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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

„Wenn es weiter nichts ist,“ rief der Soldat, in seiner Freude wohl ein wenig überlaut, „dann begreife ich Dein Gesichterschneiden und verdenke es Dir nicht, Beppo! Denn gerade so erging es mir und deshalb schoß ich immer über die Weiß- und Grauröcke hinaus.“

„Still, um der Madonna willen!“ flüsterte der Korporal besorgt. „Wenn man solche Worte hörte!“

Doch der andere kümmerte sich kaum um die Warnung. Hastig, wenn jetzt auch leiser und vorsichtiger, fuhr er fort: „Und jetzt sollen wir erst recht in Dein Engadin hinein, das Dir so nahe geht, denn wir marschieren nicht über den Albula, sondern weiter die Seen hinauf, dann über den Julier.“

„Ueber Silvaplana – den Julier sollen wir marschieren?!“ rief der Korporal, seinen Kameraden mit weitaufgerissenen Augen anstarrend.

„So sagte der Capitano, dem wir jetzt zu gehorchen haben – der Satan mag ihn holen!“ versetzte der Soldat. „Er muß etwas im Schilde führen – denn er lächelte so eigenthümlich mit seinen gelben Zähnen, wie er allemal thut, wenn er eine Schurkerei im Sinne hat, der Halunke!“

„Nach Silvaplana?!“ murmelte der andere nochmals vor sich hin, als ob er bereits in Gedanken an dem genannten Orte weile.

„Du scheinst keine besondere Lust zu haben, in das Nest zu kommen? Nun, den Kameraden geht es ebenso, sie möchten lieber noch heute nacht desertieren und den Heimweg über das Eis des Bernina einschlagen, als mit den Hunde-Franzosen immer weiter nach Norden und dem Rheinthal zu ziehen. He, Beppo, was meinst Du dazu?“ flüsterte er nun dem Ohr des Korporals ganz nahe.

„Das geht nicht an, Andrea,“ entgegnete Beppo, „wir müssen mit. – Es wäre eine Schande, wenn die Franzosen uns hinterrücks erschießen würden, denn entkommen können wir ihnen jetzt bei dieser höllischen Beleuchtung nicht. Gehen wir schlafen! – Ich will die heilige Madonna bitten, daß sie mit mir sei auf diesem schweren Wege.“

Die letzten Worte hatte er kaum hörbar vor sich hingesprochen, dann streckte er sich auf den grauen Soldatenmantel aus, der am Boden lag, und schien wirklich einzuschlummern.

Andrea kehrte langsam zu seinem nahen Lagerplatz und den dort kauernden Kameraden und Landsleuten zurück, mit einem letzten Seitenblick auf den Korporal zwischen den Zähnen murmelnd: „Der Henker mag wissen, was er hat! Dahinter steckt noch etwas, und erfahren muß ich es auch.“

Der Korporal Beppo lag inzwischen mit halbgeschlossenen Augen da, aber der Schlaf wollte nicht über ihn kommen. Seine Lippen bewegten sich und leise kam es zwischen ihnen hervor:

„Ist es Gott – oder der Teufel, der mich nach dem Orte führt, den ich in diesem Leben nicht wiederzusehen – glaubte? – Ob sie noch dort ist – und an den armen Beppo denkt? – Ob sie mir wohl verziehen hat? – Nein, nein! meine Schuld ist zu groß, für mich giebt’s keine Verzeihung! – O, hätte ich ihn doch gefunden, den Tod auf dem Schlachtfeld, den ich seit Jahren suche! – aber es war vergebens, ich fand ihn nicht, ich mußte leben – mein elendes Dasein ertragen. – Wozu? – Was hat der Richter dort oben mit mir vor, daß er mich wieder an den Ort meiner Unthat führt? – Soll ich dennoch hoffen dürfen, daß mir Vergebung zu theil werde? – Aninia! Aninia!“ rief er plötzlich laut mit überwallendem Gefühl und zitternder Stimme. Er sah sich hastig um, niemand hatte ihn gehört. Tief aufseufzend wickelte er sich fester in seinen Mantel, dann wurde er still, und bald kam der ersehnte Schlaf, ihn mit wohlthätigem Vergessen zuzudecken.


15. Die Sühne. – Schluß.

Am frühen Morgen verließ die kleine Abtheilung Franzosen und Italiener, unter Anführung ihres Kapitäns, das Dorf Ponte, den furchtsam und zögernd wieder einziehenden Bewohnern nichts zurücklassend, als die qualmenden Kohlenreste der Lafetten. Eine ziemliche Anzahl Dörfer war zu passiren, doch nichts in ihnen zu holen, wie gewaltsam auch die Franzosen Keller und Ställe durchwühlten. Manche Wohnstätte fiel der wilden Wuth der französischen Soldaten zum Opfer und hinter den Abziehenden loderten Flammen empor. Doch der Kapitän trieb seine Leute mit dem Säbel in der Faust zum Weitermarsch an; er stellte der Horde am Ziel ihres Marsches durch das Hochthal eine Rast in Aussicht, bei der sie sich ungehindert ihrer Zerstörungslust und ihrem Zorn über das elende Schweizer- und Bündnervolk überlassen könnten. Das konnte nur dem schon jetzt dem Untergange geweihten Silvaplana gelten.

Dort hatte man keine Ahnung von der Annäherung der Franzosen. Als die ersten Flüchtlinge vom See Murezzan und Campfèr anlangten, da war es bereits zu spät, um die Weiber, die Kranken und die Kinder noch nach dem Crestalta zu flüchten; denn schon ertönte in der Ferne, unabwendbares Unheil verheißend, der wüste Gesang der Marseillaise.

Das wilde Singen und Lärmen der Franzosen, welches bei deren Näherrücken den horchenden Silvaplanern stets greller erklang, war, nachdem die Schar die lange Dorfgasse betreten hatte, einer plötzlichen unheimlichen Stille gewichen. Lautlos, doch mit stechenden Augen, mit grinsendem, höhnischem Lächeln umherschauend, war der kleine Trupp nach dem freien Platz vor der Herberge und dem Aufgang zur Paßhöhe des Juliers marschiert und hatte sich dort, nach einem Kommando des Kapitäns, im Halbkreise um diesen aufgestellt.

Wieder standen Madulani und die vier alten Männer, die Mützen in den Händen, mit demüthiger Gebärde vor der Herberge, doch diesmal in noch weit bangerer Erwartung als vor etwa zwei Monaten, denn das gelbe und gefurchte, wildhäßliche Gesicht des französischen Kapitäns war lange nicht so vertrauenerweckend als das jugendliche Antlitz des republikanischen Generals. Unwillkürlich mußte Madulani an dessen Warnungen denken und zum erstenmal überkam ihn eine tödliche Angst.

Ohne sich um die geduldig seiner Befehle harrenden Männer zu kümmern, ließ der Kapitän die einzige Trommel, welche der Trupp mit sich führte, rühren und redete dann mit lauter Stimme seine Soldaten im Kommandoton folgendermaßen an:

„Bürger, Soldaten! Wir sind in dem Nest angelangt, von dem ich Euch bereits als Rastort gesprochen habe, dessen elende Bewohner bei unserem Einzug in diese Eisregionen, welche wir nun für immer verlassen werden, den Bürgergeneral Mainoni durch schöne Worte und ein glattes Gesicht belogen und betrogen haben. Jetzt ist die Stunde ihrer Strafe gekommen. – Achtung! – Die Säbel gezogen! – Die Gewehre können ruhen, das Bauernvolk ist keinen Schuß Pulver werth und unsere Säbel werden bessere Arbeit verrichten. – Vierzig Mann meiner Kompagnie vertheilen sich durch das ganze Dorf – der Tambour bleibt hier bei mir und den Italienern. Sobald Ihr das Wirbeln der Trommel vernehmt, fallt Ihr in die Häuser ein, säbelt nieder, was sich zur Wehr setzt, und zündet ihnen die Baracken über den Köpfen an. An allen vier Ecken soll das Nest aufflammen und mir ein lustiges Hochzeitsfeuerchen liefern. Und nun – en avant – marche!

Ein lauter, lärmender Jubel erhob sich nach diesen entsetzlichen Worten, und von den Franzosen, die, wie auch die Italiener, ihre Säbel gezogen hatten, löste die Hälfte sich ab und vertheilte sich schreiend und johlend in der langen Dorfgasse. Jetzt gebot der Kapitän abermals mit schriller Stimme Ruhe, und als diese unter seinen zurückgebliebenen Leuten einigermaßen eingetreten war, rief er plötzlich in den kleinen Trupp Italiener hinein, die mit ihren gezückten Säbeln eng aneinander gerückt dastanden:

„Wer von Euch die vermaledeite Sprache dieser helvetischen Eisbären spricht, der trete vor und übersetze den Bauern, was ich soeben gesagt habe – und noch sagen werde! Schnell! denn ich will keine Minute mehr mit unnützen Reden verlieren. – Tambour, halte die Schlägel bereit!“

Da wurde aus dem Knäuel der italienischen Soldaten ein Mann gewaltsam nach dem bereits ungeduldig fluchenden Kapitän hingestoßen. Er war in dem Valtelino daheim, sprach Romanisch-Ladinisch, und mit finsterer Miene begann er dem erbleichenden Madulani und dessen Genossen die verhängnißvollen Befehle des Franzosen zu verdolmetschen. Andrea hatte den Valteliner, auf ein Zeichen seines Korporals, aus der Reihe hinausbefördert. Beppo stand während des ganzen Auftritts wie versteinert unter den Genossen, seine gebräunte Gesichtsfarbe war zu einer erdfahlen geworden, und mit weit offenen Augen starrte er fast athemlos Madulani an. Sein Geist schien noch nicht fassen zu können, was hier vorging und auf dem Spiele stand. Auf dem Marsche hatte er nicht nach der Seeseite zu schauen gewagt, aus Furcht, die Ruinen des durch ihn zerstörten Dorfes erblicken zu müssen. Nun sah er plötzlich Madulani vor sich, wenn auch immer noch

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 660. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_660.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)