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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Grausamkeit nimmt nun einmal keine Rücksicht auf unsere Empfindungen. Was hast Du über die nächste Zukunft beschlossen und wie gedenkst Du Dein Leben vorerst zu gestalten?“

Astrid vermied es, ihn anzusehen, während sie mit leiser Stimme antwortete:

„Ich werde mir meinen Unterhalt verdienen.“

„Doch nicht etwa mit Deinen Stickereien?“

„Auch damit, wenn es sein muß!“ entgegnete sie ruhig. „Aber ich hoffe, einige Klavierstunden zu finden, die mich dessen überheben.“

„Wie, Du denkst daran, ein solches Sklavenjoch auf Dich zu nehmen? Weißt Du denn, was es heißt, hier in Berlin sein Brot mit Klavierunterricht zu verdienen, wenn man keinen Namen hat und wenn man im Hintertreffen steht? Meister Bernhardi würde sicherlich in Verzweiflung gerathen sein, wenn er eine derartige Absicht auch nur entfernt bei Dir vermuthet hätte, denn er selbst hat den Jammer dieses Frohndienstes leider bis zur Neige auskosten müssen. Nein, nein, Astrid, von diesem Gedanken mußt Du Dich gleich jetzt ein für allemal lossagen. Dazu werde ich niemals meine Zustimmung geben!“

Zum erstenmal seit jenem kleinen Vorfall auf dem Kirchhofe blickte sie zu ihm auf, und Gerhard war betroffen von dem ernsten, beinahe herben Ausdruck ihrer schönen Züge.

„Ich bin Dir sehr dankbar für Deine freundschaftliche Theilnahme, Gerhard,“ sagte sie mit ruhiger Bestimmtheit, „aber ich werde niemand das Recht einräumen, über mein Schicksal zu entscheiden!“

„Auch mir nicht, der ich nur Dein Bestes will und der ich Dich wie ein Bruder liebe?“

Ihre Lippen zuckten ein wenig, aber sie hob das Köpfchen fast noch stolzer empor als vorhin.

„Auch Dir nicht, Gerhard! Ich fühle mich stark genug, mir mein Leben selbst aufzubauen, und ich will lieber arbeiten, bis mich die Kräfte verlassen, ehe ich mich der Erniedrigung aussetze, ein Geschenk, ein Almosen zu empfangen.“

Das klang so fest und wohl bedacht, daß es Gerhard nicht leicht wurde, zu verbergen, wie tief er verletzt sei. Er schaute eine kleine Weile schweigend auf die öde, mit schmutzig grauen Schneehaufen bedeckte Chaussee hinaus, über welche sie fuhren, dann fragte er mit etwas gezwungen klingender Stimme:

„Willst Du mir wenigstens gestatten, Dich in das neue Heim einzuführen, welches ich für Dich ausgesucht habe? Die Familie ist mir befreundet und Du wirst dort sicherlich sehr gut aufgehoben sein.“

„Auch darin habe ich meine Entschließung bereits getroffen, Gerhard! Die Inhaberin des Geschäftes, für welches ich in der letzten Zeit gearbeitet habe, bot mir, als sie von meinem Verlust erfuhr, ein Zimmerchen in ihrem Hause an. Es ist wohlfeil und wird meinen Bedürfnissen ohne Zweifel vollkommen genügen.“

Gerhard preßte die Lippen zusammen; aber er bestürmte das Mädchen nicht mit weiteren Bitten. Als der Wagen vor dem wohlbekannten Hause in der Oranienburger Straße hielt, sprang er rasch hinaus und war Astrid dann beim Aussteigen behilflich. Er fühlte das Zittern der schmalen Hand, welche leicht auf seinem Arm ruhte, während sie ihr Gesichtchen zu ihm aufhob und in einem ganz veränderten, weichen, demüthig bittenden Tone sagte:

„Vergieb mir, wenn meine Worte Dich gekränkt haben, Gerhard! Ich wollte Dir gewiß nicht wehe thun; aber ich kann nun einmal nicht anders, und wenn Du Mitleid mit mir hast, wirst Du mich nicht fragen, weshalb.“

Ihre flehenden Augen sprachen noch beredter als ihre Lippen, und aller Groll Gerhards war wie vom Wind verweht.

„Astrid! Liebe Astrid!“ sagte er mit aufwallender Wärme, ihre schlanken Finger fest zwischen seinen beiden Händen haltend, „ich habe ja keinen anderen Wunsch als den, Dich wieder heiter und glücklich zu sehen.“

„Ueberlassen wir die Sorge dafür der Zeit!“ bat sie herzlich. „Das Geschenk Deiner Freundschaft habe ich ja willig und freudig angenommen; aber das Bewußtsein, sie zu besitzen, muß mir vor der Hand genügen.“

Damit befreite sie ihre Hand, und indem sie ihm noch einmal freundlich zunickte, eilte sie in das Haus. Gerhard verharrte für einige Augenblicke zaudernd auf dem Trottoir, unschlüssig, ob er ihn nicht dennoch folgen solle. Aber die Verabschiedung war eine zu deutliche gewesen, als daß er über ihre Wünsche hätte im Zweifel sein können, und so bestieg er denn den Wagen, indem er dem Kutscher als Ziel des Weges zurief: „Beethovenstraße 4!“

Nicht lange mehr durften seine Gedanken bei dem Tode des armen Bernhardi und bei Astrids seltsamem Benehmen verweilen, die Sorgen und Pflichten seines künstlerischen Berufs waren es, die sich rasch wieder in den Vordergrund drängten, denn gerade auf diesen Abend war seit langem das große Konzert des Tonkünstlervereins angesetzt, dessen Leiter er war. Seine Mitwirkung in demselben war unentbehrlich, und er durfte sich derselben nicht entziehen, wie auch immer seine Gemüthsstimmung beschaffen sein mochte.

Aber nicht das war es, was ihn unmuthig machte und seine Stirn in finstere Falten legte. Er zog ein kleines modefarbenes, mit einem prahlerischen Monogramm geschmücktes Briefchen aus der Tasche, das er empfangen hatte, als er eben im Begriff gewesen war, seine Wohnung zu verlassen, und mit Kopfschütteln überflog er abermals dessen kurzen Inhalt.

„Es ist mir völlig unverständlich!“ murmelte er. „Sie erklärt einfach, sie könne heute abend nicht singen, und es ist ihr nicht einmal der Mühe werth, einen Grund dafür anzugeben. Das ist mehr als eine ihrer gewöhnlichen Launen und das darf unter keinen Umständen geschehen. Es wäre eine Verlegenheit, aus der ich keinen Ausweg wüßte.“

In der kleinen vornehmen Seitenstraße am Rande des winterlich kahlen Thiergartens hielt der Kutscher.

„Erwarten Sie mich hier!“ befahl Gerhard und trat in das Haus. – „Rita Gardini“ – stand auf dem blitzenden Messingschild an einer hohen Flügelthür im ersten Stockwerk. Gerhard Steinau zog die Glocke wie jemand, der zu den Hausgenossen zählt oder der ein sonstwie begründetes Recht hat, Einlaß zu begehren. Eine blaß und verschmitzt aussehende Zofe öffnete die Thür.

„Ah, Sie sind es, Herr Steinau,“ sagte sie mit einer sehr natürlich klingenden Mischung von Ueberraschung und Bedauern. „Wie fatal, daß das gnädige Fräulein Sie nicht wird empfangen können! Sie ist sehr leidend – ein besonders heftiger Anfall ihrer alten Migräne –“

Gerhard war unterdessen bereits eingetreten und hatte die Thür hinter sich zugezogen.

„Ich muß Fräulein Gardini unter allen Umständen sprechen,“ sagte er kurz und befehlend. „Melden Sie mich ihr unbedingt! Es leidet nicht den geringsten Aufschub!“

Das Mädchen antwortete nur mit einem vieldeutigen Achselzucken und schlüpfte durch eine der nächsten Thüren. Erst nach Verlauf mehrerer Minuten tauchte ihr verschmitztes Gesichtchen wieder auf.

„Das gnädige Fräulein läßt bitten – aber sie ist wirklich sehr leidend und –“

Den Schluß ihrer Bestellung wartete Gerhard nicht erst ab, sondern trat ohne weiteres an ihr vorbei in das Gemach der Sängerin. Es war ein mäßig großer, mit hochgesteigertem Luxus ausgestatteter Raum. Auf einem Ruhebett, über das ein mächtiges Eisbärenfell gebreitet war, lag in etwas gesuchter Haltung die gefeierte Künstlerin. Da es draußen bereits zu dunkeln begann und hier drinnen noch kein Licht angezündet war, herrschte nur noch eine ungewisse Helligkeit, jenes matte Licht, das so vortrefflich geeignet ist für das vertraute, heimliche Geplauder mit einer schönen Frau. Und daß Rita Gardini Anspruch auf diesen Titel hatte, ließ sich trotz des Zwielichts erkennen. Ein kostbares Hausgewand, mit duftigen Spitzen besetzt, umhüllte ihre herrliche Gestalt, und die großen schwarzen Augen blitzten verführerisch zu dem Eintretenden hinüber.

„Warum kommst Du, mich zu quälen?“ fragte sie mit matter Stimme. „Ich hoffe, Du wirst meinen Brief rechtzeitig erhalten haben.“

„Gerade weil ich ihn erhalten habe, bin ich hier! Ich kenne Dich zu gut, Rita, als daß ich an Deine Krankheit zu glauben vermöchte. Diese Absage in einem Augenblick, da ich nicht mehr daran denken kann, einen Ersatz zu gewinnen, entspringt einzig Deinem Wunsche, mich für irgend ein vermeintliches Unrecht zu bestrafen. Ist es nicht so? Und womit habe ich Dich gekränkt?“

„Und wenn es so wäre, warum sollten wir weiter davon reden? – Ich liebe die Erklärungen und die feierlichen Auseinandersetzungen nicht. Du bist meiner überdrüssig – das ist alles! Wozu noch viele Worte über eine so alltägliche Geschichte!“

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 746. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_746.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)