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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Die Magensonde.

Ein Kapitel für Magenkranke. Von Prof. Dr. Ed. Ott.

Bei einer Uebersicht über die Fortschritte, die in den verschiedenen Gebieten der Medizin und Chirurgie während der letzten Jahrzehnte gemacht wurden, finden wir die größten in denjenigen Disziplinen, bei denen die Naturwissenschaften und die hoch entwickelte Technik dienstbar gemacht wurden. Was jetzt die Kunst des Mechanikers an feineren Instrumenten und Apparaten leistet, übertrifft natürlich weit die Erzeugnisse der Zeit, in welcher Hammer und Ambos fast unumschränkt herrschten. Bücher mit sieben Siegeln waren früher für den untersuchenden Arzt Ohr und Kehlkopf; die Diagnosen glichen mehr Fabeln und philosophischen Problemen, ehe es gelang, diese tief gelegenen und dunklen Gänge und Höhlen zu beleuchten. Mit der Erfindung der Kehlkopf- etc. Spiegel ist es fast soweit gekommen, daß man nur noch glaubt und als erwiesen annimmt, was man sieht. Von dem Mikroskop als vollständigstem optischen Instrument will ich eigentlich schweigen; es ist zu bekannt. Aber mit Hilfe desselben gründete man unsere Kenntnisse in der Medizin auf die Befunde am Seciertische. So wichtig indeß auch für jeden Arzt die genaue Kenntniß der Aenderungen und Zerstörungen ist, welche jede einzelne Krankheit an den Organen des Körpers zur Folge hat, so genügt dies doch lange nicht, um erfolgreich am Krankenbett wirken zu können, denn der Seciertisch zeigt uns nur das Endergebniß in schweren oder unheilbaren Krankheitsfällen. Welche Funktionsstörung ein krankes Organ aufweist, das muß am Krankenbett studiert werden, und wenn anders die Krankheit als solche nicht heilbar ist, so muß doch soweit als möglich die Funktionsstörung ausgeglichen werden, wie es beispielsweise der Augenarzt thut, wenn er einen Kurzsichtigen vor sich hat. Die anatomische Veränderung des Auges der Kurzsichtigen kann der Arzt nicht heilen, aber er kann den Schaden durch ein zweckmäßiges Glas ausgleichen. Oft aber gelingt es auch dem Arzte, durch entsprechende Berücksichtigung der physiologischen Funktionsstörungen und nur durch diese, die Krankheit, zumal wenn sie noch nicht zu tief eingewurzelt ist, zu heilen.

Der Arzt begnügt sich darum heutzutage nicht mehr mit der Feststellung der sicht- und greifbaren Veränderungen der Organe, er muß in jedem Falle studieren, wie die Funktionen gestört sind. So begnügt sich z. B. ein guter Augenarzt nicht mit der bloß anatomischen Diagnose einer Krankheit der Netzhaut, des Glaskörpers, der Linse etc., sondern er prüft alle Schäden, die das Auge erhalten hat, weiter: er nimmt Sehproben vor, er prüft die brechenden Medien, den Farbensinn, das Gesichtsfeld und sieht so, was das Auge noch leisten kann. Danach richtet er sein Handeln.

Auch bei den Magenkrankheiten hat man sich lange zufrieden gegeben mit der Diagnose der äußerlich wahrnehmbaren Aenderungen am Organe, d. h. mit der rein pathologisch-anatomischen Diagnose. Man verfügte bloß über die rein äußerliche Untersuchung, man palpirte, klopfte an der Magengegend herum, etc., man examinirte über dieses und jenes: darauf stützte man seine Diagnose. Wie es im Innern des Magens hergehe, wie die normale Beschaffenheit des Magensaftes sei, welche Störungen ein krankhaft beschaffener Magensaft erzeugen könne, wußte man noch nicht und konnte man auch nicht wissen, da die Hauptsache zur Untersuchung, die Kenntniß des Magensaftes, fehlte. Der verstorbene berühmte Kliniker Frerichs in Berlin äußerte sich seiner Zeit dahin, daß die Störungen der Magensaftausscheidung leider ein noch völlig dunkles Gebiet der Forschung bilden. Es sei auch wenig Hoffnung vorhanden – so sprach sich damals Frerichs aus – daß es bald gelingen werde, diesen für die Lehre der Verdauungskrankheiten so wichtigen Gegenstand erledigt zu sehen, weil der Beschaffung des Materials beim Menschen unüberwindliche Hindernisse entgegenstehen.

Allein es ist anders gekommen. Die unüberwindlichen Hindernisse sind geschwunden. Professor Kußmaul war der erste, der die Magensonde zu Heilzwecken anwandte. Die Hoffnungen, die man darauf setzte, mußten aber mit der Zeit abblassen, weil man noch keinen genaueren Einblick in die Art der Verdauungsstörung bei den einzelnen Magenkrankheiten hatte. Der erste, der die Magensonde zu diagnostischen Zwecken anwandte und empfahl, war Professor Leube in Würzburg, dem auch verschiedene Untersuchungsmethoden ihre Entstehung verdanken. Allein es galt, eine einfache, jedem Arzt verständliche und zugängliche Untersuchungsmethode herauszuprobiren und festzustellen. Eine solche entdeckte Professor Riegel in Gießen, und mit Hilfe seiner Methode gelang es diesem Forscher, viele Irrthümer zu beseitigen und unsere Kenntnisse in Magenkrankheiten zu bereichern. Aus der Reihe der Männer, die sich außer den genannten Reformatoren auf dem Gebiete der Magenkrankheiten besonders eingehend damit beschäftigt haben, seien nur van der Velden, Ewald, Boas, Oser etc. genannt. Alle Namen aufzuzählen, würde hier zu weit führen.

Man könnte glauben, daß das Ideal einer Magenuntersuchung die Anwendung eines Spiegels wäre, mit dem man das ganze Organ bis in seine einzelnen Falten und Fältchen, bis in seine verborgensten Winkel und Winkelchen beleuchten könnte. Aber abgesehen davon, daß alle bis jetzt ausgeführten und mit elektrischem Lichte ausgestatteten Gastroskope (Magenschauer) viel zu wünschen übrig ließen, könnten wir mit ihnen bloß kleine Bilder bekommen, die keinen Schluß auf die Beschaffenheit der Schleimhaut im allgemeinen zulassen würden. Das würde nicht viel nützen. Wir bekämen ja keine Aufklärung über die Funktionsstörungen des Magens und des Magensaftes. Die Optik läßt uns hier im Stich. Wir können niemals, auch wenn wir die Oberfläche der Magenschleimhaut noch so genau betrachten – und nur diese läßt sich sehen – erkennen, wie die Drüsen sich verhalten, ob sie einen guten oder schlechten Magensaft absondern, u. dergl. mehr. Dazu bedürfen wir des Magenhebers, mittels dessen wir jederzeit uns über die Art der Magenthätigkeit unterrichten können, indem wir den Inhalt des Magens ausheben. Der Magenheber ist ein einfaches Instrument, das aus einer weichen, elastischen Nélatonschen Sonde, einem gläsernen Verbindungsstück und einem Kautschukrohr besteht, an dem ein Glastrichter mit Handgriff steckt. Magenpumpen giebt es verschiedene, lauter schöne und zweckmäßig zusammengesetzte Instrumente, allein in Anwendung kommen sie selten. Vor allem werden sie benutzt bei Vergiftungen, bei denen es darauf ankommt, den Magen rasch und vollständig bis auf den letzten Tropfen von seinem Inhalte zu befreien.

Der Magenheber, dessen Anwendung wir weiter unten noch genau kennen lernen werden, wirkt einfach nach dem Gesetz des zweiarmigen Hebers, dessen kürzerer Arm in den Magen eingeführt ist und dessen längerer aus dem Munde heraushängt. Es ist dabei keine Pumpe nöthig. Der Mageninhalt fließt von selbst ab, sobald die Flüssigkeit die Grenzscheide, das gläserne Verbindungstück, passirt hat. Immerhin klingt das alles dem Ohr des Laien nicht verlockend, und man begreift, daß ein Magenheber beim Publikum keine freundlichen Vorstellungen erweckt.

Wir sind auch weit entfernt davon, die Einführung der Sonde als ein für den Patienten angenehmes Experiment hinstellen zu wollen, möchten aber doch hervorheben, daß fast jeder Kranke sich mit einiger Selbstbeherrschung bald an dieselbe gewöhnt. In der Regel lernt er in verhältnißmäßig kurzer Zeit, die Sonde sich selbst einzuführen. Und wäre es auch nur die Erwägung, daß der durch diesen immerhin lästigen Vorgang erzielte Nutzen einer sicher gestellten Diagnose ein außerordentlich großer ist – schon diese Erwägung sollte den Patienten veranlassen, die kleine Unannehmlichkeit des Ausheberns ruhig mit in Kauf zu nehmen. Diejenigen Kranken, bei denen die Behandlung in täglichem Ausspülen und Reinigen des Magens besteht und welche die Sonde selbst einführen, erlangen überdies oft eine geradezu bewunderungswürdige Geschicklichkeit in der Ausführung der nöthigen Handgriffe. Es ist für den Arzt ein wahres Vergnügen, diese Leidenden den Magen mit großer Leichtigkeit und fast sportmäßig sich selbst ausspülen zu sehen; es ist eine Freude, zu beobachten, wie sie nachher einen ganz gesunden Appetit entwickeln, gut und ohne Schmerzen schlafen, sich wohler fühlen und an Körpergewicht meistens schon nach kurzer Zeit zunehmen. Deshalb kurz und bündig: „Bange machen gilt nicht!“ Ueberdies wird kein gewissenhafter Arzt eine Magenausheberung ohne zwingende Gründe vornehmen.

Veranschaulichen wir uns den Gang des ganzen Verfahrens an einem angenommenen Falle. Der Kranke kommt in das Sprechzimmer eines Magenarztes und stellt sich diesem als leidend vor; er bittet um seinen Rath. Damit beginnt das Verfahren.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 656. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_656.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)