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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

findet die Erfrorenen, aber es ist fast unmöglich, auf den unwegsamen Straßen den Arzt herbeizuholen. Wie belebt man die starren Scheintodten wieder? Unfälle aller Art ereignen sich tagtäglich; in dem Kampfe ums Dasein verunglücken so viele. Wie rettet man die Verblutenden von sicherem Tode, wie lindert man die Qualen der Verbrannten, wie hilft man dem Arbeiter, der, vom Hitzschlag getroffen, zusammenbricht – ja wie hilft man in allen diesen und unzähligen anderen Fällen, ohne zu schaden, bis der Arzt kommt? Man bedenke! es sind nicht immer nur Fremde, die von einem solchen Unfall betroffen werden; das Leben kann uns in die Lage bringen, daß wir der eigenen Mutter, der eigenen Frau, dem eigenen Kinde die erste Hilfe in der Noth bringen müssen – und wie viele Tausende sind bereits in dieser Lage gewesen und haben nicht gewußt, wie sie helfen, wie sie retten sollten!

Wie es in jedem Dorfe eine Schule giebt, in der die Kinder lesen und schreiben lernen, so sollte es auch wahrlich überall eine Samariterschule geben, in der jedermann einen Schatz des Wissens und Könnens erwirbt, der ihn wappnet gegen die Unfälle, die sein Leben und seine Gesundheit bedrohen. Das läßt sich nicht mit einemmal erreichen. Aber einen Ersatz dafür giebt es.

Es liegt vor uns das mit rothem Kreuz geschmückte Büchlein „Die erste Hilfe bei plötzlichen Unglücksfällen. Ein Leitfaden für Samariterschulen“ von Dr. Friedrich v. Esmarch (Leipzig, Verlag von F. C. W. Vogel); es ist keine „Novität“, denn es liegt bereits in der achten Auflage vor. Aber diese neueste achte Auflage ist zum erstenmal mit 90 Abbildungen versehen, ähnlich denen, die wir in diesem Artikel gebracht haben. Dadurch ist das vortreffliche Buch zu einem ausgezeichneten Lehrmittel geworden. Was es enthält, das ist für jedermann wichtig, das sollte Gemeingut des ganzen Volkes werden. Wir empfehlen es als ein Familienbuch, das dort, wo es an Samariterschulen fehlt, Nutzen stiften wird. Dieser „Leitfaden“ ist so weltberühmt, daß er eigentlich unserer Empfehlung nicht bedarf, er ist ja in sechzehn lebende Sprachen übersetzt worden … aber das Gute kann man nicht oft genug in Erinnerung bringen!




Gold-Aninia.

Eine Erzählung aus dem Engadin. Von Ernst Pasqué.
(Fortsetzung.)
11. Eine Schreckensnacht.

Das Wasser! – Das Wasser! – Hilfe, das Wasser!“ So rief und schrie es in schreckerfüllten, verzweifelten Tönen durch die Nacht, anfangs von einzelnen Punkten, bald aber von allen Ecken und Enden im Dorfe. Dazwischen erklangen die langgezogenen dumpfen Hornrufe des Wächters, der sich bemühte, die etwa noch Schlafenden aus ihrer gefährlichen Ruhe aufzuscheuchen – nun tönte auch das ängstliche Läuten der kleinen Glocke drein. Und all dies Rufen und Schreien, Blasen und Läuten beherrschte, übertäubte ein rasender Sturmwind, der brausend und zischend, in unheimlich steigenden und fallenden Tönen vom Piz Corvatsch gerade gegen das Dorf daherfegte, begleitet von einem in Strömen niederprasselnden Regen. Sein einförmiges, grelles Platschen auf die Erde, auf die Dächer der Wohnstätten klang wie rohe, grausame Geißelhiebe und vervollständigte im Verein mit dem unaufhörlichen, wilden Rauschen der von den Hängen des Piz Surley niederstürzenden Wasserfluthen das entsetzliche Konzert dieser Schreckensnacht. Keine Viertelstunde hatte es so gedauert – da gesellten sich neue, unheimliche, noch Entsetzlicheres kündende Töne hinzu: hoch oben in der Fuorcla begann es seltsam zu knattern, bald hell, mit metallischem Klang, bald mit einem tiefen, scharfen Donnern, zuerst in Pausen, dann immer rascher – unaufhaltsamer und dabei stets näher und näher dem unglückseligen Dorfe. – „Herrgott! Die Felsblöcke der Fuorcla kommen herab und über uns! – Wir sind verloren – verloren!“ – So schrieen diejenigen, welche bis jetzt noch nicht dieser grausen Sündfluth hatten entfliehen können.

Doch es waren ihrer nur noch wenige. Sobald die ersten Schreckens- und Mahnrufe laut geworden, waren die Leute von Surley aus ihren Betten emporgefahren; sie kannten die Gewalt des Surleywassers nur zu gut, hatten schon mehrfach in gleicher Frühlingszeit durch seine zerstörende Wildheit leiden müssen, doch so schrecklich, wie es sich in dieser Nacht ankündigte, war es noch nie erlebt worden. Kaum die nöthigen Kleider auf dem Leibe, eilten Männer und Weiber, groß und klein nach den Ställen, das Vieh hinaus und über die Brücke nach Silvaplana oder nach dem Crestalta zu treiben. Andere schleppten ihre besten Habseligkeiten nach dem Hügel hin, sie dort auf den ersten Hängen in Sicherheit zu bringen. Wieder andere schienen den Kopf verloren zu haben oder zu viel an Hab und Gut zu besitzen, denn sie wußten nicht, wo und was sie angreifen, womit sie das Rettungswerk beginnen sollten.

Zu diesen letzteren gehörte auffallenderweise der Cavig Madulani. Er, sonst ein so heller Kopf, dabei thatkräftig und stets sofort das Richtige ergreifend, stand beim ersten Nahen des Unheils da fast wie ein hilfloses Kind. Von seinem Lager war er emporgefahren, hatte sich in die Kleider geworfen und war dann nach dem Ausgang seines Hauses gestürzt, das bereits die Wasser in schlammigen Wellen umflutheten, um wohl schon in wenigen Augenblicken durch die breite Thüröffnung in das Innere einzudringen. Wie betäubt, geistesabwesend stand er da; denn das, was er sah, erlebte, vermochte er nicht zu fassen. Um sein Gehöft, das in der Nähe des Baches lag, vor Ueberschwemmungen so viel als möglich zu schützen, hatte er schon vor vielen Jahren das Ufer auf seiner Seite mit einer Schutzwehr von mehreren Fuß Höhe bis weit hinauf den Bergen zu versehen lassen. Und jetzt, kaum bei Beginn des hereinbrechenden Unheils, fluthete das wilde Wasser bereits über diese Schutzwehr weg auf sein Haus zu – nur noch wenige Augenblicke, und das schwache Mauerwerk mußte bersten, hinweggeschwemmt werden. Wie war das möglich geworden, wie hatte sich eine solche ungeheure Wassermasse, wie sie jetzt das Dorf überströmte, hoch oben in der Fuorcla ansammeln können? Madulani begriff es nicht und wurde dadurch zum Handeln unfähig. Er befand sich allein im Hause, ein Knecht und eine Magd hatten ihre Schlafstellen in den Stadeln über dem Viehstalle. Ihr Schreien schien er im ersten Augenblick nicht zu hören, ebenso wenig wie das ängstliche Blöken seines Viehes, das außer dem baren Gelde in der Truhe sein größter Reichthum war. Da geschah plötzlich zweierlei, das ihn mit rauher Gewalt aus seiner Betäubung aufweckte und an die Wirklichkeit mahnte.

Hoch oben in der Fuorcla begann das Knattern der durch die Gewalt der Wasser von der Erde losgelösten und wider einander prallenden Felsblöcke, die, wie Madulani jetzt erkannte, auf dem Wege der Fluthen auch seine Wohnstätte bedrohen mußten. Zugleich erblickte er in einiger Entfernung eine ihm nur zu gut bekannte Gestalt in zottiger Bärenfelljacke, die sich keuchend und stöhnend durch das Wasser durcharbeitete, welches ihr bereits bis über die Kniee reichte. Und der Fluth entgegen strebte sie, dorthin, wo, der Bergwand so nahe, ein altes, halbzerbröckeltes Steinhaus stand, in dem – „Herrgott!“ stieg es nun auch in ihm auf, „mein Weib – Aninia mit ihrem Kinde! – Sie sind verloren! – verloren!“

Eine wilde Verzweiflung erfaßte ihn, denn grell leuchtete das Bewußtsein in ihm auf, daß er Weib und Kind nicht wiedersehen würde – niemals! Schon wollte er dem Beppo nacheilen, der längst in der Ferne im Dunkel der Nacht verschwunden war, doch das Wasser umfluthete ihn bereits in Kniehöhe – es war zu spät – zu spät zur Reue, – zu spät zur Rettung!

Der Knecht und die Magd hatten bereits gehandelt, trotz der Todesangst, die sie erfüllte. Ohne eine Weisung des geistesabwesenden Cavigs abzuwarten, trieben sie das Vieh groß und klein aus den Ställen, das, einmal im Freien, aus eigenem Antrieb der gewitterten Gefahr entfliehen wollte. Doch auch dazu war es schon zu spät geworden, denn mit furchtbarer Raschheit schwoll das Wasser an. Es war, als ob in der That die Fluthen es vor

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 624. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_624.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)