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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Eines Nachmittags in der zweiten Hälfte des Augusts – der andauernde Regen der letzten Zeit hatte gerade einmal nachgelassen – ritt ich gemächlich hinter der vordersten Einschließungslinie entlang.

Ich war im Divisions-Stabsquartier gewesen und wollte wieder zu dem Bataillon zurück, das ich befehligte. Mit manchem guten Kameraden, den ich unterwegs antraf, tauschte ich Gruß und Händedruck. Ein Major, mit dem ich zusammen Kadett gewesen war, hielt mich in seinem Bivouac fest. „Du mußt ein Stündchen hier bleiben,“ bat er dringend, „ich habe eine Kiste Rothwein erwischt und wir wollen ein Glas leeren auf den Sieg unserer Waffen.“

Ich stieg ab, übergab mein Pferd einem Trainsoldaten und setzte mich mit meinem Kameraden ans Lagerfeuer. Ehe wir es merkten, war der Abend hereingesunken. Blaue Schatten hatten sich über das Gelände gebreitet; am verschwimmenden Horizonte standen in dunklen riesenhaften Massen die Außenforts der von uns eingeschlossenen Festung.

„Ich muß jetzt zu meinen Leuten,“ sagte ich aufstehend und mich nach meinem Pferde umsehend, „da vorn fängt es wieder stärker zu knallen an; wer weiß, was es die Nacht noch für uns giebt!“

„Ich geleite Dich ein Stück,“ versetzte mein Freund.

Als ich aus dem Bivouac ritt, schritt er neben mir her.

„Dort hinaus, bei der Lagerwache vorbei! Du findest dort festeren Boden; hier nebenan ist das Erdreich vom Regen ganz aufgeweicht und gleicht einem Sumpfe.“

Bei der Lagerwache vorüber reitend, bemerkte ich einen Gefreiten ohne Waffen, der auf dem Mantel, den er angezogen hatte, das Eiserne Kreuz trug. Ich grüßte den Mann und rief ihm ein „Gratuliere“ zu. Mein Begleiter seufzte, und als wir aus Hörweite der Wache waren, sagte er bekümmert: „Der Kreuzritter, den Du da sahst, macht mir schweres Herzeleid; morgen soll Kriegsgericht über ihn gehalten werden; er hat im Streit einen Unteroffizier niederschlagen.“

„O, das thut mir leid! Erzähle doch, wie ging das zu?“

Und nun erfuhr ich die ganze Geschichte. Als ihm sein Kommandeur vor versammeltem Bataillon das Kreuz auf die Brust geheftet hatte, war er in Thränen ausgebrochen. „Das Kreuz gebührt mir nicht,“ – hatte er bescheiden abgewehrt – „es war nicht Muth, daß ich den Kugelregen nicht fürchtete, ich wollte ein ehrliches Ende finden.“

„Gefreiter Dornbusch,“ hatte ihm der Major erwidert, „diese Anspruchslosigkeit ehrt Sie um so mehr. In meinen und Ihrer Kameraden Augen haben Sie sich durch Ihre Tapferkeit völlig rein gewaschen und Ihr Vergehen wider die Disciplin wett gemacht. Die Bestrafung durch das Kriegsgericht wird Ihnen freilich nicht erlassen werden; aber, komme auch, was da kommen mag, tragen Sie bis dahin das Kreuz in Ehren und seien Sie versichert, daß wir alle Ihnen ein gutes Andenken bewahren werden.“

Der Gefreite hatte geschluchzt wie ein Kind und dem ganzen Bataillon war das Wasser in die Augen getreten. Er hatte sich über die Hand des Kommandeurs gebeugt und sie an seine Lippen führen wollen; dieser aber hatte ihn umarmt und auf die Wange geküßt.

Noch jetzt, da mir mein Freund die Geschichte erzählte, zitterte ihm die Stimme.

„Und wenn man ihn auch kriegsgerichtlich über den Haufen knallt,“ sagte ich bewegt, „er wird doch einen schönen Tod sterben, denn er wird das Ehrentreuz mit in die Grube nehmen.“

Wir drückten uns die Hand und schieden von einander. Mein Kamerad kehrte zu seinem Truppentheil zurück und ich ritt weiter, um zu meinen eigenen Leuten zu gelangen.

Es wurde immer dunkler und stiller; nur ab und zu sauste eine heulende Granate vom St. Julien oder von Plappeville herüber und störte den feierlichen Frieden der hereinbrechenden Nacht. Ich sann über den Begriff der Tapferkeit nach. Der Gefreite Dornbusch hatte meiner Ansicht nach gar nicht so unrecht, wenn er seine Gleichgültigkeit gegen die feindlichen Kugeln nicht als Todesmuth ausgelegt sehen wollte; jemand, der verzweifelnd den Tod sucht, kann füglich nicht mehr „tapfer“ genannt werden; „tapfer“ ist nur der, der den Tod nicht sucht und dennoch auch nicht fürchtet. Aber daß der schlichte Soldat diesen feinen Unterschied gemacht und frei von aller Eitelkeit seinem Empfinden so offenen Ausdruck gegeben hatte, das verlieh ihm in meinen Augen einen Adel der Gesinnung, der vielleicht noch mehr werth war als bloßer Muth.

Ein Plätschern und ein halb unterdrücktes Stöhnen machte mich aufmerksam. Mein Auge suchte die Dunkelheit zu durchdringen und gewahrte irgend etwas Helles auf der Erde, das sich hin und her zu bewegen schien. Mein Pferd stutzte und wollte nicht recht vorwärts. Unwillkürlich fuhr ich mit der Hand nach meiner Satteltasche, wo der Revolver steckte, und rief gebieterisch:

„Wer ist da?“

Eine klägliche weibliche Stimme antwortete mir:

„Ach mein Gott, schießen Sie nicht! Ich bin ein Mädchen, das sich verirrt hat … beinahe wäre ich hier in den Graben gestürzt.“

Ein Verdacht stieg plötzlich in mir auf. Ich drängte mein Pferd an die nächtliche Umhertreiberin heran und fragte nicht ohne eine gewisse Schadenfreude:

„Es ist Ihnen wohl nicht gerade erwünscht, mein schönes Kind, daß ich Sie hier abfasse? Sie haben Zeit und Ort vortrefflich gewählt; ohne meine Begegnung wären Sie in einer halben Stunde drüben bei den Franzosen gewesen. Sie sprechen dazu ein so vortreffliches Deutsch, daß eine arglose Seele in Ihnen nimmermehr eine Kundschafterin vermuthen würde. Bitte, begleiten Sie mich gefälligst, und zwar immer hübsch dicht neben meinem Pferde; sollten Sie mir entlaufen wollen, so würde ich so unhöflich sein und mit diesem Revolver hinter Ihnen herschießen.“

„O! Sie halten mich doch nicht für eine Spionin, Herr … Herr … Herr Offizier? Ich weiß nicht, was der Herr ist … aber wenn Sie ein preußischer Offizier sind, dann erbarmen Sie sich einer unglücklichen Landsmännin! Ich suche den kommandirenden General, unter dem das Regiment meines Bräutigams steht.“

„Und wer ist Ihr Bräutigam?“

„Der Gefreite Dornbusch von der nten Kompagnie des nten Regimentes.“

Betroffen hörte ich diesen Namen.

Um vieles milder fragte ich:

„Wie in aller Welt kommen Sie denn hierher?“

„Ich komme direkt aus X“ – sie nannte das rheinische Oertchen, das mir mein Freund, der Major, vorhin als Heimath des Unglücklichen bezeichnet hatte. „Tag und Nacht bin ich gelaufen, bis ich mich nach Saarbrücken durchgefunden hatte; dort hat mich ein barmherziger Johanniterritter, dem ich den Zweck meiner Wanderung erzählte, auf der Bahn ein Stück mitgenommen; als die Bahnfahrt zu Ende war, habe ich mich von einem Truppentheil zum andern durchgefragt und so bin ich endlich hierher gekommen. Hier in der Nähe – ich habe den französischen Namen des Dorfes vergessen – soll der kommandirende General liegen; wenn ich mich in der Dunkelheit nicht verirrt hätte, wäre ich vielleicht längst am Ziele; bitte, helfen Sie mir auf den rechten Weg! Es handelt sich um Leben und Sterben meines Bräutigams … o mein Gott! Wenn ich nur nicht schon zu spät komme!“

Sie brach in krampfhaftes Schluchzen aus.

Das war Wahrheit, was sie mir da erzählt hatte; solche Töne konnte Lüg und Trug nimmermehr finden. Und dennoch muthete mich ihre Erzählung wie ein Märchen an. Ein junges schwaches Frauenzimmer, ohne Schutz und Beistand, fern von der Heimath, in Feindes Land, mutterseelenallein auf dem großen leichenbedeckten Schlachtfelde zweier Nationen! Noch lagen die unbeerdigten Leichen zahlreicher Menschen und Thiere an den Wegen und in den Ackerfurchen; und über dieses grausige Golgatha wanderte der schwache Fuß eines rheinischen Mädchens, das – o rührende Herzenseinfalt! – den hohen Vorgesetzten ihres Liebsten zu finden strebte, weil sie glaubte, mit ihrem kindischen Flehen das Unheil vom Haupte eines dem Tode Geweihten abwenden zu können! Es wäre zum Lachen gewesen, wenn es nicht so unendlich herzbewegend, so über alle Maßen traurig gewesen wäre.

(Schluß folgt.)




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 682. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_682.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2020)