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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Astrid aber brach statt aller Antwort in ein herzbrechendes Schluchzen aus, und Bernhardi machte keinen Versuch, sie zu trösten. Rannen doch ihm selber schwere Thränen über die eingesunkenen Wangen und war ihm doch das Herz vom herben Weh der letzten großen Trennung zerrissen, deren Schatten bereits über ihren Häuptern schwebten.


2.

Als der einfache Leichenwagen vor dem großen Miethshause in der Oranienburger Straße hielt, sammelte sich an dem Hausthor ein kleines Häuflein Neugieriger an, um mit theilnahmlosen Gesichtern und unter manchem rohen Scherze das Erscheinen des stillen Mannes zu erwarten, für dessen letzte Fahrt das traurige Gefährt bestimmt war.

„Wen wollen sie denn da abschieben?“ fragte ein Arbeitsmann mit stark gerötheter Nase, der eben aus der unterirdischen Tiefe des benachbarten Weißbierkellers auftauchte. Und eine unordentlich gekleidete Frauensperson, die ein elend aussehendes Kind auf dem Arme trug, antwortete ihm mit einem unnachahmlichen Ausdruck von Geringschätzung:

„Ach, es ist bloß der verrückte Musiklehrer aus dem dritten Stock, der so stolz war, daß er mit keinem Menschen ein Wort reden mochte, und der sich doch nicht die Butter aufs Brot verdienen konnte. Ich möchte wetten, daß er an keiner anderen Krankheit als am Hunger gestorben ist.“

„Na, dementsprechend scheint ja auch das Trauergefolge zu sein!“ spottete grinsend der Arbeitsmann. „Wir werden gleich ein paar Schutzleute holen müssen, damit sie für die Menge von Kutschen Platz machen.“

Die ganze Umgebung lachte über die „geistreiche“ Bemerkung des witzigen Kopfes, und am lautesten lachten die vier Leichenträger, die mit stumpfsinnigen und höchst gelangweilten Gesichtern neben ihrem Wagen lehnten.

Da bog ein eleganter, von zwei feurigen Rappen gezogener Wagen vom Monbijouplatz her in die Straße ein, und gerade hinter dem einfachen Leichenwagen hielt der Kutscher die Pferde an.

„Na, da kommt ja wohl ganz was Feines!“ meinte die Frau mit dem jämmerlichen Kinde, und in der ganzen theilnahmsvollen Versammlung gab es lange Hälse und weit aufgerissene Augen. Aber die spöttischen Bemerkungen verstummten, als der einzige Insasse des Wagens rasch und gewandt auf das Pflaster gesprungen war. Gerhards kraftvolle, männliche Erscheinung, der ernste und stolze Blick, mit welchem er das kleine Menschenhäuflein überflog, schüchterten selbst die redefertigsten Zungen ein und mit achtungsvollem Schweigen ließ man ihn vorüber.

„Wissen Sie auch, wer das war?“ fragte ein hagerer junger Mensch mit lang auf die Schultern herabfallendem Haar, als Gerhard im Innern des Hauses verschwunden war. „Es war der große Klaviervirtuose und Komponist Steinau, einer der ersten unter allen lebenden Musikern. Daß er an diesem Begräbniß theilnimmt, ist wahrhaftig eine große Ehre für den Verstorbenen.“

Der erste Leichenträger blickte auf das Zifferblatt seiner silbernen Spindeluhr und machte seinen Genossen ein Zeichen.

„Schon zehn Minuten über die Zeit! Nun wird doch wohl keiner mehr kommen!“

Damit stiegen die schwarzen Gestalten schwerfällig die drei steilen, unbequemen Treppen empor, und unterwegs ging zur Herzstärkung noch eine ziemlich umfangreiche Flasche, die einer von ihnen aus der hinteren Rocktasche zum Vorschein gebracht hatte, von Hand zu Hand.

Die Geduld der Untenstehenden wurde nicht mehr allzulange auf die Probe gestellt. Langsame, schwere Tritte kamen die Stiege herab. Dann tauchte die unförmliche Masse des schlichten Holzsarges im halbdunklen Hausflur auf. Einfach und anspruchslos wie seine Persönlichkeit und seine ganze Lebensführung war auch dies letzte Haus des armen Musikers. Der kostbare Palmenwedel und die beiden prachtvollen Kränze, welche auf dem Deckel lagen, nahmen sich dabei recht aufdringlich und prahlerisch aus und forderten darum auch aufs neue allerlei boshafte Betrachtungen der Zuschauer heraus. Dann aber gab es noch einmal tiefe Stille, denn jetzt erschien am Arme des gefeierten Künstlers die einzige Hinterbliebene des Musiklehrers, seine Tochter Astrid. Trotz ihres einfachen schwarzen Kleides und ihrer verweinten Augen sah sie schöner und liebreizender aus als jemals, und die rohen Gemüther, auf die selbst die furchtbare Majestät des Todes ohne Wirkung geblieben war, beugten sich doch unwillkürlich vor der Macht der in ihrem Schmerze doppelt rührenden Unschuld und Schönheit.

Aber der Eindruck war nicht von langer Dauer, und als das Rollen der beiden Wagen verhallt war, fehlte es nicht an spöttischen Betrachtungen über den vornehmen Tröster, welchen die hübsche junge Tochter des Verstorbenen schon so bald gefunden habe. Die beiden aber, welche da Seite an Seite auf dem weichen, seidenen Polster saßen, dachten in diesem Augenblick nur an ihren Verlust, nicht an das Gerede der Welt. Ueber nacht war Bernhardi in die Ewigkeit hinübergeschlummert, sanft und kampflos, wie er’s verdient hatte, und viel früher, als seine Tochter und sein ehemaliger Schüler es gefürchtet hatten.

Astrid hatte sich in ihrem ersten Schmerz standhaft und muthig gezeigt. Sie hatte es beharrlich abgelehnt, sich vor der Beerdigung von der irdischen Hülle ihres armen Vaters zu trennen. So war dieselbe nicht, wie es sonst üblich ist, sogleich nach der Leichenhalle des Friedhofes übergeführt worden und sie selbst hatte die Wohnung nicht verlassen, wie eifrig auch Gerhard in sie dringen mochte, es zu thun. Von der Zukunft hatten sie noch nicht miteinander gesprochen, und Gerhard hatte nicht gewagt, ihr eine Geldunterstützung anzubieten, nachdem sie auf seine zaghafte Frage in ihrer ruhig kühlen Weise erklärt hatte, daß sie mit Mitteln noch ausreichend versehen sei. Alles, was er bisher hatte thun können, war die Erledigung jener traurigen Pflichten und Besorgungen, die an einem solchen Fall unvermeidlich sind und die den Hinterbliebenen so unsäglich peinvoll zu sein pflegen. Gerhard hatte an eine möglichst glänzende und prächtige Beerdigung seines ehemaligen Lehrers gedacht, aber zu seinem Befremden hatte Astrid einem solchen Vorhaben aufs bestimmteste widerstanden.

„Er hat nie mit mir davon gesprochen,“ sagte sie, „aber ich weiß trotzdem gut genug, was seine Wünsche in dieser Hinsicht waren. Still und einfach, wie er gelebt hat, soll er auch zu Grabe getragen werden. Jeder Prunk, den wir dabei entfalteten, würde der Schlichtheit seines Charakters Hohn sprechen.“

So wenig sich Gerhard auch damit einverstanden erklären konnte, so widerspruchslos mußte er sich doch ihrem Willen unterwerfen. Und es war alles hergerichtet worden, wie sie es gewünscht hatte. Es war nichts Prächtiges und Prahlerisches bei der Beerdigung des armen Musiklehrers, als die Blumen und Kränze, welche Gerhard gesandt hatte. Auch auf dem Kirchhofe ging es still zu. Kein Musikcorps geleitete den Sarg zu Grabe, keine Rede und kein Gesang wurden ihm nachgesandt in die offene Gruft. Mit todtenbleichem Antlitz und starrem Blick hatte Astrid der kurzen, schweigsamen Feierlichkeit beigewohnt. Als dann aber die ersten Schollen der harten, gefrorenen Wintererde schwer und mit dumpfem Klang hinabpolterten auf das Bretterhäuschen, welches ihr theuerstes Besitzthum barg, da verließ die Verwaiste doch die so lange mühsam behauptete Kraft. Mit einem herzzerreißenden Aufschrei stürzte sie vor, wie wenn sie sich selber hinabwerfen wollte in die gähnende Grube, und Gerhard sprang eben noch im rechten Augenblick hinzu, um die Ohnmächtige in seinen Armen aufzufangen. Willenlos ruhte die schlanke Gestalt an seiner Brust, und ihr Köpfchen lehnte matt an seiner Schulter. Und trotzdem auch er noch soeben keinen anderen Gedanken und keine andere Empfindung gehabt hatte, als den Schmerz über den Tod seines Wohlthäters und Lehrers, so regte sich doch in dieser eigenthümlichen Lage in seinem Herzen ein Gefühl, das ihn selbst überraschte, über das er sich nicht klar zu werden vermochte, und das doch sicherlich etwas anderes war als bloße brüderliche Theilnahme für Astrids Schmerz.

Aber die Schwäche, welche das junge Mädchen angewandelt hatte, ging rasch vorüber. Sie machte sich aus seinen Armen los und ihre eben nach marmorweißen Wangen glühten ist einem dunkeln Roth.

„Ich fühle mich wieder vollkommen wohl!“ erwiderte sie auf Gerhards theilnehmende Frage nach ihrem Befinden, und sie nahm jetzt nicht einmal seinen Arm an, während sie den Kirchhof verließen. Stumm legten sie den größten Theil ihrer Heimfahrt zurück; endlich aber brach Gerhard, wenn auch mit merklicher Befangenheit, das Schweigen:

„Es ist mir sehr peinlich, gerade in dieser Stunde davon zu sprechen, liebe Astrid; aber das Leben in seiner unerbittlichen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 744. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_744.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)