbeizuführen?“

„Das ist eine sehr verwickelte Sache,“ sagte Konrad aufstehend; „um für unheilbar erklärt zu werden, müßte sie von sachverständiger Seite längere Zeit beobachtet werden.“

„Das wäre gleichbedeutend mit gänzlicher Vernichtung für mein armes Kind,“ sagte Miß Sikes niedergedrückt. „Sie ist jetzt das friedfertigste, liebste Geschöpf, bei ärztlicher Behandlung fängt sie zu toben an. Ich habe das alles schon erlebt vor Jahren, – und ich würde mich nie wieder dazu entschließen, sie in eine Anstalt zu geben. Ich habe wie gesagt auch die Ueberzeugung, daß sie gesund werden könnte, wenn sie ihren Mann wiedersähe . . .“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 558. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_558.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)