Seite:Die Gartenlaube (1889) 642.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Ecke bei der Feuerstelle kauerte, wendete sie sich hin und fragte besorgt: „Nun, Beppo, folgst Du uns nicht?“

„Ich wag’ es nicht – ich darf es nicht!“ tönte es ihr aus der Ecke mit dumpfem Ton entgegen.

Da trat Aninia auf Beppo zu, rüttelte ihn am Arm, als ob sie ihn aus einem bösen Traume wecken wollte, und mit ängstlicher Hast fragte sie:

„Du wagst es nicht, mit mir zu meinem unglücklichen Vater zu gehen? – Du darfst es nicht? Was hast Du denn gethan – daß Du nicht darfst?“

Ich habe ihn zum Bettler gemacht,“ schrie Beppo, sich vor ihr niederwerfend, in wilder Verzweiflung, „ich habe die Wasser hoch oben in der Fuorcla angestaut, daß sie beim ersten Regen die Felsblöcke herunter schwemmen mußten! – Schlage mich, Aninia, tritt mich mit Füßen – ich bin ein Verbrecher und ewig verdammt.“

Mit todtenbleichem Gesicht wich Aninia vor ihm zurück, der auf den Knieen ihr Gewand zu erhaschen suchte.

„Du?!“ kam es endlich von ihren zitternden Lippen, „Du hast das gethan, Beppo? Bist Du denn wahnsinnig?“

„Ich that es für Dich, für unser Kind,“ murmelte er scheu, „ich dachte – wenn Dein Vater ein Bettler wäre – dann müßte er Dir vergeben, er hat es ja geschworen!“

„Ruchloser, entsetzlicher Mensch!“ schrie Aninia auf. „Meinen Vater unglücklich und elend zu machen – um mich – um unser Kind!“ Sie schlug die Hände vors Gesicht und weinte vor bitterer Verzweiflung, während Beppo in tiefster Zerknirschung sich vor ihr am Boden wand und kein Wort der Entgegnung wagte. Das gewohnte Bewußtsein, daß sie für zwei denken müsse, ließ endlich Aninia wieder Fassung gewinnen.

„Du sagtest recht vorhin,“ fuhr sie mit einem tiefen Seufzer fort. „Zu meinem Vater darfst Du nicht – er kann Dir jetzt, nach dem, was Du gethan hast, nicht mehr vergeben – in dem Dorfe, das Du dem Unglück – dem Untergang geweiht hast, kannst Du nicht mehr bleiben. Du mußt fort!“

„Fort von Dir, Aninia?!“ schrie Beppo wild auf.

„Aber, Unglückseliger, hast Du denn keinen Augenblick bedacht, daß Dein Verbrechen uns trennt, daß ich jetzt bei meinen Eltern bleiben muß, um ihnen beizustehen, und daß Du Dich nicht mehr vor ihren Augen zeigen darfst? O Beppo!“ rief sie in neu ausbrechendem Schmerz, „was hast Du gethan! Da hast unser Glück vernichtet, auf immer und ewig!“

Sie warf sich abgewandt von ihm auf den kalten Herd nieder und verbarg das Gesicht zwischen den Händen.

„Verzeihe mir, Aninia!“ stöhnte Beppo, ihre Knie umfassend. „Ich wußte nicht, was ich that, ich hatte keine Ahnung, daß alles so kommen werde. Ich will ja wieder gutmachen, was ich kann!“ –

„Das kannst Du nimmermehr, denn das Unglück ist nicht ungeschehen zu machen. Du und ich, wir müssen tragen, was daraus entsteht, und wir müssen scheiden!“ So sprach nun Aninia, scheinbar gefaßt und tiefernst, dann reichte sie Beppo die Hand und fuhr weicher fort: „Bete zu Gott, daß er Dir Deine Schuld vergeben möge. Auch ich will Tag und Nacht für Dich beten und – in Liebe des Beppos gedenken, der brav und schuldlos war und den ich so von Herzen liebgehabt habe! Das ist alles, was ich für Dich thun kann! – Lebe wohl! – Laß mich!“ rief sie nun, als Beppo sie unter Bitten und Thränen zu halten suchte. „Laß mich! Mein Kind – mein Vater – sie rufen nach mir! Ich muß fort – dorthin, wo von nun an mein Platz ist! Sie riß sich mit Gewalt los und stürmte davon.

„Aninia! – Aninia!“ rief Beppo in herzzereißenden Tönen ihr nach; dann warf er sich vor der Feuerstelle zu Boden, und die glühend heiße Stirn auf die Steine des Herdes gepreßt, stöhnte er in verzweiflungsvollem Jammern: „Was hab’ ich gethan! – was hab’ ich gethan! – Weib und Kind hab’ ich verloren, – eine Sündenschuld auf mich geladen, für die es in diesem Leben keine Sühne mehr geben kann! – Aninia! – Aninia!“ schrie er nochmals auf, doch der Ruf erstickte in einem heftigen Schluchzen und Weinen. Dann blieb er in seiner zusammengebrochenen Stellung unbeweglich vor dem Feuerherde liegen – bis die Müdigkeit, die Erschöpfung von der furchtbaren Aufregung den Aermsten mitleidig in einen tiefen, todähnlichen Schlaf versenkten.


12. Am andern Morgen.

Mit dem neuen Tag hatte das Unwetter ausgetobt und die Wasser begannen sich zu verlaufen. Im kalten grauen Morgenlicht standen die Geretteten, die sich zur Nacht in die anderen Dörfer geflüchtet hatten, und betrachteten trostlos die furchtbare Zerstörung. Wo gestern noch ihre armen Hütten gestanden hatten, da war heute nur ein trümmerbedecktes Rinnsal voll Schlamm und Geröll. Wenige hochgelegene Wohnstätten waren erhalten geblieben, unter ihnen das Haus des langen Clo, der glücklich war, seine Mutter darin unterbringen und des Cavigs Familie mit ihrem todtkranken Haupte vereinigen zu können.

Freilich war es nun so überfüllt, daß Clo sich genöthigt sah, wieder mit seinem Weib Staschia in die enge und niedere Dachstube zu ziehen – die Hausherrenfreude des armen Burschen hatte nicht allzulange gedauert.

Madulani lag im Fieber, bald schüttelte ihn heftiger Frost, bald glühte sein schweißtriefendes Antlitz, und kein Arzt war auf Stunden weit zu haben! Die armen Frauen hatten bereits all ihr Wissen und Können erschöpft, doch nichts wollte fruchten: hier war ihre einfache Kunst zu Ende. Ebenso bei dem Kindchen, das stille in dem Schoße der wie geistesabwesend dasitzenden Mutter lag. Es lebte zwar noch immer, nahm noch einige Nahrung, aber die Athemzüge der kleinen Brust wurden immer schwächer.

„Wo nur der Beppo bleibt?“ flüsterte die Büssin unwillig Frau Barbla zu. „Er läßt uns allein in dieser Noth – allein bei seinem armem Kindchen und dem Kranken. Auch der Clo und die Staschia lassen sich nicht mehr sehen! – Wo sie nur stecken mögen?“ –

Frau Barbla blickte finster drein und ihre Lippen blieben fest geschlossen. Da sprach Aninia, die jetzt das Kindchen in ihrem Schoße wiegte, leise und zögernd: „Der Beppo wird im Dorfe sein – denjenigen zu helfen, die der Hilfe noch dringender bedürfen als wir, – die wir doch vor Wind und Wetter sicher sind.“

„Was sollte er auch hier?“ setzte Mutter Barbla in ihrer kurzen, rauhen Weise hinzu. „Er könnte nur unsere Noth vermehren – uns im Wege sein! Im Dorfe wird er sein – wie auch der Clo – dort ist jetzt sein Platz.“

Die Büssin schaute befremdet drein, so kurz und kalt hatten beide noch nie von Beppo gesprochen. Das war doch seltsam!

Clo befand sich in der That im Dorfe und hatte alle Hände voll zu thun, um den armen Surleyleuten, die vor Verzweiflung den Kopf verloren hatten, bei den Rettungsarbeiten beizustehen. Der brave Bursche regte unverdrossen die gewaltigen Glieder, bewältigte die schwersten Lasten und hatte nach Verlauf von mehreren Stunden schon viel gethan, um die Obdachlosen unterzubringen. Da sah er plötzlich einen Mönch die Straße herauf kommen, einen arzneikundigen frommen Bruder aus dem Kloster San Murrezan. Er eilte ihm mit lautem Freudenruf entgegen und zog ihn vor allen Dingen nach seinem Hause hin, damit er dort nach den beiden Kranken sehe.

Frau Barbla und die Büssin begrüßten den Mönch wie einen Retter aus höchster Noth, Aninia saß stumm und sah schmerzvoll auf das Kind nieder, das regungslos in ihrem Schoße lag.

Der Mönch fand den Zustand des Cavigs gar nicht schlimm. Augenblickliche Gefahr sei nicht vorhanden und die Herren von Chur würden gewiß bald einen richtigen Arzt schicken, der das Fieber erfolgreich zu bekämpfem, schlimme Zufälle zu verhüten wissen werde. Für jetzt reiche seine Arznei aus; dabei händigte er dieselbe den beiden Frauen mit der nöthigen Belehrung ein.

Nun trat er besorgt und mit sichtlicher Theilnahme zu der jungen Mutter mit ihrem Kinde, die er bisher nur flüchtig beobachtet hatte, auch hier seines menschenfreundlichen Amtes zu walten. Doch ein Blick sagte ihm, daß jede Hilfe vergebens – zu spät sei, denn das Kind war in der Mutter Schoß sanft eingeschlafen – für immer!

„Todt?“ schrie Mutter Barbla auf und stürzte auf Aninia zu, die stumm und unbeweglich blieb wie bisher. Sie wußte es schon lange, die Aermste, daß sie ihr armes, liebes Kindchen verloren hatte, das einzige, was sie an den Mann hätte fesseln müssen, den sie einst so sehr geliebt – den sie vielleicht noch immer liebte und dennoch nicht mehr Gatte nennen durfte.

„Todt?!“ murmelten die Büssin und Clo in einem Athem, und erstere setzte kaum hörbar hinzu: „Und der Beppo – der Beppo ist noch immer nicht hier?!“

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 642. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_642.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)