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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Gewaltige die mit zitternder Stimme gegebene Antwort, daß sämmtliche Bewohner mit allem, was sie nur hätten fortschleppen können, schon längst in die Berge geflohen wären, und das wenige, was übrig geblieben, wäre von den Oesterreichern verzehrt und mitgenommen worden. Sie allein, weil zu alt und zu schwach, wären geblieben, um den Herrn General zu empfangen und den Soldaten ein Fäßchen Branntwein anzubieten, das sie mit Müh’ und Gefahr vor den abgezogenen Oesterreichern zu bergen vermocht hätten. Der Bürgergeneral stieß bei solcher Antwort einen gräulichen Fluch aus, dann befahl er, das Fäßchen herbeizuschaffen und das ganze Dorf zu durchsuchen, mit der Drohung, wenn es sich anders verhalten sollte als angegeben, würde er die Männer sammt und sonders erschießen lassen. Madulani und seine am ganzen Leibe zitternden Genossen hatten bald den Branntwein aus dem Keller hervorgeholt und muthig wollte ersterer beginnen, den ihn umringenden Soldaten die Gläser und Becher zu füllen, als plötzlich Aninia neben ihm stand. Dem zum Tode erschrockenen Vater nahm sie das Glas aus der Hand und trat festen Schrittes auf den General zu. Ihr ernstes bleiches Antlitz zu einem freundlichen Ausdruck zwingend, reichte sie ihm den Trank mit dem landesüblichen Gruß. Erstaunt, doch nicht unfreundlich schaute der republikanische Befehlshaber die junge, schöne Frau an, die da so plötzlich wie aus dem Boden herausgewachsen vor ihm stand. Er nahm das Glas, dankte durch ein Neigen des Hauptes, trank und reichte es dann seinen Offizieren, die es sich von dem jungen Weibe mehrfach füllen ließen. Währenddem fragte der General mit sichtlicher Erregung: „Wer bist Du? wie heißest Du?“

„Es ist meine Tochter, Aninia,“ antwortete Madulani, noch immer nicht Herr seiner Aufregung über das unerwartete Erscheinen seines Kindes in diesem gefährlichen Augenblicke. „Ich glaubte sie bei den anderen Frauen und Kindern – in den Schluchten unserer Berge.“

„Heute nacht bin ich zurückgekehrt,“ antwortete Aninia mit fester Stimme, „denn mein Platz ist bei meinem Vater. Es wäre feige gewesen, hätte ich ihn allein der Gefahr überlassen wollen. Doch von dem Bürgergeneral haben wir nichts zu fürchten.“

„Du bist ein wackeres Weib, eine echte Schweizerin!“ rief der General mit hellem Enthusiasmus. „So lange ich hier bin, könnt Ihr ruhig sein – doch seht Euch vor,“ setzte er leiser und wohl nur für Aninia bestimmt hinzu, „daß Ihr zu anderer Zeit nicht meinen Soldaten – und Offizieren in die Hände fallt!“

Diese hatten sich bereits von allen Seiten in die Nähe Aninias gedrängt, sie zu bewundern und sich von ihr einen Trunk kredenzen zu lassen. Die Franzosen wurden immer lustiger, kecker, und es wäre zu schlimmen Auftritten gekommen, wenn General Mainoni nicht hoch zu Pferde die immer dichter werdende Gruppe überwacht – sogar mit Blicken überwacht hätte, die ebenso viel Bewunderung wie Eifersucht kündeten. Doch auch Aninias feste, muthige Haltung, ihre ernsten Blicke machten Eindruck auf den wilden Soldatenhaufen und trugen viel mit dazu bei, daß der bedenkliche Auftritt ohne weitere gefährliche Ausschreitungen vorüber ging.

Während dieser Zeit hatten andere Trupps sämmtliche Häuser und Hütten des Dorfes vom Keller bis unter das Dach durchsucht und weiter nichts gefunden als einige steinharte Roggenbrote. General Mainoni hatte Mühe, ihr Wettern und Fluchen zum Schweigen zu bringen, und da ihm strenger Befehl geworden war, noch am Abend mit seinem Chef, dem General Lecourbe, in Ponte am Fuß des Albula zusammen zu stoßen, so ließ er zum Aufbruch blasen und kommandierte sein: „En avant – marche!“

Madulani und die Männer von Silvaplana hatten inzwischen durch den glücklichen Verlauf des gefährlichen Auftritts wieder Muth bekommen, sie tranken sogar mit und ließen schließlich in ihrer dankbaren Freude ihre Gold-Aninia hoch leben. Der junge General hörte den Namen mit offenbarer Freude, und als seine Soldaten lärmend in das Hoch einstimmten, da lüftete er grüßend seinen mit blau-weiß-rothen Federn geschmückten Hut und hielt so lange mit einigen Offizieren vor der Herberge, bis der letzte Trupp an ihm vorbeidefilirt war. Dann wandte er sein Pferd der kleinen Gruppe der Silvaplaner Leute zu, reichte, sich niederbeugend, Aninia die Hand und sagte in freundlichem Ton: „Leb wohl, schöne Gold-Aninia, und laß Dich warnen von einem Manne, dessen Theilnahme Du gewonnen hast – dem Dein Anblick wohlgethan hat. Sei vorsichtig und vertraue nicht zu viel Deinem kecken Muthe! – Heute habe ich Dich schützen können; doch kommen neue französische Truppen, so verbirg Dich, so weit und tief Du nur kannst! Es sollte mir wahrlich leid thun, wenn der schönen Gold-Aninia ein Unglück geschähe. Leb wohl!“ Damit sprengte er mit den Seinigen die Dorfgasse hinab, um wieder an die Spitze seiner Kolonne zu gelangen.

* * *

Nun trat für das Ober-Engadin, besonders für Silvaplana und dessen weitere Umgebung, eine kurze, freilich nur nach Wochen bemessene Zeit der Ruhe ein, während welcher die zurückgekehrten Bewohner sich der Hoffnung hingaben, das Aergste überstanden zu haben. Aber die Rückfluth der über die Pässe gezogenen Truppen sollte nicht ausbleiben. General Desolles kämpfte unglücklich gegen die Oesterreicher in Tirol und sah sich genöthigt, den Rückzug über das Wormser Joch anzutreten. General Lecourbe mit seiner zum Theil aus Italienern bestehenden Truppe stieß zu ihm. Sie zerstörten die Innbrücke bei Ponte in dem Glauben, dadurch den Oesterreichern den Weg in das Oberengadin und das Rheinthal zu versperren und sich den Rückzug über den Albula und den Julier zu sichern. Lecourbe ließ die Kanonen auf Schleifen legen, die Lafetten verbrennen und trat in der Nacht seinen Marsch über den Albula an. Um das Verbrennen der Lafetten zu überwachen, ließ der General etwa hundert Mann unter dem Kommando eines Kapitäns zurück, und zu diesen Leuten zählten auch etwa zwanzig Italiener.

Der Kapitän, ein wetterharter, wilder Republikaner, hatte seinen Leuten befohlen, in dem ausgeplünderten menschenleeren Dorfe Ponte zu biwakieren, da erst am Morgen der Rückmarsch und zwar über den Julier angetreten werden sollte, um, wie er seinen französischen Soldaten – es waren solche der schlimmsten Sorte – mit einem bösen Lächeln sagte, auf dem Rückweg nachzuholen, was bei ihrem Einzug in das Engadin durch die Schwäche ihres Generals versäumt worden war. Um die Feuer der brennenden Lafetten, welche noch immer haushoch emporloderten, hatten sich die Soldaten in verschiedenen Gruppen niedergelassen, aßen das Wenige, was sie erbeutet hatten, oder vertrieben sich die Zeit mit Singen und Tanzen.

In der Gegend, wo die wenigen Italiener lagerten, saß etwas abseits ein Soldat, dessen rothe Streifen auf dem Aermel der abgenutzten Uniform ihn als Korporal seines Regiments bezeichneten. Es war ein Mann von etwa dreißig und einigen Jahren, groß, breitschulterig und wohl von einer nicht gewöhnlichen Körperkraft. Sein Gesicht war tief gebräunt, dichtes Lockenhaar und ein starker Vollbart von schwarzer Farbe umrahmten Kopf und Antlitz und verliehen der ganzen Gestalt in der eigenthümlich grellen Beleuchtung der lodernden Flammen eine Wildheit, die auf den ersten Anblick Furcht einflößen mußte. Doch blickten die großen dunklen Augen träumerisch, sogar recht schwermüthig vor sich hin; der Mann schien in ein tiefes, ernstes Sinnen versunken zu sein. Da näherte sich ihm langsam einer der Soldaten, ein älterer Mann, in einer noch schlechteren, ziemlich zerfetzten Uniform. Eine ganze Weile blickte er den Träumer an, dann ließ er sich kopfschüttelnd neben ihn nieder, legte die Hand auf seinen Arm und sagte endlich in den weichen Lauten ihrer italischen Mundart:

„Was hast Du denn, Kamerad? Du bist seit einiger Zeit so verwandelt, daß man Dich nicht wieder kennt. Was ist denn los? Ich wollte schon lange mit Dir reden, wenn sich die Gelegenheit dazu gäbe. Aber bei einem solchen Brummbär, wie Du jetzt bist, kann man lange auf Gelegenheit warten. Vorwärts also! Was giebt’s? Bist doch sonst ein frischer Bursch gewesen, der in den Kugelregen hineinlief, als sei ihm das eine aparte Lustbarkeit. Und nun, seit wir uns in diesen gottverdammten Eis- und Schneebergen herumbalgen, hängt er den Kopf wie ein krankes Huhn und gönnt seinem Kameraden kein Wort mehr, mit dem er doch sonst treu zusammengehalten hat!“

Der Mann hatte die letzten Worte trotz des polternden Tones mit einer solchen Herzlichkeit gesprochen, daß der andere ihn gerührt ansah. Endlich sprach er langsam mit halber Stimme:

„Ich will es Dir sagen, Andrea. Bisher schlugen wir uns nur mit Oesterreichern, die mir gleichgültig waren. Hier im Engadin aber standen uns auch Schweizer, Bündnerleute gegenüber, und ich hätte lieber auf die Hunde-Franzosen geschossen als auf einen Engadiner.“

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