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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

in der ehemaligen starkknochigen Gestalt, doch sichtlich zu einem alten, schwachen Mann geworden. „Wo er ist, wird auch sie sein – wenn sie nicht längst im Grabe neben ihrem Kinde liegt,“ sagte er sich. Da nannte der Kapitän einen Namen, der Beppo gleich einem Posaunenruf aus seiner Starrheit aufweckte. Nun wußte er wieder alles und auch das Entsetzliche, was in den nächsten Augenblicken geschehen mußte – wenn Aninia hier war!

„Jetzt zu Dir, Alter!“ hatte der Kapitän, zu Madulani gewendet, gerufen. „Deine Tochter will ich sehen, sie ist drinnen in der Herberge. O! ich habe ebenso wenig ihr teufelsmäßig hübsches Gesichtchen, ihr goldblondes Haar vergessen wie ihren Namen ‚Gold-Aninia‘! Rufe sie auf der Stelle, oder ich dringe mit meinen Soldaten ins Haus, wo es der jungen und hübschen Weiber ganz bestimmt noch mehr giebt, und alles, was wir finden, gehört uns! En avant, in Satans Namen!“

Der Valteliner brauchte diese neuen furchtbaren Worte Madulani nicht zu verdolmetschen, denn der arme alte Mann hatte ihre Bedeutung aus den Blicken, den Gebärden des Elenden und der Art, wie dieser den Namen seiner Tochter aussprach, nur zu deutlich erkannt. Noch war der Kapitän nicht zu Ende, da lag Madulani vor ihm auf den Knieen und flehte mit gerungenen Händen und bebender Stimme um Schonung der Seinigen und der armen Frauen.

Sinnlos vor Wuth über diesen Widerstand griff der Kapitän unter einem greulichen Fluch nach seinem Säbel – im nächsten Augenblick wäre es um das Leben des alten Mannes geschehen gewesen – er hätte es für sein Kind lassen müssen – ohne ihm dadurch nützen zu können. – Da ließ der Kapitän plötzlich den Säbelgriff fahren und mit einem grellen Freudenschrei fuhr er einen Schritt zurück, denn unter der Thür war Gold-Aninia erschienen. Ihr Angesicht war bleich wie das einer Todten und ernst, mit flammenden Blicken wie ein zürnender Engel Gottes schaute sie den Kapitän an.

Beim Anblick des schönen jungen Weibes erhob sich unter den Franzosen ein lauter wildfreudiger Tumult, in dem der jähe Aufschrei: „Aninia!“, der aus der Gruppe der Italiener hervortönte, ungehört unterging.

„Voran, Kinder! holt Euch drinnen Eure Beute!“ schrie der Kapitän seinen Soldaten zu. Zugleich gab er dem vor ihm knieenden Madulani einen solchen rohen Stoß, daß der alte Mann zur Erde fiel; dann sprang der Unhold mit der Gier eines Raubthiers auf das bleiche Weib zu, das ihn unbeweglich, scheinbar ohne Widerstand erwartete.

Doch er kam nicht dazu, sein Opfer auch nur mit den Fingerspitzen zu berühren. Aus der Reihe der Italiener brach mit einem knirschenden Wuthschrei der Korporal hervor, faßte den Elenden mit der freien Hand am Halse und schleuderte ihn mit leichter Mühe mehrere Schritte zurück – während zugleich eine plötzliche Bewegung in die Gestalt Aninias kam, die zusammenzuckend nach dem Pfosten der Thür griff, um einen Halt zu finden. Die Lippen wollten einen Namen rufen, doch die Stimme versagte ihr – nur die großgeöffneten Augen starrten ihren Retter wie eine Geistererscheinung an.

Im nächsten Augenblick veränderte sich blitzschnell die ganze Scene. Der Kapitän war schäumend vor Wuth unter entsetzlichen Flüchen vom Boden aufgesprungen, zog den Säbel und holte zu einem tödlichen Schlag gegen den Korporal aus. Doch dieser kam ihm zuvor, seine Rechte hielt schon den Säbel gefaßt, und mit einem schweren Hieb schlug er dem Franzosen die Waffe aus der Hand, wobei zugleich die Schneide der eigenen Klinge seinen Angreifer mit tödlicher Gewalt zwischen Hals und Schulter traf.

Ein Blutstrom entquoll der Wunde des Kapitäns, und zusammenbrechend vermochte er nur noch röchelnd zu stöhnen: „Tambour – rühr’ die Trommel!“

Doch zu gleicher Zeit hatte auch der Korporal seinen Landsleuten zugerufen: „Jetzt drauf los! Es sind nur Räuber und Mörder und keine Soldaten!“ –

Nun gewann auch die Gestalt der bleichen Frau am Eingang der Herberge Leben. Laut, mit fester Stimme rief sie in das Haus hinein: „Herbei, Ihr Frauen! Zeiget, daß Ihr echte Schweizerinnen seid!“

Noch hatte der Kapitän das letzte Wort des entsetzlichen Befehls, der dem ganzen Dorf den Untergang hätte bringen müssen, nicht ausgesprochen; noch hatte der Tambour den Schlägel zu dem verhängnißvollen Wirbel nicht erhoben, als der Soldat Andrea ihm einen so wuchtigen Hieb auf den Arm versetzte, daß der arme Teufel mit einem Wehschrei Arm und Schlägel sinken ließ. Und schon während der Rede des Korporals befanden sich die Italiener im Handgemenge mit den Franzosen. Diese hatten anfangs mit starrem Entsetzen die rasche Ueberwältigung ihres Kapitäns gesehen, dann unter Flüchen und gellendem Rachegeschrei die Säbel gezogen. Jetzt stürzten auch die Mädchen und Frauen aus der Herberge, und unter Aninias Führung griffen sie in einer todesmuthigen Begeisterung die Franzosen an. Was nur als Waffe dienlich sein konnte, hatten sie ergriffen; mit Knütteln, Heugabeln schlugen und stachen sie auf die Feinde ein, während Madulani und die Männer auf die in Pyramiden zusammengestellten geladenen Gewehre zugelaufen waren. Nun knallten auch Schüsse, und jeder Schuß streckte einen Franzosen zu Boden. Die Italiener, mit ihrem Korporal und Andrea an der Spitze, schienen ihren ganzen Haß gegen die Franzosen in ihre Hiebe zu übertragen, denn trotzdem ihre Feinde noch einmal so zahlreich waren als sie, so mußten jene doch bald, von allen Seiten angegriffen, weichen. Auch lag bereits ein großer Theil von ihnen verwundet und verblutend am Boden. Wohl zogen die Schüsse die in der Dorfgasse harrenden Franzosen herbei, doch es war bereits zu spät, denn da der auf dem Platz vor der Herberge kämpfende Haufen zum Weichen gebracht war, hatten auch die Italiener sich der Gewehre bemächtigen können. Jetzt mußten die Franzosen fliehen, wenn ihnen ihr Leben lieb war, und der übermüthige Befehl des Kapitäns, daß die Bauern keinen Schuß Pulver werth seien und der Säbel allein sie züchtigen und vernichten könne, war das Unglück der wilden Horde geworden. Nach zwei Richtungen hatten der Korporal und die Seinigen sich aufgestellt, die Dorfgasse hinunter und hinauf schossen sie, während sie den Aufstieg nach der Paßhöhe des Juliers frei ließen. Und wie auf Kommando eilten die eben noch so übermüthigen Republikaner den Weg hinan, die bereits geschlagenen sowohl wie die, welche von beiden Seiten herankamen und noch zu entfliehen vermochten. Endlich hörte das Schießen auf, der Kampf war zu Ende und Silvaplana mit seinen Bewohnern gerettet! –

Keine Viertelstunde hatte das mörderische Gefecht gedauert, und dennoch lag eine ziemliche Anzahl von Verwundeten und Todten an der Erde. Es war ein entsetzlicher Anblick, den der kleine Platz vor der Herberge bot; aber wie Aninia sich während des kurzen Kampfes am heldenmüthigsten erwiesen, wie sie die Frauen durch ihr Beispiel, ihre Todesverachtung zu gleicher Thatkraft angefeuert hatte, so war sie auch jetzt die erste, welche Hand anlegte, die Verwundeten, Feinde und Freunde, in die Herberge zu schaffen. Wie eifrig griffen die Mädchen und Frauen, alt und jung, dabei zu! Und im Innern des Hauses ordnete Aninia an, theilte die Betten, breitete sie auf dem Boden der Stuben aus, die Stöhnenden und stumm Leidenden darauf zu legen. Da trat Mutter Barbla auf Madulani zu, der mit den andern Männern die schwere Arbeit beginnen wollte, die Todten einstweilen in einem der Häuser niederzulegen.

„Gian,“ sprach sie so leise zu ihm, als ihre Aufregung dies nur gestattete, „Gian, hast Du ihn erkannt?“

„Still, Mutter!“ entgegnete mit tiefem Ernst Madulani. „Du wirst es sehen – wenn er kommt.“

Da kehrten die wenigen Italiener nach und nach zurück, ihre Arbeit war gethan, der letzte der fliehenden Franzosen hoch oben zwischen den beschneiten Bergen verschwunden. Doch der Korporal war nicht mehr wie vordem an der Spitze seiner Landsleute. Endlich hatten ihn Madulanis Augen, die scharf nach ihm ausschauten, entdeckt. Hinter den letzten seiner Kameraden hielt er sich verborgen, und mit fast finsteren Blicken spähte er zwischen den sich vor ihm Bewegenden hindurch nach der Herberge. Doch die Soldaten kamen rasch näher und er allein konnte nicht zurückbleiben, er mußte mit. Gab es doch hier auch noch Arbeit genug, wenn auch solche ganz anderer Art als die bisherige. Da faßte den Korporal plötzlich jemand am Arm – und Madulani stand vor ihm.

Der alte Mann, der ehemals so harte und stolze Cavig, wollte vor dem Soldaten in der zerlumpten Uniform in die Kniee sinken, doch erschrocken, fast entsetzt hielt dieser ihn zurück, nur mit Mühe den Namen „Madulani!“ hervorstoßend. Da sprach dieser mit einer von Thränen fast erstickten Stimme, die beiden Hände des anderen krampfhaft festhaltend:

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 662. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_662.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)