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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Der Achensee.

Schilderung von Max Haushofer. Mit Abbildungen von Tony Grubhofer.

Das schöne Land Tirol ist arm an Seen. Wohl liegt hoch droben in den entlegensten Thälern mancher felsumrandete kleine Wasserspiegel, in geisterhafter Stille, umstarrt von kahlen Felsmauern, von Schutthalden und bleichen Schneefeldern. Aber von größeren Binnenwassern sind nur zwei vorhanden: im Süden bespült auf eine kurze Küstenstrecke, gegen die lombardische Ebene hinaus, der Gardasee die Grenze Tirols, und im Norden, nahe der bayerischen Grenze, liegt der Achensee. Dafür hat die Natur diese beiden Wasser mit landschaftlichen Reizen ausgestattet, welche sie hinter den berühmtesten schweizer Seen nicht zurücktreten lassen.

Der Achensee bot sich, ehe im Sommer dieses Jahres die neue Zahnradbahn von Jenbach im Unterinnthal aus an seine Ufer geführt ward, als ein prächtiges Eingangsthor für die von Norden her nach Tirol einschwärmenden Alpenwanderer dar. In Zukunft werden wohl die meisten, die ihn sehen wollen, sich von dem keuchenden Dampfroß den Jenbacher Berg hinauf und wieder hinunter ziehen lassen. Denn der Weg von Norden her, vom Tegernsee bis an den Achensee, ist weit und führt durch einförmige Waldthäler. Ungleich großartiger aber ist dafür der Eindruck, den wir vom See erhalten, wenn wir zuerst sieben Stunden lang durch diese Waldthäler auf staubiger Straße hingewandert sind und dann den wunderbar blauen Seespiegel begrüßen, dessen riesenhafte Bergumwallung um so großartiger wird, je mehr man sich seinem Südende nähert. Es giebt so auch in den Alpen manche stiefmütterlich von der Natur behandelte Landschaft, in welcher die Berge nicht so formenreich, die Wasser nicht so lebendig, die Thäler nicht so mannigfach gegliedert sind, der Gegensatz von starrem Fels und üppigem Pflanzenkleide nicht so malerisch ist wie anderwärts. Zu diesen landschaftlichen Stiefkindern gehört auch jene Thalweitung, die von Tegernsee aus nach dem Achensee leitet. Wer sie einmal zu Fuße durchwandert hat, thut das nicht zum zweiten Male; es müßte denn sein, daß er als Kulturhistoriker unterwegs ganz ausnehmend interessante Menschen zu beobachten Gelegenheit hatte. Von Landschaft aber finden wir hier nichts, als einförmigen grünen Bergwald, über welchen nur ab und zu in beträchtlicher Ferne ein höheres Felshaupt hereinschaut, um bald wieder zu verschwinden. Auch die Wasser, die hier thalwärts fließen, erscheinen zahm und friedlich für den, der an die furchtbar tosenden Gletscherbäche des Oetzthals oder der Tauernthäler sich erinnert.

So erreicht der von Norden her kommende Wanderer fast etwas ermüdet und unzufrieden das stundenlange Dorf Achenkirchen oder Achenthal, welches sich fast bis an den See hinzieht. Es liegt in flachem Thalboden, der unzweifelhaft früher auch See gewesen ist, im Lauf undenklich langer Zeiträume aber trockengelegt ward. Im Osten über dem Dorfe baut sich der gewaltig breite Bergrücken des „Unnütz“ auf, von dem der launige altbayerische Dichter Kobell einst sang:

„Und waar an jeder Lump so groß,
Als wie der Unnütz is,
Sie stehletn vom Himmi d’ Stern
Und z’letzt gar ’s Paradies.“

Trotz seines verdächtigen Namens aber hat sich dieser Unnütz doch den Ruf einer vorzüglichen und leicht erreichbaren Aussichtswarte erobert.

Wer nun das Dorf Achenkirchen auch noch durchwandert, steht bald am Ufer des Sees. Hier, an seiner Nordspitze, ahnt man noch wenig von seiner ganzen Schönheit; da ist er wie jene verschlossenen Menschen, die ihre ganze Liebenswürdigkeit nicht schon bei der ersten oberflächlichen Bekanntschaft zeigen, sondern gründlicher genommen sein wollen. Nur eins kann er auch hier nicht verbergen: die unvergleichliche azurne Farbe und Klarheit seiner Fluth. Das ist ein Blaugrün von so zauberhaftem Schimmer, daß man meinen möchte, der Seegrund sei eine riesige, hohl geschliffene Krystallschale, unter welcher ein wolkenloser Himmel ausgebreitet liege. Und doch ist’s bloß einfaches Kalkgeröll, das diesen Seegrund bildet, wie ja die Berge, die den See umsäumen, nichts sind, als weißgraues Kalkgestein, an dessen Steilhängen schwarzgrüne Fichtenwaldung niedersteigt.

Neun Kilometer lang und etwa einen Kilometer breit erstreckt sich der See von Nord nach Süd in enger Thalspalte. Zeiträume, die dem armen menschlichen Gedanken als unermeßlich erscheinen, sind vergangen, seit diese Thalspalte aufgerissen ward, damals, als unterirdische Mächte den Zug der nördlichen Kalkalpen aus der berstenden Erdrinde herauftrieben. Zuerst warfen sich die Wasser, die von den Bergen in diese Spalte stürzten, wohl schäumend in das tiefere Innthal hinab. Dann aber kamen die Jahrtausende der Eiszeit; hoch aus den wachsenden Schneelandschaften Graubündens wälzte sich der gewaltige Inngletscher. Und wie dieser Gletscher, als ein 4000 Fuß tiefer und meilenbreiter gefrorener Strom durch das Innthal herabrückte, schob er mit seiner frostigen Flanke einen riesigen Schuttwall gegen jene Thalspalte hin. Durch diesen Schuttwall ward ihr südlicher Ausgang versperrt, so daß die Gewässer sich nach und nach zum See aufstauten und endlich nach Norden hin einen Abfluß suchen mußten. So mag der Achensee entstanden sein, und so erklärt sich’s, daß sein Wasser, obwohl sein südliches Ufer kaum anderthalb Stunden vom Innstrom entfernt ist, doch nicht nach diesem abfließt, sondern nach der weit nordwärts strömenden Isar. Man sagt übrigens, ein Theil seiner Gewässer sickere noch durch jenen Schuttwall, um in Gestalt von starken Quellen gegen das Innthal hervorzubrechen.

Anders als der gedankenschwere Gang der Naturforschung erklärt freilich träumende Volkssage, wie der See entstanden sei. Vor undenklich langen Zeiten, sagt sie, seien da, wo jetzt die Seefluth rauscht, grüne Felder gewesen, Getreideland und sonnige Wohnstätten. Die Menschen aber, die hier hausten, seien übermüthig und stolz geworden in ihrem Reichthume. Und als eines Abends ein Mann mit langem Bart und wallendem Mantel daher kam, um Obdach für seine müden Glieder bittend, habe man ihm von Haus zu Haus die Rast verweigert und ihn zuletzt mit Hunden in die Nacht hinaus gehetzt. Da sei er hinaufgestiegen ins Steingeklüft des Hochgebirgs, um sein Haupt dort in Felsen zu betten. Aber über die herzlosen Thalwohner kam in derselben Nacht noch ein grausiges Strafgericht; die Berge barsten und spieen Wasserströme aus, und als die Morgensonne ins Thal glänzte, waren Dorf und Gehöft versunken; hoch darüber rauschte die Welle des Achensees.

Allmählich wird wohl auch diese Sage verklingen, wie so viele andere. Sie ist undeutlich geworden im Lauf der Jahrhunderte, da sie von Geschlecht zu Geschlecht schwankend wandern mußte, wandern wie der alte nächtliche Wandersmann, dessen irre Nebelgestalt wohl an Wodan, den alten Heidengott, erinnern mag. Es ist eine von jenen Sagen, die sich in wenig veränderter Form bei allen Völkern und in allen Zeiten bilden. Sie bewohnen den Erdkreis als lustige Geschöpfe der Völkerphantasie; sie schwinden aus den Städten; vor dem hastenden Lärm des Jahrhunderts und vor der entschleiernden Arbeit des Gedankens flüchten sie in die einsamsten Landschaften, wo sie noch bei Hirten und Köhlern eine Heimstatt finden. Wie lange – und auch diese wird ihnen genommen!

Frühere Alpenforscher gaben dem Achensee die ungeheure Tiefe von etwa 800 Metern, ohne zu bedenken, welch’ ein fürchterliches Loch sie damit in den Boden des Landes Tirol rissen. Neuere Messungen haben diese Tiefe auf etwa 130 Meter zurückgeführt, was immerhin noch anständig genug erscheint. Dabei ist er durchaus Gebirgssee. An seiner Ostseite flankiren ihn der breite Rücken des Unnütz und südlicher die Berggruppe des Hoch-Iss und Sonnwendjochs; an der Westseite der Seekar und Rabenspitz und südlicher die breite Felswand des Stanser Joches. Die Gehänge dieser über 2000 Meter hohen Berge fallen so steil nach dem See zu ab, daß der größte Theil seines westlichen Ufers wegen deren Steilheit völlig ungangbar ist. Am östlichen Ufer führt zwar die Straße entlang, sie mußte aber stellenweise in jäh abschießende Kalkwände gesprengt oder auf Pfählen in den See hinaus gebaut werden.

Obwohl sein Abfluß, die Ache oder Walchen, nach Bayern hinaus strömt, ist der Achensee doch von Tirol aus besiedelt worden. Warum, das begreift sich leicht, wenn man erwägt, wie lang und finster der Weg von Bayern und wie kurzweilig und anmuthig der aus dem Innthal herauf ist. So alt auch der Verkehr zwischen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 764. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_764.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)