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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

haben! Was war der armselige Händedruck nach Tisch, während ich sie hätte an meine Brust reißen und in meinen Armen ersticken mögen – und nun: „Gesegnete Mahlzeit!“

„Famoser Kerl!“ sagte Sternhagen und zerarbeitete meine Hand. „Kommen Sie, wir trinken noch eine Flasche von dem guten Rauenthaler zusammen, ehe ich fahre; meine Frau klagt über Kopfschmerzen. Ist reizend von Ihnen, daß Sie die kleine Eifersüchtelei vergessen haben, die damals zwischen uns spielte; ich hab’ damals gewonnen – Sie hätten’s ja auch können – einerlei, was kann das schlechte Leben helfen! Prosit, Professorchen, die Weiber sollen leben!“

Widerwillig stieß ich langsam mit ihm an. Da hob ich das Auge, wie von einem geheimen Bann getrieben; nein, nicht auf seinem immer röther erglühenden Gesicht konnte mein Blick ruhen, mit magnetischer Gewalt zog es ihn hin, dort in die Ecke, wo der Spiegel hing – da sah ich ein Bild: Gertrud, im halbdunklen Nebenzimmer am Tisch sitzend; nur ein schräger Schein seinen Lampenlichtes fiel auf ihren Scheitel, wie sie, die gerungenen Hände vor sich über den Tisch gestreckt, gesenkten Angesichts starr vor sich hinschaute, unbeweglich. Da wallte mein Herz auf in stolzem Jubel und Jauchzen: du blöder, trunkener Narr du, meinst du, sie sei um dich solch Bild der Seelennoth? Meinst du, du habest theil an dem herrlichen Gebilde, das du mit roher Faust in dein Haus geschleppt hast? Ich weiß es besser: ihre Seele ist bei mir, ist mein, und du, du lebst von Almosen – ja, nicht einmal das, denn Almosen spendet das Erbarmen, und Erbarmen kommt aus liebendem, theilnehmendem Herzen: du solltest nur sehen, wie sie reich machen kann, wenn sie die Hände aufthut und ihr Blick in Gluth aufflammt! – –

Sie fuhren ab. Sternhagen führte selbst die Zügel.

„Willst Du Siegbert nicht fahren lassen?“ bat sie leise beim Aufsteigen.

„Ach was!“ fuhr er sie rauh an. „Prr!“ Die jungen, feurigen Pferde stampften unruhig vor dem Wagen. „Also auf übermorgen, Herr Professor!“ rief er. Sie neigte dazu das Haupt in dem weißen Baschlik; das Licht vom Flur fiel auf ihr Gesicht; ein bittender Blick, ein Blick voll Trauer traf mich – da zogen die Pferde hastig an und Wagen und Menschen verschwanden im Dunkel.

Als alle Gäste fort waren, saß ich noch mit Frau Hedwig allein am Tisch.

„Habe ich nicht recht,“ sagte sie und verschränkte behaglich die Arme unter der Brust, „daß das Leben selbst alle seine Schäden heilt? Hier, nehmen Sie noch ein wenig kalten Braten, und dann zu Bett!“

Die beiden Mädchen kamen, Gutenacht zu sagen. Sie sahen bildhübsch aus in der Erregung des Abends und ihre glänzenden Augen lachten mich an. Aber mein Herz empfand nichts davon. Was gingen mich alle Frauen und Mädchen der Welt an? Uebermorgen! Nein, morgen! – Und hätte es mein Leben gekostet, ich wäre hinübergefahren! –

Ein Erntefest wie das andere, auch auf Finkenfelde! Gertrud war eine reizende, gehaltene Wirthin, die mit Blick und Lächeln die rauhe Schar in Schranken hielt, die sich von weit her an ihrem reichen Tisch gesammelt hatte. Mit warmem Händedrucke hatte sie mich bewillkommnet – in ihrem Hause! Mir lief’s doch kalt über den Rücken: – das hatte anderswo stehen sollen! Aber auch ich war nur der zuvorkommend aufgenommene Gast, kein Blick, kein Wort deutete mehr an.

Es fand sich während des ganzen Nachmittags und Abends kein einziger Augenblick, an dem ich ein unbelauschtes Wort hätte mit Gertrud sprechen können. Auch nicht während des Tanzens; denn sie tanzte überhaupt nicht heute. „Verzeihen Sie,“ bat sie, als ich sie aufforderte, „wenn ich meine Zusage von neulich nicht halten kann; aber es würde mich tödten, wenn ich mit allen erschienenen Gästen tanzen wollte, und so darf ich’s mit keinem thun, will ich nicht all die anderen verletzen.“ Sie sagte es unbefangen und mit gleichgültiger Freundlichkeit. „Aber Sie tanzen recht viel? Nicht wahr?“ fügte sie mit herzlicherem Ton hinzu.

Ich hatte gar kein Verlangen danach; aber ich that’s, um mich zu betäuben in dem dumpfen Schmerzgefühl, unter dem ich litt, und um dem allmählich immer wüsteren Treiben zu entgehen, das sich im Herrenzimmer um Bierfaß und Bowle herum entwickelte. Sternhagen ermunterte seine willigen Gäste unaufhörlich, so daß schon bei Tisch eine recht laute Fröhlichkeit herrschte, in die ich nicht einstimmen konnte und mochte. Ich saß einsilbig neben meiner Nachbarin, und immer wieder irrte wein Blick hinüber, wo Gertrud unbewegten Angesichtes neben dem jungen Oberförster saß, der sie mit Artigkeiten überschüttete.

„Es war mir wirklich unmöglich, die Erlaubniß zu geben,“ hörte ich ihn betheuern, „Sie kennen die Unerbittlichkeit unseres Grafen in solchen Dingen!“

„Warum bist du gekommen? Warum hast du dich in diese hoffnungslose Qual hineingestürzt, noch tiefer, als du schon drin warst?“ fragte ich mich.

„Prosit, Professorchen!“ schrie Sternhagen über die Länge der Tafel mir zu; „Sie sind heute gar nicht recht auf dem Damm, was fehlt Ihnen? Trinken Sie ’mal einen festen Schluck!“

Wieder flog, während ich ihm Bescheid that, mein Blick hinüber zu Gertrud, und heißer als die Gluth des Weines durchströmte mich das Gefühl des Glücks, als ich sah, wie sie die Augen voll aufschlug und, mich anschauend, ihr Glas an die Lippen führte. Hätte ich nur lesen können, welche Bitte in diesem Blick lag! Denn eine Bitte war darin verborgen, das fühlte ich. Und während ich wieder hinüberschaute, verstand ich sie; sie sprach wieder in ihrer gemessen verbindlichen Weise mit ihrem Nachbar, aber ließ dabei auf ihrem feinen Finger das Obstmesser balancieren. „Nein!“ hieß das. Jetzt also: „Sieh mich nicht an!“ Neues Leben rann mir durch die Adern: ich stand wieder in geistiger Verbindung mit ihr. –

„Na, der Sternhagen, der trinkt sich heute noch sternhagelvoll!“ bemerkte ein Nachbarspächter ziemlich laut, so daß ich’s hören konnte. Er glühte allerdings wie ein illuminirter Kürbis. Tiefes Erbarmen zog durch mein Herz. Arme, arme Gertrud!

Mir flog ein Schauder über den Rücken, als ich zusehen mußte, wie der trunkene Sternhagen nach Tisch mit roher Zärtlichkeit Gertrud in die Arme zwängte und sie mit gräßlichem Behagen küßte; ihre Arme hingen schlaff herab; wie mochte es in ihrem Herzen aussehen!

Als die letzten Gäste fortgefahren waren, schob er, unsicher auftretend und mit schwerer Zunge redend, seinen Arm unter den meinen und zog mich in sein Zimmer, wo Gertrud zurückgelehnt in dem Sofa saß und still in das Licht des Kronleuchters blickte.

„Nun wollen wir noch eine Flasche Sekt trinken, wir drei Niedlichen!“ schrie er mit Lachen – „zum Abgewöhnen, was, Professorchen?“ Und klatschend schlug er mich aufs Bein. Gertrud saß noch immer still und unbeweglich.

„Nein, nein!“ bat ich, „wir haben genug getrunken!“ Da sprang sie schnell auf. „Nein, mein Mann hat recht; wir wollen noch etwas Besonderes für uns haben!“ – und hinaus eilte sie.

Ich verstand das nicht.

Sie kam wieder und stellte selbst die Flasche und drei Kelchgläser auf das Rauchtischchen. Zu ihrem sonst so ruhigen Wesen stand in merkwürdigem Gegensatz die Hast, mit der sie die Gläser füllte und herumreichte. Sie klangen mit bleiernem Ton zusammen. Sternhagen goß mit einem Zuge den süßen Trank hinunter.

„Pfui Teufel! Das reine Spülwasser!“ rief er und schüttelte sich. – „Selbst holen, Du findest die rechte Sorte nicht –“ mit diesen Worten wies er Gertrud ab und ging schweren, unsicheren Schrittes hinaus.

Sie lehnte wieder zurück; ihre Hand spielte mit der Quaste.

„Sind Sie sehr müde?“ fragte sie.

„Nein, gar nicht! Aber Sie –?“

„Ich bliebe noch gern stundenlang auf – ich kann doch nicht schlafen!“ Sie sprach es in gedämpftem, müdem Ton, in gleichmäßigem Silbenfall.

Da tönte im dunklen Nebenzimmer ein Poltern, ein Fluch und ein Fall.

Wie der Blitz sprang Gertrud auf; mir abwinkend, eilte sie hinein in das Nebengemach und schlug die Thür hinter sich zu. Ich stand in tödlicher Verlegenheit da. Ich hörte Gertruds leise beschwichtigende Stimme, dazwischen grobe, abgebrochene Töne, bittendes Sprechen, dann das Oeffnen einer Thür und verhallende taumelnde Schritte. –

Nach kurzer Weile trat Gertrud wieder ein mit gelassenem Gesichtsausdruck. „Mein Mann läßt sich entschuldigen!“ sagte sie ruhig, ohne irgend einen Versuch der Erklärung. Sie füllte mein Glas, ließ sich wieder auf das Sosa nieder und sah hinauf ins Licht, das ihr Angesicht, das ernste, weiche, wunderschöne Frauenantlitz, röthlich übergoß.

(Schluß folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 755. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_755.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)