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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Der Fremde, auf den das liebliche, befangene Mädchen entschieden Eindruck machte, ging indessen langsam weiter und kehrte noch einmal um. Eine unverhohlene Lustigkeit und ein mühsam bekämpftes Lachen lag auf seinem Gesicht, als er hinter Karl vorkam und vorn an den Planhaltern vorbeiging.

„Guten Morgen, Herr Amtsrichter Schwarz,“ sagte er, indem er den Hut tief vor den Damen zog und sich anschickte, seinen Weg fortzusetzen.

Aber er hatte die Rechnung ohne den Wirth gemacht. Aufs äußerste gereizt, stürzte der Amtsrichter hinter ihm her.

„Mein Herr, was fällt Ihnen ein? Woher kennen Sie meinen Namen und Titel?“ brachte er mühsam hervor, während Helene ihm vergeblich mit einigen „aber Karl!“ über die ihr selbst unfaßliche Thatsache fortzuhelfen suchte.

Karl schüttelte sie unwillig ab.

„Wie kommen Sie dazu,“ wiederholte er mit noch größerer Heftigkeit, „mich bei meinem Namen anzureden?“

„Ja, wenn der ein Geheimniß sein soll, verehrter Herr,“ sagte der Fremde lachend, „da möchte ich Sie freilich darauf aufmerksam machen, daß es besser wäre, Sie trügen ihn weniger deutlich auf dem Rücken!“

Karl starrte den Sprecher wortlos an. Helene drehte ihren Mann mit größter Schnelligkeit herum – ja, nun war freilich das Räthsel gelöst! Der unselige Kürschner hatte in der Eile vergessen, den Zettel von dem Pelz abzunehmen, mit dem er dieses Werthstück vor andern ihm in Verwahrung gegebenen bezeichnet hatte, und unser armer Karl lief seit einer Stunde in Berlin herum, einen großen Zettel auf dem Rücken, auf dem mit großen Buchstaben stand: „Herr Amtsrichter Schwarz!“

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.


Daniel Sanders. Am 12. November feierte ein deutscher Gelehrter, dessen Arbeiten unserem ganzen Volke zugute kommen und der auch den Lesern der „Gartenlaube“ wohl bekannt ist, seinen siebzigsten Geburtstag. Daniel Sanders hat mit einem bewundernswerthen Fleiße und einer rühmenswerthen Ausdauer an der Erfüllung seiner Lebensaufgabe gearbeitet, das Verständniß der deutschen Muttersprache unserem Volke zu erschließen, in großen wissenschaftlichen Arbeiten den Geist derselben zu erforschen und ihren Reichthum darzulegen, den sie in ihrer neuesten Entwickelung bietet.

Er ist am 12. November 1819 zu Altstrelitz geboren, studierte seit 1839 zu Berlin und Halle und erhielt 1843 die Direktion der Schule in Altstrelitz, die unter seiner Leitung zur Blüthe gelangte, aber wegen ungünstiger Verhältnisse im Jahre 1852 einging. Seitdem lebt er als Privatgelehrter und entfaltete auf dem von ihm beherrschten Gebiete eine lebhafte Thätigkeit, welche ihm eine einflußreiche Stellung sicherte und ihn mit der Zeit zu einem der ersten Vertreter der Sprachgelehrsamkeit machte. Mit den Grundsätzen, nach denen das große Grimmsche Wörterbuch ausgearbeitet wurde, war er nicht einverstanden und er verfaßte mehrere Schriften, in denen er seine abweichenden Ansichten aussprach. Doch dieser kritische Standpunkt genügte ihm nicht; er warf selbst eine wissenschaftliche That in die andere Wagschale und verfaßte das große „Wörterbuch der deutschen Sprache“ (1859 bis 1865, drei Quartbände). An dem Grimmschen Lexikon arbeitet bekanntlich eine größere Zahl deutscher Gelehrter mit. Sanders nahm die Riesenarbeit ganz allein auf sich und führte sie in einer Weise durch, welche auch seinen Gegnern Achtung abnöthigte. Von Luther bis auf die jüngste Zeit stellte er zusammen, was der Sprachgenius durch seine begnadeten Jünger geschaffen hat, und erwarb sich dadurch ein nicht geringes Verdienst, daß er gerade die neueste Litteratur in ihren Hauptvertretern, welche die deutsche Sprache wesentlich fortentwickelt haben, mitberücksichtigte. Ergänzungen dieses großen Wörterbuchs waren das „Wörterbuch deutscher Synonymen“ (1871) und das „kurzgefaßte Wörterbuch der Hauptschwierigkeiten in der deutschen Sprache“ (18. Aufl. 1888); das letztere, auch in erweiterter Gestalt unter dem Titel „Wörterbuch der Hauptschwierigkeiten in der deutschen Sprache“ erschienen, ist ein vorzügliches Hilfsbuch für alle, welche hier und dort rathlos dem schwankenden Sprachgebranch gegenüberstehen. Ein Auszug aus dem großen Wörterbuche, das „Handwörterbuch der deutschen Sprache“ (1869; 4. Aufl. 1888), erweist sich ebenfalls als ein sehr volkstümlicher Rathgeber; jenem aber, seinem großen Hauptwerke, hat er später sein „Ergänzungswörterbuch der deutschen Sprache“ als Abschluß hinzugefügt.

In zwei wichtigen Fragen, welche gegenwärtig die deutschen Sprachmeister und Sprachjünger in zwei getrennte Heerlager theilen, hat der Fleiß von Daniel Sanders wesentlich vorgearbeitet. Die eine dieser Fragen ist diejenige der Fremdwörter: das „Fremdwörterbuch“ unseres Gelehrten (1871, 2 Bände), mit großem Fleiß ausgeführt, giebt genaue Auskunft über die Bedeutung der mehr oder weniger bei uns eingebürgerten Eindringlinge; in seinem „deutschen Sprachschatz, geordnet nach Begriffen“ (1874–1876) hat er auch dem Fremdwort, soweit es in den Werken unserer großen Schriftsteller heimisch geworden ist, die gleichberechtigte Stelle neben dem urdeutschen Sprachschatze eingeräumt. Die zweite Frage betrifft die deutsche Rechtschreibung: als es sich um eine Neugestaltung derselben handelte, wurde er von den preußischen Behörden als Sachverständiger mit zu Rathe gezogen. Seinem „Katechismus der deutschen Orthographie“ (4. Aufl. 1878) ließ er seine „Vorschläge zur Feststellung einer einheitlichen Rechtschreibung für Alldeutschland“ (1873–1874) und sein „Orthographisches Wörterbuch“ (2. Aufl. 1876) folgen.

Wir können hier nicht auf alle seine andern zahlreichen Veröffentlichungen, nicht auf seine „Deutschen Sprachbriefe“ in der Form der Toussaint-Langenscheidtschen Methode, auf seine „Geschichte der deutschen Sprache und Litteratur“, auf seine Schriften über das Neugriechische, auf seine eigenen Gedichte, in denen zum Theil eine satirische Ader sich geltend macht, eingehen. Die Summe seiner wissenschaftlichen Leistungen ist eine so bedeutende, so unmittelbar in die Gegenwart eingreifende, daß das deutsche Volk wohl die Pflicht hat, den Ehrentag des deutschen Gelehrten nicht unbeachtet vorübergehen zu lassen.

Die Wohnungsnoth der ärmeren Klassen. Wer durch Beruf oder eigenen Antrieb in eine Reihe von Wohnungen geführt wird, in denen die Angehörigen der ärmeren und ärmsten Klassen, eng zusammengedrängt, ihr Dasein fristen, der wird zur Ueberzeugung kommen, daß hier einer der wundesten Punkte unseres gesellschaftlichen Lebens liegt und daß hier vor allem der Hebel der Besserung und Neugestaltung angesetzt werden muß. Es ist von Lehrern der Volkswirthschaft, von praktischen wohlwollenden Männern in England, Frankreich und Deutschland viel über diese Frage geschrieben worden, und erst neuerdings hat ein mit vielen thatsächlichen Mittheilungen ausgestattetes Schriftchen von Ludwig Fuld unter dem obigen Titel in den „deutschen Zeit- und Streitfragen“ dieses Thema behandelt.

Die Wohnungsnoth der ärmeren Klassen mag in den Städten, besonders in den Großstädten am größten sein, aber auch auf dem flachen Lande, in den Dörfern zeigt sich das gleiche Elend. Die Statistik hat aber die Verhältnisse der Hauptstädte besser durchforscht und auf der Grundlage dieser Forschungen Zahlen aufgestellt und gruppirt, welche beredter sprechen als alle wohlmeinenden Betrachtungen. Die Vermehrung der kleinen Wohnungen steht hier in keinem Verhältniß zur Vermehrung der Bevölkerung; daraus ergeben sich alle Mißstände und der ganze Jammer, der sich an die Wohnungsnoth knüpft. In Berlin z. B. ist zwar außerordentlich viel gebaut worden; ganze neue Stadttheile sind im Westen aus der Erde gewachsen, aber das sind im ganzen große, behagliche, luxuriöse Wohnungen. Dagegen macht sich der Mangel an kleinen Wolnungen überaus fühlbar; die Preise für dieselben sind im Verhältniß außerordentlich hoch und die Folge davon ist eine gesundheitswidrige Ueberfüllung der Wohnungen. Die Bevölkerung Berlins ist seit 1864 von 633 279 auf 1 315 547 im Jahre 1885 gestiegen. Die Zahl der billigen Wohnungen ist in dieser Zeit in beträchtlichem Umfange zurückgegangen. Während der Jahre 1840 bis 1881 sanken die Wohnungen mit einem Miethspreise bis zu 90 Mark von 18,69 Prozent auf 3,68 Prozent, die Wohnungen, deren Miethe 90 bis 150 Mark betrug, von 31,98 Prozent auf 13,32 Prozent, während die Zahl der Wohnungen mit einem Miethspreise zwischen 600 bis 1200 Mark sich in derselben Periode verdoppelt, die Zahl derjenigen, für welche 3000 Mark und mehr verlangt werden, sich vervierfacht hat.

Die unerbittlichen Zahlen der Statistik erklären zur Genüge die bedauerlichen Zustände, die sich in den großen Städten entwickeln. Das erstaunliche Mißverhältniß zwischen der Zunahme der Bevölkerung und der Bauthätigkeit hat zunächst die ausnehmend hohen Miethspreise zur Folge; die Wohnungsausgaben machen für die unbemittelten Klassen ein Viertel und mehr des ganzen Einkommens aus; die Arbeiterfamilien in Berlin zahlen im Durchschnitt einige 20 Prozent ihres Einkommens für Miethe. Damit hängt der Wohnungswucher zusammen, der Druck, den der Vermiether durch wucherische Ausbeutung der Nothlage des Arbeiters ausübt. Wir sind noch weit davon entfernt, daß der Richter auf Grund von Gesetzen gegen diesen Wucher einschreiten könnte wie gegen den Geldwucher; er muß im Gegentheil auf Grund des Miethsvertrags den Miether auch dann oft verurtheilen, wenn er selbst von dem wucherischen Vorgehen des Vermiethers ganz überzeugt ist.

Eine andere Folge der Wohnungsnoth ist die Ueberfüllung der Wohnungen; hier berühren wir einen der dunkelsten Flecke des städtischen Lebens, und die Scenen, welche die Romanschreiber der Wirklichkeit nachschildern, bleiben noch immer hinter den Berichten der städtischen Missionen zurück. Berlin und auch andere deutsche Städte wie Breslau und Straßburg geben hierin den großen Weltstädten London und Paris nichts nach. Das Unwesen der sogen. Schlafleute und Aftervermiether, welches gar kein Familienleben mehr aufkommen läßt, welches schon die Gemüther der Kinder vergiftet, alles sittliche Fühlen untergräbt und solche überfüllte Wohnungen oft zu Brutstätten des Verbrechens macht, steht hier in voller Blüthe. Es liegt darüber eine im Jahre 1880 in Berlin angestellte Erhebung vor und seitdem dürften sich diese Zustände noch verschlechtert haben. Da wird von einem Haushalt mit 34 Schlafburschen, von einem andern mit 9 männlichen und 2 weiblichen Schlafleuten berichtet. In 15 065 Haushaltungen gab es für die Familie sammt den Schlafleuten nur einen Raum; von denselben hatten 6953 noch einen Schlafburschen, 4132 noch ein Schlafmädchen, 1790 je zwei Schlafburschen, 607 je einen Schlafburschen und ein Schlafmädchen, 721 je zwei Schlafmädchen und 357 je drei Schlafburschen. Wenn in diesen Räumen überhaupt ein Bett vorhanden ist, so lagert darauf, so viel irgend Platz hat, alle andern auf Stroh und Streu auf der Erde.

Es ist klar, daß von einer Gesundheitspflege auch im beschränktesten Maße in solchen Wohnungen gar nicht mehr die Rede sein kann; aber

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 787. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_787.jpg&oldid=- (Version vom 5.11.2022)