Seite:Die Gartenlaube (1889) 576.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Die Frau, die den kleinen Garten betritt, sieht triumphirend nach oben und eilt dann vorwärts nach dem Teichrand, der durch einen schmalen Holzzaun vom Garten getrennt ist. An einer Stelle ist der Zaun unterbrochen. Man tritt da auf einen Steg, an dem im Sommer ein Boot angekettet liegt. Eine alte, verkrüppelte Weide, deren Wurzeln schon im Wasser hängen, ragt mit einigen Aesten darüber.

Da steht nun die blonde Frau wie schon oft, oft zuvor, greift in die überhängenden Aeste und starrt brütend in das Wasser.

Eben erhebt sich ein neuer Stoß des Windes. Magdalene sieht auf. Ihr ist, als müßte dieser Sturm sie an etwas erinnern. Hat er nicht ein ungeheures, nicht auszudenkendes Leid zu ihr gebracht? Erzählt er ihr die alte Geschichte von ihrer Liebe, – erinnert er sie an den schönen Traum von kurzem Glück, den bösen von langem Leid? Flattern in ihrer armen, kranken Seele ein paar irre Gedanken zu dem Verrath, durch den sie ihre kurze Liebesseligkeit erkaufte? Etwas von allem erwacht in ihrem Sinnen, wie sie auf dem Steg steht, die Weide umklammernd und halb unbewußt den tausend Stimmen lauschend, die um sie ertönen.

Der Wind reißt an dem Tuch, das sie über ihr leichtes Morgenkleid genommen hat, und verwirrt ihr Haar, das in starken, goldschimmernden Flechten über den Rücken hängt. Eben peitscht er eine lange Strähne über ihr Gesicht. Was war das? Stroh? Waren es die Blumengewinde, die auf dem Bilde damals ihr Haar geschmückt?

Wie ein elektrischer Schlag durchzuckt es ihren Körper.

Sie weiß es jetzt, was sie von dem warmen Lager fortgetrieben hat, neben dem ihre treue Hüterin erschöpft in tiefem Schlaf ruht, – und hierher, gerade hierher.

Ophelia . . . das ist’s! Sie muß die Weide rauschen, das Wasser murmeln hören . . . sie ist ja jene Unglückselige, und alles andere ein Traum, der nun zu Ende geht.

Magdalene? Werner? Ein irres Lächeln huscht über ihre Züge. Er ist ja doch da gewesen, – er hat sie geküßt, und dann hat er sie Ophelia genannt und ist davon gegangen. – Ein gebrochener Schmerzenslaut entringt sich ihren Lippen, aber gleich darauf muß sie lachen.

Ein welkes Blatt schlägt in ihr Gesicht und springt dann hinunter ins Wasser. Und da noch eins, und da wieder eins, und da tanzen sie auf den grauen Wellchen und treiben weiter hinein. Sie muß immer mehr lachen, zuletzt ist es ein unheimliches, gellendes Schreien, das sich mit dem Sausen des Windes vermischt. Dazu stürzen Thränen aus ihren Augen, Wahngebilde mischen sich mit dem, was sie sieht, und mit leisen Anklängen aus der Wirklichkeit.

Das graue Tuch flattert von ihren Schultern, sprühender Nebel um sie her, – die Bäume vom jenseitigen Ufer strecken ihre halbkahlen Arme nach ihr herüber und die welken Blätter wirbeln durch die Luft.

Eine plötzliche Angst faßt sie; das Heulen des Windes verstärkt sich in ihren Ohren zu einem Toben, aus dem drohende, unverständliche, wirbelnde Geräusche sie umbrausen. Sie schwellen an wie ein gewaltiger Orgelklang, der näher und näher auf sie zukommt … „Ophelia, Ophelia“ rauscht es um sie …

Sie umklammert den Weidenast, sie tritt vorwärts – der Ast bricht – sie stürzt in das Wasser …

Einen Augenblick halten ihre Kleider sie noch oben, dann, mit Wasser getränkt, ziehen sie sie hinab. – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Und so endete der Traum des schönen Weibes, das nur für ihre einzige, große Leidenschaft gelebt hatte.

Das Bild, das einst den ersten Schritt in ihr Unglück vorbereitet hatte, war eine düstere Prophezeiung für sie geworden, – gleich wahr für ihr Leben wie für ihr Sterben.

Wie auf dem berühmt gewordenen Gemälde spielten die gelben Blätter auf dem Wasser, die Weide hing ihre entlaubten Aeste hinein, und trüb und grau lag der Herbsthimmel auf dem Ganzen.

Die Stelle aber, wo die liebreizende Ophelia noch vor Minuten gestanden, mit leerem ängstlichen Blick in unbekannte Weiten starrend, – war leer. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Gertrud war spät erwacht. Nun stand sie traurig am geöffneten Fenster, ließ sich von der linden Luft die brennenden Augen kühlen und dachte an ihn, der allein ihrem Leben Inhalt geben konnte.

Die gestrige Aufregung war verflogen, nur noch in leisen Nachklängen zitterte sie durch die bewegte Seele.

Es war ihr klar geworden, daß sie keinem Jüngling ihr Herz gegeben hatte, daß Konrad Erfahrungen im Leben gemacht haben mußte, an denen sie kein Theil haben konnte. Aber was ihr gestern, verstärkt durch den Eindruck, den sie durch die schöne Frau empfangen hatte, unüberwindlich für ihren Stolz erschienen war, das sah sie heute in einem andern Lichte.

Wie konnte sie erwarten, die erste, die einzige Liebe eines Mannes wie Konrad zu sein, – wie hatte sie nur den Muth finden können, das vor ihm auszusprechen!

Sie schämte sich jetzt ihres leidenschaftlichen Ausbruches, und ein furchtbarer Schreck faßte sie, wenn sie dachte, daß er ihre trennenden Worte für Ernst hätte nehmen können.

Nein, nein, sie wollte zufrieden sein mit dem, was er ihr gab. Vielleicht, wenn sie ganz und für immer bei ihm wäre, würde sie sich langsam erringen, was ihre feurige erste Liebe von ihm erwartet hatte. Wenn er nur erst wieder da wäre! Aber was würde sie ihm sagen? Und in welcher Stimmung würde er ihre Worte entgegennehmen? Weiß Gott, was Miß Sikes gestern noch von ihm gewollt hatte! Ernstes mußte es gewesen sein. Ob es mit der Anwesenheit des verrätherischen Freundes zusammenhing? Ob Konrad noch bekümmert war? O, sie wollte ihn zu trösten versuchen, – sein Leid war ja ihr Leid! Wenn nur die kranke Frau nicht so wunderschön gewesen wäre! Sie mußte dieselbe sich wieder vorstellen, und wenn sie sich dachte, daß er diese Lippen geküßt, diese goldenen Haare gestreichelt, in diese leuchtenden Augen voll sehnender Liebe geblickt habe, dann stiegen ihr von neuem brennende Thränen auf, und sie sagte sich muthlos: „Es ist alles vergebens, – er wird sie nie vergessen!“

Darüber kam Tante Lina, der Gertrud noch gestern abend eine vollkommene Beichte abgelegt hatte.

Sie war seltsam erregt; mit gespannten Blicken schaute sie auf Gertrud und setzte mehrmals zu einer Rede an, die doch nicht über die Lippen wollte. – Gertrud bemerkte es. Sie lächelte traurig und küßte die liebe alte Freundin, die sich sicherlich schwere Gedanken um ihretwillen machte, die nach Trostworten für sie suchte und sie nicht finden zu können schien.

„Beunruhige Dich nicht um mich, liebe Tante,“ sagte sie. „Ich bin schon wieder ganz vernünftig. Ich war sehr thöricht gestern und vergaß ganz, wie lieb ich ihn habe. Wenn Konrad mich will, so wie ich bin, – ich werde mir rechte Mühe geben, weniger anspruchsvoll zu sein, und . . .“ nun wollten die Thränen doch schon wieder kommen.

Tante Karoline strich über ihr blondes Haar.

„Das ist recht!“ sagte sie. „Die echte Liebe darf auch nicht fragen, ob sie in derselben Münze wieder erhält, was sie hergiebt. Aber das ist es nicht, was mich bekümmert, – ich habe Dir etwas Erschütterndes mitzutheilen und weiß nicht, wie Du es auffassen wirst.“

„Um Gotteswillen, – Konrad!“ rief Gertrud mit versagender Stimme.

„Die schöne Irrsinnige ist plötzlich gestorben!“ sagte Tante Lina nun ohne Umschweife.

Gertrud sah sie mit weitgeöffneten Augen an.

„Ophelia?“ fragte sie mechanisch.

Die alte Dame nickte.

„Ich habe mich bisher um die Nachbarschaft der alten englischen Lehrerin nicht gekümmert,“ sagte sie, „außer daß ich mich auf Deinen Besuch freute, wenn Du aus der Stunde kamst. Heute aber wurde unser ganzes Stift durch die Nachricht alarmirt, welche von den Hausleuten zu uns getragen wurde. Ich nahm natürlich nach Deiner gestrigen Erzählung noch besonderen Antheil daran.“

„Erzähle!“ bat Gertrud, noch wie erstarrt. „Ist es gestern abend gewesen?“

„Gestern abend soll sie heftig erkrankt sein. Miß Sikes und das Mädchen haben bei ihr gewacht, bis sie selbst eingeschlafen ist, und sind dann gegen morgen beruhigt zu Bett gegangen. Als sie erwacht sind, ist die Kranke verschwunden gewesen und man hat sie, kurz gesagt, nicht lange danach in dem Schloßteich, an den das Gärtchen des Hauses stößt, aufgefunden.“

„Mein Gott, davon phantasirte sie gestern,“ brach es von Gertruds Lippen. „Ich verstand sie nicht, sie sprach von Ophelia, – o, wie war sie lieblich . . . Ach Tante . . . “ Ihre Erregung

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 576. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_576.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)