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verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Gleich vielen mittelalterlichen Städten wurde diese deutsche Siedelung von vornherein nach einem bestimmten Plane angelegt, während die alte Piastenstadt auf dem rechten Flußufer allmählich aus einer dorfartigen Niederlassung in ganz unregelmäßiger Gestalt entstanden war. In der Mitte des quadratischen Marktplatzes liegt das Rathhaus, umgeben von einer Gruppe von Gebäuden, welche zum Theil noch heute mit ihrer schmalen Front, den hohen Giebeln und den kleinen unregelmäßigen Fenstern, mit den vorgebauten Buden und Kramläden den Charakter jener Zeit tragen.

Die Grabenkirche.

Das Rathhaus, zu Ende des 13. Jahrhunderts erbaut, seitdem aber wiederholt umgestaltet und erweitert, ist ein sehr sehenswürdiger Bau, dessen Vorderfront mit den schönen Loggien den reinen Stil der Renaissance zeigt. Auf den sechs Seitenfeldern dieser Front waren ursprünglich Malereien religiösen Inhalts angebracht, welche unter Stanislaus August durch Bildnisse polnischer Könige ersetzt wurden. Auch diese sind jetzt vom Zahn der Zeit zernagt und bis zur Unkenntlichkeit verwischt. Abgesehen von der Vorderfront, zeigt das ehrwürdige Gebäude in seiner Bauart, in den Gewölben der Kellerräume, einzelnen Thüren und den Nischen am Thurme deutlich den germanischen Stil, wie er in Deutschland bis zu Anfang des 16. Jahrhunderts vorherrschend war. Im Innern ist besonders die große Halle bemerkenswerth, welche früher die ganze Breite des Rathhauses einnahm und später auf den Rath Schinkels wegen Baufälligkeit des Gewölbes durch eine Mauer in zwei Theile geschieden wurde. Die Decke dieser Halle ist mit eigenartigen Stuccaturarbeiten verziert. Im Sitzungssaale des Magistrats, dessen Decke nach dem Muster eines Bibliotheksaales im Vatikan gemalt ist, befindet sich ein lebensgroßes Standbild des letzten Polenkönigs Stanislaus August.

Eine Rolandssäule, in früherer Zeit als Pranger benutzt, steht vor dem Rathhause. Hier, unter dem alten Wahrzeichen der städtischen Gerichtsbarkeit, entfaltet sich wie vor Jahrhunderten an den Markttagen ein lebendiges und den aufmerksamen Beobachter fesselndes Leben und Treiben. Neben der polnischen Bäuerin in der üblichen Landestracht sieht man die stattlichen Bambergerinnen, die Nachkommen deutscher Kolonisten aus der Bamberger Gegend, welche sich zu Anfang des 18. Jahrhunderts in den Kämmereidörfern um Posen angesiedelt haben. Sie sind im Laufe der früheren Jahre durch den Einfluß von Kirche und Schule polonisirt worden, haben aber ihre besondere Landestracht treu bewahrt. Hier hört man den breiten gemüthlichen Dialekt schlesischer Bauern, die sich in der Provinz Posen eine neue Heimath gegründet haben, hier sieht man neuerdings auch die kräftigen Gestalten der deutschen Ansiedler aus dem Süden und Westen des Vaterlandes, welche die Errichtung neuer Kolonistendörfer auf den vom Staate angekauften Gütern der polnischen Aristokratie herbeigezogen hat.

Das Rathhaus.

Bunt und eigenartig wie die äußere Erscheinung der Marktbesucher ist auch die Sprache, in der hier verhandelt wird: zumeist ein seltsames, drolliges Gemisch von Deutsch und Polnisch, welches den fremd Hierhergekommenen anfangs zur Verzweiflung bringt, dem sich aber besonders die Hausfrauen rasch anbequemen. Mark und Pfennig sind hier zum Theil noch fremde Begriffe, hier bietet die polnische Verkäuferin, noch unbeleckt von der modernen Kultur, ihre Ware nach wie vor nach polnischen Gulden und Groschen zum Verkaufe an und überläßt es dem Käufer, sich mit der Rechnung zurecht zu finden.

Noch manche bemerkenswerthe Gebäude, so namentlich das alte Schloß auf dem Schloßberge, der Dzialynskische Palast, verschiedene Kirchen und frühere Klöster, befinden sich in der Altstadt; der Raum gestattet aber nicht, näher darauf einzugehen. Nur bei der bescheidenen evangelischen Kirche, welche unser Bild zeigt, der sogenannten Grabenkirche, wollen wir noch kurz verweilen.

Die Reformation hatte frühzeitig auch in Posen Eingang gefunden und unter dem polnischen Adel mächtige Anhänger gewonnen; aber der Einfluß der katholischen Kirche war stärker, und so

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verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1889, Seite 684. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_684.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)