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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

10.

Als Felicita aus ihrer Betäubung erwachte, lag sie in ihrem Stübchen auf dem Ruhebett ausgestreckt. Durch die geschlossenen Läden flammten die Blitze; der Donner rollte ohne Unterlaß; schwere Schläge fielen, dröhnend wie gewaltig gehämmerte Accorde, und auf diesen mächtigen Baß wob das Pfeifen des Windes, das Prasseln des Hagels, das Aechzen der im Sturm gepeitschten Bäume unheimlich abgerissene Orkanmelodien.

Felicita richtete sich empor. Sie suchte ihre Gedanken, ihre Erinnerungen zu sammeln. Wirr flogen ihre Blicke in der Finsterniß umher. Da erhellte ein Blitz das Gemach; zu Füßen des Bettes stand Eckart! – und plötzlich war es auch hell geworden in ihrem Geiste. Sie sprang auf, und ihren innersten Gefühlen sich in kindlicher Unbefangenheit hingebend, ergriff sie ihres Retters Hände und führte sie in leidenschaftlicher Bewegung an ihre Lippen.

„Du!“ rief sie, – und das den Südländern geläufige Wort entglitt ihrer Zunge, ohne daß sie ihm selber eine besondere Bedeutung beilegte, – „Du hast mich dem Tode entrissen und hast Dein eigenes Leben für mich aufs Spiel gesetzt! Möge die heilige Jungfrau Dir’s vergelten!“

Ein Feuer durchströmte Eckart, als er das schöne, heißgeliebte Mädchen also sprechen hörte, als er den Druck ihrer weichen Hand, den Kuß ihrer warmen Lippen fühlte; und, ihre Hände seinerseits erfassend und an seine Lippen führend, antwortete er:

„Vergilt Du mir’s, Felicita! nur Du! Du allein! Seit langen Tagen suche ich Dich. Alle Wege, alle Gärten durchstreifte ich, nur um Dich wiederzusehen, – denn ich weiß, daß Du mich liebst, wie ich Dich liebe, – und die Blume, die Du mir reichtest, noch trage ich sie auf meinem Herzen, – und wem Du die Blume gabst, dem nahmst Du sein Herz – dem gabst Du das Deine.“

Das Mädchen zuckte in jähem Schrecke zusammen, und mit einem Male wurde sich Felicita der Gefahr, in welcher sie sich befand, bewußt; – sie hatte sich während der vergangenen Tage so oft und so viel mit dem Abwesenden beschäftigt, so oft hatte sie in Gedanken mit ihm gesprochen, so oft im Geiste seiner Stimme gelauscht, daß das vertrauliche „Du“ wie der natürliche Ausdruck ihres Fühlens, wie die ihrem Denken einzig angemessene Sprechweise ihrer Zunge entquollen war. Als ihr aber das „Du“ aus Eckarts Munde und in so leidenschaftlichem Tone antwortete, da überfiel sie plötzlich die volle Erkenntniß ihrer Lage, – hier, in dem verlassenen Hause, – von der Außenwelt durch den Orkan abgeschnitten, – allein mit dem fremden Offizier, der ihre Hände in den seinigen hielt und mit feurigen Küssen bedeckte!

„Laßt mich! laßt mich!“ rief sie, sich mit Gewalt loswindend und in eine Ecke des Zimmers flüchtend. „Wo ist Nina?“

Bestürzt ob der jähen Wandlung, die sich in dem Zittern ihrer Stimme, in dem Ungestüm, mit dem sie sich von ihm losriß, kundgab, richtete sich Eckart empor. Auf sie zutretend, sagte er:

„Was fürchtest Du, Felicita? Was geschieht Dir? Wir sind allein …“

„Allein! O himmlische Jungfrau! Wo ist Nina geblieben?“

„Nina? Ich sah sie nicht. War sie mit Dir in der Kirche? – So ist sie dort zurückgeblieben, in sicherem Schutze. Aber,“ setzte er, sich im Zimmer umschauend, hinzu, „wo sind wir hier? Die Thür stand offen; ich brachte Dich hierher. Wem gehört dies Haus? Wo sind dessen Bewohner?“

„In meines Vaters Hause sind wir … Ach, mein Vater! mein armer Vater!“

Sie bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen, heiße Thränen quollen aus ihren Augen. In dem flackernden Lichte der unaufhörlich aufleuchtenden Blitze sah Eckart das Mädchen gegen die Wand sinken. Seinen Arm um ihre Hüfte schlingend, versuchte er die Weinende aufzurichten. Sie wollte nicht; sie wehrte ihn von sich ab; ihre Hände zitterten; Leichenblässe bedeckte ihr Antlitz.

„Nein! nein! laßt mich! berührt mich nicht! laßt mich los!“

Jetzt erst begriff Eckart, was in des Mädchens Seele vorgegangen war und weshalb es vorhin so plötzlich und mit so sonderbarer Angst vor ihm in die Ecke geflohen war. Er trat einen Schritt zurück, und mit fester, ruhiger Stimme sprach er:

„Felicita, Du fürchtest Dich vor mir? Für wen hältst Du mich? Welchen Grund habe ich Dir gegeben, mich für einen Elenden anzusehen, der den schrecklichen Zufall, der uns in dieser Einsamkeit zusammenführte, zu einer schnöden That zu mißbrauchen gedächte? Ich liebe Dich, Felicita! Ja, aus vollem, tiefem Herzen liebe ich Dich! Ich suche Dich seit langen Tagen, – nicht wie ein Mädchenräuber aber wollte ich einbrechen in Dein Haus, – und leid thut es mir, daß Dein Vater nicht hier ist. Wo ist Dein Vater, Felicita? Sage mir seinen und Deinen Namen, daß ich morgen wiederkehre! Denn jetzt, da Du in Sicherheit bist, Felicita, – jetzt darf und will ich länger hier nicht verweilen!“

Den Blick unverwandt auf ihn gerichtet, hatte Felicita mit tiefer freudiger Rührung seiner Rede gelauscht, und unter der überwältigenden Macht ihrer Liebe hatte sich bei seinen Worten ihre Angst in die frühere hingebende Zuversicht und in das vollste Vertrauen zu dem Geliebten umgewandelt. Thränen füllten ihre Augen, und mit rascher Bewegung die Hand ihm hinreichend, sagte sie:

„Habe …“ doch rasch sich verbessernd: „Habet Dank!“

Er ergriff ihre Hand und hielt sie fest in der seinigen.

„Als Du noch keinem Zweifel in Deinem Herzen Raum gabst, da sprach aus Deinem Munde das ‚Du‘ zu Deinem Freunde.“

Sie senke den Blick, erhob ihn wieder und flüsterte dann, leise, leise:

„So … habe Dank!“

Eine kurze Stille herrschte in dem Gemach, – eine Stille aber, erfüllt von dem Toben des draußen wüthenden Sturmes; von drunten her rauschte ein dumpfes Brausen wie von dem Sturze eines mächtigen Wasserfalles.

Die vorhergegangenen Worte des Offiziers kamen ihr plötzlich wieder in den Sinn.

„Fort willst Du?“ rief sie, den Gang ihrer Gedanken unterbrechend, und sie zog den Offizier zu dem Fenster, und zwischen den Einschnitten der Läden durch schauten sie nieder ins Thal. Ein furchtbarer Anblick bot sich ihren Augen dar. In dem gelben Zwielicht des sich neigenden Tages sahen sie den Bergstrom wild schäumend herunter schießen; ungeheure, haushohe Wellen kamen in ununterbrochenem Schwalle mit schauerlichem Getöse, Bäume und Felsblöcke mit sich wälzend, heruntergeschossen; an der Felsenecke, um welche sich Eckart mit ihr geschwungen hatte und welche schroff emporsteigend das Haus und die hinauf führende Hohlgasse vor dem tobenden Gewässer schirmte, sprühte der brandende gelbe Gischt hoch in die Luft. Das Zucken der Blitze warf jäh aufflackerndes Feuer auf das schauerliche Bild.

„Fort willst Du?“ wiederholte mit leiserer Stimme das Mädchen, als erschrecke es selbst vor dem Gedanken, daß jetzt dem jungen Manne der Weg aus dem Hause versperrt sei.

Eckart antwortete nicht.

Ein schwerer Kampf wogte in seinem Innern. Jede Rückkehr zu der Stadt war ihm abgeschnitten, und doch – im diesem Hause durfte er, wollte er, konnte er nicht bleiben – und vor sich selber, vor seiner Liebe, vor der in seinem Herzen immer mächtiger wachsenden Leidenschaft wollte und mußte er das heißgeliebte Mädchen schützen.

„Wie lange pflegen diese Orkane zu dauern? fragte er endlich.

Ein Zittern klang durch ihre Stimme, als sie antwortete:

„Vor morgen früh ist die Straße nicht gangbar.“

Da erwachte auch plötzlich wieder die Erinnerung an ihren Vater, an die Gefahr, in welcher er vielleicht gerade im selben Augenblicke dort oben auf dem Bergkamm schwebte. Ueber der Angst um den geliebten Vater vergaß sie ihre eigene Angst; tief aufschluchzend lehnte sie den Kopf an Eckarts Brust.

„O Gott! Der Vater! Wo ist jetzt mein Vater?“

Eckart schloß den Arm um das weinende Mädchen.

„War Dein Vater heute in der Stadt?“

„Ach! wäre er dort gewesen, mir bangte nicht um ihn. Nein, auf den Bergen ist er und von drüben, von Milazzo sollte er heute oder morgen zurückkehren.“

„Wie heißt Dein Vater?“

Felicita zuckte zusammen. Diese Frage durfte sie ja nicht beantworten. Diesen Namen – ihren Namen durfte er ja nicht kennen.

Es schien ihr, als öffnete sich ein Abgrund unter ihren Füßen.

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 634. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_634.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)