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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Das Siebente deutsche Turnfest in München.

Von Prof. Dr. C. Euler. Mit Zeichnungen von Fritz Bergen.

Massen-Freiübungen.

Siebzig Jahre sind es her, da wurde das eben erst im Entstehen begriffene deutsche Turnen wieder gewaltsam vernichtet; seinem Begründer Friedrich Ludwig Jahn wurde der Prozeß gemacht, weil er die „höchst gefährliche Lehre von der Einheit Deutschlands“ aufgebracht. Siebzig Jahre! Und welche Wandlungen auch in Bezug auf das Turnen! Bereits 1844, zwei Jahre nachdem Friedrich Wilhelms IV. Königswort es wieder neu belebt hatte, durfte Jahn die allbekannten Worte äußern: „Das Turnen, aus kleiner Quelle entsprungen, wallt jetzt als freudiger Strom durch Deutschlands Gauen. Es wird künftig ein verbindender See werden, ein gewaltiges Meer, das schirmend die heilige Grenzmark des Vaterlandes umwogt.“ – Jahn soll einmal geäußert haben, er sei fünfzig Jahre zu früh geboren worden, d. h. seine Anschauungen über das zu einigende deutsche Vaterland seien um fünfzig Jahre verfrüht gewesen; was hätte er, fünfzig Jahre jünger, alles noch erlebt, er, dem die Liebe zu seinem Vaterland eine „Brautliebe“ gewesen und für sein Leben geblieben ist!

Eine stolze, aber berechtigte Freude ist es für die Turner, zumal die älteren, welche die zweite schwere Krisis des deutschen Turnens vor fünfzig Jahren noch erlebt, sie überwinden geholfen und seitdem gekämpft, gearbeitet und gerungen haben, das Turnen immer mehr zu einem Gemeingut des deutschen Volkes zu machen – zu sehen, wie dieses Turnen mehr und mehr feste Wurzeln faßt und in gesundester Entwickelung wächst und gedeiht.

Jedes Jahr bekundet einen Fortschritt. Der Verband der deutschen Turnerschaft umfaßt nach neuester Schätzung mit den Zöglingen gegen 400 000 Turner in 3843 Vereinen!

Wie es jetzt um das deutsche Turnen steht, das hat das Münchener Fest wieder in erfreulicher Weise gezeigt. Es ist aber nicht allein das, was geleistet wurde in turnerischem Können und Vermögen, nicht allein die begeisterte Theilnahme der Gesammtbevölkerung einer großen Stadt, es ist auch die Stellung, welche das Herrscherhaus zu demselben genommen hat, die dem Fest seine große Bedeutung verleiht. Der Herrscher des Landes war Protektor, der Sohn, der künftige Regent, Ehrenpräsident des Festes, die Prinzen, die Prinzessinnen bis zu den jüngsten hinab waren eifrigste Zuschauer und Zuschauerinnen der turnerischen Uebungen, welche sie zum großen Theil selbst einst gepflegt haben, bezw. noch pflegen

Es ist das siebente derartige Fest, an welchem Alldeutschland theilgenommen hat. Das letzte fand 1885 in Dresden statt; auch damals hat ihm die Gunst des Landesherrn nicht gefehlt, und der greise Kaiser ließ den ihm zugesandten telegraphischen Gruß dankend mit dem Wunsche erwidern, „daß die deutsche Turnkunst als eine bildende Pflanzstätte für die Wehrhaftigkeit der Nation in ihrer Entwickelung auch ferner kräftig fortschreiten möge.“ Schon in Dresden wurde München als nächster Festort neben Nürnberg in Aussicht genommen. Die endgültige Wahl fiel auf erstere Stadt; die Münchener Turnerschaft gab selbst dazu Anregung.

Als Festtage wurden die Tage vom 28. bis 31. Juli bestimmt. Es wurden die allgemeinen Freiübungen festgesetzt; der technische Unterausschuß der deutschen Turnerschaft stellte die Pflichtübungen für das Wettturnen an den Geräthen: Reck, Barren und Pferd auf; die Kampfrichter, 134 an der Zahl, wurden gewählt. – Durch alle Turnvereine ging ein gewaltiges Regen und Sichbewegen. Möglichst viele wollten sich am Feste betheiligen; und wer sich seiner turnerischen Leistungsfähigkeit bewußt war, der gedachte auch in den Wettkampf einzutreten und um den Siegespreis zu ringen. Leicht war es nicht gemacht; die vorgeschriebenen Uebungen gehörten zu den schwierigsten, welche eine allseitig ausgebildete Körperkraft und Gewandtheit voraussetzten; eine besondere „Kürübung“ mußte sich jeder aussinnen. Das Stabspringen mußte tüchtig gepflegt werden; das Steinstoßen beanspruchte gewaltige Spannkraft der Muskeln und im Wettlauf mußte in kürzester Frist das höchste an Schnelligkeit erreicht werden. An den allgemeinen Freiübungen sollten und wollten sich möglichst viele betheiligen; auch sie wurden eifrigst geübt.

Als Festplatz wurde die Theresienwiese mit dem Koloß der Bavaria und der Ruhmeshalle im Hintergrunde gewählt. Dann ergingen Aufrufe an die Vereinigungen der deutschen Turnerschaft zu zahlreichem Besuche des Festes, auch die Turner des Auslandes wurden aufs herzlichste eingeladen. Die gesammte Einwohnerschaft Münchens wurde um die Mitwirkung zum würdigen Gelingen des Festes gebeten, durch Zeichnung zu dem Garantiefonds, besonders aber durch die Gewährung von Freiquartieren. Die Meldungen zum Feste gingen ein, immer zahlreicher kamen sie, die Zahl der Angemeldeten stieg in die Tausende; schließlich konnte festgestellt werden, daß etwa 20 000 Turner zu den Festtagen in München eintreffen würden. Dank dem Entgegenkommen aller, auch der Behörden, gelang es, alle unterzubringen. In 26 Schulhäusern wurden über 10 000 Turner einquartiert und mit allem Nothwendigsten versehen. Die Wettturner, deren über 800 angemeldet waren, erhielten möglichst Einzelquartiere, um

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 573. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_573.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)