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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

„Astrid!“ rief er mit dem Ausdruck des höchsten Erstaunens, in der ersten Aufwallung kein anderes Wort zu ihrer Begrüßung findend. Die Hand, welche er ihr entgegenstreckte, streifte ihren Mantel und er fühlte die eisige Nässe desselben. Er sah die Schneeflocken auf ihrem Haar und die kleinen Eisnadeln in dem feinen Florgewebe des Schleiers, der ihr Gesicht verhüllte.

„Wie durchnäßt Du bist! Bist Du denn in diesem Unwetter zu Fuß gegangen? Astrid, meine liebe Astrid, ist Dir etwas geschehen?“

Für die Angst und Sorge, welche aus seinen letzten Worten klang, war in der That Grund genug vorhanden, denn als er nun die kleine, eiskalte Hand ergriff, die sie ihm matt und willenlos überließ, sah er, wie es ihre Gestalt gleich einem Frostschauer überflog, wie sie wankte und mit der freien Hand nach einer Stütze suchte, um aufrecht zu bleiben. Und noch immer sprach sie kein Wort. Gerhard legte seinen Arm um sie und führte sie zu einem Sessel. Die ungewohnte Lage erfüllte ihn mit Bestürzung und peinlichster Verlegenheit.

„Sprich nur ein einziges Wort, liebe Astrid!“ bat er. „Sage mir, was Dir zugestoßen ist, oder wenigstens, was ich thun kann, um Dir Hilfe und Erleichterung zu verschaffen! Soll ich nach einem Arzte senden?“

Verneinend bewegte sie das Köpfchen und mit zitternder Hand schlug sie ihren Schleier zurück. Die marmorne Blässe ihres Antlitzes und der seltsam schmerzliche, angstvolle Ausdruck ihrer schönen Augen waren nur geeignet, Gerhards Erregung zu steigern.

„Bitte, ein Glas Wasser – dann wird es vorübergehen!“ sagte sie so leise, daß er Mühe hatte, sie zu verstehen. „Es überkam mich so plötzlich, als ich Dich vor mir sah. Was mußt Du von mir glauben, mich um diese – Stunde – hier –“

Wieder erzitterte sie, so daß ihre Zähne hörbar aufeinander schlugen, und sie schloß für kurze Zeit die Augen, noch ehe sie den begonnenen Satz hatte vollenden können. In höchster Rathlosigkeit ließ Gerhard die Blicke im Zimmer umherschweifen, wie wenn ihm da aus irgend einem Winkel hätte Beistand kommen können.

„Wie schlecht wirst Du von mir denken!“ wiederholte sie tonlos. Es war, als ob diese eine Sorge all ihre Gedanken ausschließlich beherrschte.

„Ich denke nichts anderes, Astrid, als daß Du meiner bedarfst, und daß Du wohl gethan hast, Dich an keinen anderen zu wenden als an mich,“ suchte er sie zu beruhigen. „Und ich will Dich nicht weiter mit Fragen quälen. Du mußt Dich vor allem ausruhen und Dich erholen. Der weite Weg in diesem winterlichen Unwetter ist es, der Dich angegriffen hat.“

Sie machte eine heftige Anstrengung, die Betäubung, welche sich ihr immer schwerer und drückender auf Haupt und Glieder legte, abzuschütteln, und indem sie ihm ihr bleiches Gesicht zuwendete, sagte sie:

„Nein, nicht dieser Weg war es! Und Du mußt alles wissen, Gerhard! Ich bin Dir eine Erklärung schuldig. Man hat mich schändlich hintergangen, – man hat meine Schutzlosigkeit mißbraucht, mich zu beschimpfen. Sie haben – diese Frau – ich – o mein Gott – ich kann nicht mehr!“

Sie hatte einen Versuch gemacht, aufzuspringen, aber sie war sogleich in den Sessel zurückgesunken. Kraftlos fiel ihr Kopf zurück, ihre Augen schlossen sich und ihr Aussehen war für einen Augenblick ganz dasjenige einer Sterbenden. Hier konnte es für Gerhard keine andere Rücksicht mehr geben als die auf ihren offenbar bedenklichen Zustand, und ohne Besinnen drückte er auf den Knopf der elektrischen Glocke, die seinen Diener herbeirief.

„Schaffen Sie mir unverzüglich Frau Runge zur Stelle!“ befahl er dem höchlichst erstaunten jungen Menschen „und laufen Sie, so schnell Ihre Füße Sie tragen wollen, zu einem Arzt! Es ist gleichgültig, welchen Sie mir bringen, wenn er nur mit möglichst geringem Zeitverlust hier sein kann.“

Während sich der Diener entfernte, hob Gerhard die leichte Gestalt des jungen Mädchens auf seine Arme und trug sie zu einer Chaiselongue. Er befreite ihre Stirn von dem Druck des Hutes, und er hätte Astrid gern auch den schweren, nassen Mantel abgenommen, wenn er dazu imstande gewesen wäre. Aber solche Hilfeleistungen waren ihm zu ungewohnt, und er konnte nichts anderes thun, als in verzweifelnder Unthätigkeit neben dem Lager der Bewußtlosen verweilen, bis ihn endlich die Aukunft der Frau Runge, einer Witwe, welche die häuslichen Arbeiten in seiner Junggesellenwohnung zu verrichten pflegte, aus seiner wenig beneidenswerthen Lage befreite.

„Ihr Diener sagte mir, ich solle eiligst hierherkommen, weil jemand bei Ihnen krank geworden sei, Herr Steinau – habe ich ihn da wirklich richtig verstanden?“

„Leider ja, liebe Frau Runge! – Sie sehen wohl, hier ist die Patientin.“

„O, eine Dame!“

Der Ton dieses eigenthümlich langgezogenen Ausrufs und noch mehr der sonderbare Ausdruck, welchen das Gesicht der ehrbaren Witwe annahm, hätten Gerhard fast eine zornige Entgegnung auf die Lippen gedrängt, aber er sah wohl ein, daß er es in seiner hilflosen Lage nicht mit der Frau verderben dürfe, und so ließ er sich denn zu einer Art Erklärung herbei.

„Ja! Eine mir befreundete Dame, die bei einem Besuch von plötzlichem Unwohlsein befallen wurde. Ich werde Ihnen für jeden Dienst, welchen Sie mir in diesem Falle leisten, ganz besonders dankbar sein.“

Die Frau nickte verständnißvoll, und vielleicht wirkte der Anblick des lieblichen, todtenblassen Antlitzes in höherem Maße auf ihr Mitleid ein, als Gerhards Versprechung.

„Na ja, man weiß wohl, daß so etwas vorkommen kann,“ meinte sie, „und das arme, junge Ding sieht ja so reizend und unschuldig aus wie ein Kind. Aber wir müssen ihr den schweren Mantel ausziehen und das Kleid etwas lockern. Dann wird die Ohnmacht sich schon heben.“

Sie griff geschickt und rüstig an, während Gerhard zur Seite trat; aber ihr Gesicht wurde doch immer ernster.

„Es wäre zu wünschen, daß der Arzt nicht mehr lange auf sich warten ließe, Herr Steinau,“ meinte sie, „denn so leicht, wie ich anfänglich glaubte, scheint die Sache nicht zu sein. Sie kommt noch immer nicht zu sich, man sieht kaum, daß sie athmet, und der Herzschlag ist so leise, als wenn er in jedem Augenblick ganz aufhören wollte.“

Das alles war wie im Tone eines ernsten Vorwurfs gegen Gerhard gesprochen, und dieser sah wohl ein, daß es vergebliches Bemühen sein würde, die Frau zu einer richtigeren Auffassung des Vorfalls zu bringen. Und wie gleichgültig war ihm auch ihre gute oder schlechte Meinung in diesen Augenblicken namenloser Sorge! Die Vorwürfe, welche er sich selber machte, waren ja viel bitterer und schwerer, als sie irgend ein anderer gegen ihn erheben konnte, denn auch ohne daß er die Ursache von Astrids furchtbarer Erregung kannte, zweifelte er nicht, daß ihr dieselbe hätte erspart werden können, wenn er dem Gelöbniß, welches er seinem sterbenden Lehrer abgelegt hatte, nicht gar so schnell untreu geworden wäre. –

Nach Verlauf einer bangen Viertelstunde kam der Diener in Begleitung eines ernst dreinschauenden alten Herrn zurück, welcher sich Gerhard kurz als Sanitätsrath Doktor Maibaum vorstellte und dann an das Lager der Kranken trat.

„Es handelt sich da um eine plötzliche Erkrankung, wenn ich Ihren Boten richtig verstanden habe,“ sagte er. „Wollen Sie die Güte haben, mir zu sagen, unter welchen Umständen dieselbe erfolgt ist?“

Gerhard gab eine kurze, wahrheitsgemäße Darlegung des Sachverhalts, welche zugleich die Unverfänglichkeit dieses späten Besuches darthun mußte. Dem unbeweglichen Gesicht des Sanitätsraths war es nicht anzusehen, ob er diesen Mittheilungen Glauben schenkte oder nicht. Schweigend machte er Gerhard ein Zeichen, das Zimmer zu verlassen, und die Untersuchung, welche er unter dem Beistand der Frau Runge vornahm, mußte wohl eine sehr gründliche und eingehende sein, denn es verging eine lange Zeit, bevor Gerhard die Erlaubniß erhielt, wieder einzutreten.

Der Sanitätsrath stand am Pult und schrieb ein Rezept. Er hatte die Lippen zusammengepreßt und tiefe Furchen zeigten sich auf seiner Stirn.

„Schicken Sie das sofort zur Apotheke!“ sagte er. „Außerdem werden Sie sich bemühen müssen, noch für diese Nacht eine Wärterin zu erhalten.“

Gerhard war aufs höchste betroffen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 759. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_759.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)