Seite:Die Gartenlaube (1889) 774.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Erfahrung machen müssen, daß der oberflächliche Schein der Sünde für jedermann hinreichend sei, das Vorhandensein dieser Sünde als unzweifelhaft anzunehmen, so hatte ihn doch keine jener Verdächtigungen so tief verletzen können wie die aus dem Munde des Weibes, welches er liebte.

„Ich vermag Deine Erregung nicht zu begreifen, Rita,“ sagte er, sich nur mit Anstrengung bezwingend. „Du weißt, daß Astrid keinen Freund hat als mich. Irgend ein Niederträchtiger, der mir furchtbare Rechenschaft geben soll, muß ihr ein schweres Leid zugefügt haben, und niemand war da, bei dem sie Schutz und Beistand suchen konnte, als ich. In Sturm und Wetter eilte sie zu mir, und noch ehe sie imstande gewesen war, mehr als zehn Worte zu sprechen, brach sie ohnmächtig zusammen.“

„Ein rührendes Märchen – und höchst glaubhaft vorgetragen. Aber doch schließlich wohl auf kindlichere Gemüther berechnet, als es das meinige ist. Ich bitte Dich, dem Kutscher zuzurufen, daß er halte.“

„Weshalb, Rita? – Was soll das bedeuten?“

„Es soll bedeuten, daß ich Deine weitere Begleitung für eine Verschärfung des doppelten Schimpfes ansehen würde, den Du mir heute angethan hast. Ich wüßte nicht, daß wir noch etwas weiteres mit einander zu reden hätten.“

„Und das – das ist Deine Antwort, Rita? – Du schenkst meiner Versicherung keinen Glauben? Du hältst mich für fähig, ein verbrecherisches Doppelspiel getrieben zu haben? – Nein, das ist unmöglich! Eine thörichte Aufwallung hat Dich hingerissen, und Du mußt auf der Stelle einsehen, daß Du mir ein schweres Unrecht zugefügt hast!“

„Verlangst Du nicht vielleicht gar, daß ich Dich und Deine – Deine Freundin demüthig um Verzeihung bitte?“ fiel ihm Rita scharf und höhnisch ins Wort. „Gieb Dir keine Mühe, mein Lieber! Einer Nebenbuhlerin dieses Schlages räume ich kampflos das Feld.“

„Rita! Du weißt nicht, was Du sprichst! Meine Liebe zu Dir hat manche Probe bestanden, an der eines andern Mannes Neigung vielleicht Schiffbruch gelitten hätte. Weder Dein Wankelmuth und Deine Launen, noch Deine beharrliche, unbegreifliche Weigerung, endlich auch vor aller Welt die Meine zu werden, haben mich zu beirren vermocht. Aber es giebt Kränkungen und Beleidigungen, die ein Mann nicht demüthig hinnehmen darf, wenn er die Achtung vor sich selbst nicht verlieren will. Höher noch als meine Liebe steht mir meine Ehre!“

„Und dies zarte Ehrgefühl hat Dich doch nicht gehindert, ein gegebenes Versprechen feige zu brechen! Geh’, mein Freund! Du weißt – ich habe zu oft auf dem Theater gestanden, als daß ich mir die Empfänglichkeit bewahrt haben sollte für tönende Redekünste.“

Schon huschten gleich schattenhaften Gespenstern die kahlen Bäume des Thiergartens an den Wagenfenstern vorüber. Nur wenige Minuten noch – und das Ziel der Fahrt war erreicht. Jedes der beiden fühlte, daß in diesen wenigen Minuten die Entscheidung über die Zukunft ihrer Liebe lag. Gerhard athmete schwer. Das Herz war ihm zum Zerspringen voll und ihn dürstete nach einem Athemzuge frischer Luft. Der berauschende Duft, der von diesem Weibe ausging, drohte ihn zu betäuben.

„Ich darf solche Worte nicht ertragen, Rita! Noch einmal flehe ich Dich an: wirf diesen thörichten Verdacht von Dir und sei barmherzig gegen eine Unglückliche, deren reiner Kindessinn nichts weiß von diesen häßlichen Dingen, welche Dein Argwohn ihr zuschreibt. Laß uns für immer begraben, was in dieser traurigen Viertelstunde zwischen uns gesprochen wurde, und folge mir an das Lager der armen hilflosen Kranken!“

„Niemals!“

„Und wenn Du ihr damit das Leben retten könntest?“

„Niemals! – Und gerade dann am wenigsten!“

Ein lautes Klingen und Klirren von zerbrechendem Glas folgte diesen harten, mit liebloser Schärfe hervorgestoßenen Worten. Mit wuchtigem Faustschlage hatte Gerhard die Scheibe des Wagenfensters zertrümmert, neben welchem er saß, und mit donnernder Stimme hatte er dem erschrockenen Kutscher sein „Halt!“ zugerufen. Noch ehe die Pferde standen, war er draußen auf der Straße. Er warf keinen Blick nach der Sängerin zurück, und er rief ihr kein Wort des Abschieds zu, aber während er sich mit langen Schritten entfernte, hörte er noch ihre schöne, glockenhelle Stimme: „Fahren Sie nur weiter! – Es ist alles in Ordnung.“


4.

Mitternacht war längst vorüber und drinnen im Hause wie draußen auf der Straße war es todtenstill. –

Ein dunkelfarbiger Schirm dämpfte das Licht von Gerhards Studirlampe, und das Antlitz der jungen Kranken lag in tiefem Schatten. Von dem Lehnsessel am Kopfende des Bettes her ertönten die tiefen und regelmäßigen Athemzüge der wackeren Frau Runge, die nach den Mühseligkeiten ihres anstrengenden Tagewerks bald in friedlichen Schlummer gesunken war. Sicherlich wäre es eine Unbarmherzigkeit gewesen, sie zu wecken, und es bedurfte dessen ja auch nicht, denn es war einer da, dessen Augen sich nicht im Schlafe schlossen, wie heiß es auch in ihnen brennen mochte und wie schwer auch ihre Lider waren.

Das Haupt in die Hand gestützt, saß der Künstler an seinem Schreibtisch, und von den Notenblättern hinweg, an denen er hatte arbeiten wollen, schweifte sein Blick immer wieder nach dem verdunkelten Schlafzimmer, in welchem die unschuldige Ursache all jener Stürme ruhte, die ihm der heutige Abend gebracht hatte. Gerhard war, nachdem er Rita verlassen hatte, unverweilt nach Hause zurückgekehrt, denn es gab ja keine Möglichkeit, noch für diese Nacht eine andere Pflegerin zu beschaffen, und zudem befiel ihn plötzlich eine unbeschreibliche Unruhe und die namenlose Angst, daß er überhaupt schon zu spät kommen könnte. Als er dann gesehen hatte, daß Astrid noch immer in dem nämlichen Zustande schwerer Bewußtlosigkeit sei, wie er sie verlassen hatte, war er für eine kurze Spanne Zeit im Zweifel gewesen, ob er zurückbleiben oder sich noch für diese Nacht in einen Gasthof begeben sollte. Der abscheuliche Verdacht, der ihm an diesem Abend nun schon in den verschiedenartigsten Gestalten entgegengetreten war, konnte ja möglicherweise durch sein Verweilen neue Nahrung erhalten, und die Rücksicht auf das Gerede der Welt, die er bis dahin kaum gekannt hatte, lag ja nun einmal auf ihm wie eine centnerschwere Last. Aber er fühlte doch noch eine andere Bürde auf seinem Herzen, die Bürde der schweren Verantwortung, die er durch das feierliche Gelöbniß am Sterbebette seines Lehrers auf sich genommen hatte, und es bedurfte nur eines kurzen Kampfes, um ihn zu der Ueberzeugung gelangen zu lassen, daß diese heilige Pflicht den Sieg davontragen müsse über die kleinliche Furcht vor der Welt und ihren engherzigen Vorurtheilen.

Er war geblieben; und nun lauschte er mit gespanntester Aufmerksamkeit nach Astrids beschattetem Lager hinüber, von jedem winzigen Geräusch, welches da vernehmlich wurde, erschreckt wie von dem Vorboten irgend eines fürchterlichen Ereignisses. Mehrmals schon war er aufgestanden, war leise auf den Zehen zu dem Bett hinüber geschlichen und hatte sich vorsichtig auf das feine, bleiche Gesichtchen herabgebeugt, das jetzt in einer nur zu bedrohlichen Weise dem Antlitz ihres Vaters glich, so wie er es zuletzt in der kleinen halbdunklen Stube auf dem weißen Bettkissen gesehen hatte. Die Angst, welche sich in solchen Augenblicken wie eine erstickende Eisenklammer um sein Herz legte, hätte ihn fast verführt, mit zärtlicher Stimme laut ihren Namen zu rufen und sie in seine Arme zu nehmen, um das schwache Daseinsfünkchen, welches in diesem zarten Körper nur noch leise und ängstlich zu glimmen schien, mit dem Hauch seiner eigenen strotzenden Lebenskraft zu heller, lodernder Flamme anzufachen.

Er dachte längst nicht mehr an Rita und an den stürmischen, feindseligen Abschied, welchen er von ihr genommen hatte. All sein Fühlen und Denken richtete sich ausschließlich auf Astrid, und was sonst an diesem Abend geschehen sein mochte, lag hinter ihm wie ein wirrer Traum, dessen Erinnerung verschwindet, um vielleicht erst nach langer, langer Zeit wie durch einen Zufall im Gedächtniß wieder aufzutauchen.

Gewaltsam zwang er seine Gedanken noch einmal zu seinem Werke zurück, aber er hatte kaum einen einzigen Strich gethan, als er den Bleistift von sich schleuderte und wie elektrisirt in die Höhe fuhr. Leise zwar wie ein Hauch, wie ein sehnsüchtiger Ruf aus weiter, weiter Ferne, aber in der lautlosen Stille der Nacht doch deutlich vernehmbar, war der Klang seines eigenen Namens an sein Ohr gedrungen, und wie er nun sein Gesicht nach Astrids Lager hinwendete, hörte er’s noch einmal und etwas lauter von ihrer weichen, schwachen Stimme:

„Gerhard! Gerhard!“

Heiß wie ein Feuerstrom drängte ihm die Freude zum Herzen, und blitzschnell war er an ihrer Seite. Astrid lag noch immer

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 774. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_774.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)