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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

hatte er sich durch die Erinnerung an Rita wider seinen Willen hinreißen lassen, diese wichtigste Sorge sträflich zu vernachlässigen. Natürlich bemühte er sich, sein Unrecht wieder gutzumachen, soweit es in seinen Kräften stand.

„Welch’ eine unerhörte Befürchtung, Astrid!“ rief er aus. „Ich schwöre Dir, daß Du Dich in einem Irrthum befindest! Was auch immer die unmittelbare Veranlassung zu meinem Zerwürfniß mit Rita Gardini gewesen sein mag, so giebt es doch nichts, das mich berechtigen würde, Dir, mein süßes Lieb, einen Vorwurf daraus zu machen. Vergiß ihren Namen, Astrid, und vergiß die Aufforderung, welche ich damals an Dich gerichtet habe! Alles Hohe und Edle, was ich einst in jener Frau zu erblicken meinte, war ein Irrthum, und auf einen großen, ungeheuren Irrthum war all meine Verehrung für sie gebaut! Du denkst daran, Dich um die Gunst ihrer Freundschaft zu bewerben, und doch ist sie weit davon entfernt, die Deinige zu verdienen – doch ist sie nicht werth, daß Du mit einer anderen Empfindung als mit Verachtung an sie denkst!“

Wohl gelang es seinen leidenschaftlichen Betheuerungen und Schwüren, Astrid an weiteren Fragen zu hindern, sie vollkommen zu beruhigen aber gelang ihnen nicht. Die Gestalt der Sängerin stand von dieser Stunde an zwischen ihnen wie ein unheimlich gespenstischer Schatten, und in ihrer Einbildung wuchs er nur um so beängstigender und bedrohlicher an, je weniger sie wagten, noch einmal an ihn zu rühren.


7.

Nun neigte der lange harte Winter endlich seinem Ausgang zu. Schon kamen vom Süden her die ersten Frühlingsboten in das deutsche Land, und einzelne linde, sonnenhelle Tage, die etwas vorzeitig auch über die deutsche Reichshauptstadt heraufgezogen waren, erweckten Lenzeshoffnung und Lenzesstimmung in Millionen Menschenherzen.

Astrid war von ihrer schweren Krankheit vollkommen genesen. Sie verweilte nicht mehr in Gerhards Wohnung, sondern sie befand sich jetzt unter dem mütterlichen Schutze der verwitweten Rechnungsräthin Haidborn, bei der sie nach den getroffenen Vereinbarungen bis zum Tage ihrer Hochzeit bleiben sollte. Den Termin für diese bedeutsame Feier aber hatte Gerhard auf einen ziemlich nahen Zeitpunkt gelegt, und die Beweggründe, welche er dafür hatte, waren in der That von schwerwiegender Art.

Bei seinem hohen künstlerischen Rufe und seiner viel beneideten Stellung in der Berliner Gesellschaft hatte es nicht ausbleiben können, daß sich auch die romantische Geschichte von der in seiner Wohnung erkrankten jungen Dame und von seiner in aller Stille erfolgten Verlobung mit außerordentlicher Schnelligkeit und mit allerlei mehr oder weniger frei erfundenen Zuthaten in weiteren Kreisen verbreitete.

Er selbst hatte von dieser Verbreitung allerdings erst Kenntniß erhalten, als er den Versuch gemacht hatte, die vorläufige Aufnahme seiner Braut in einer der ihm befreundeten Familien zu bewirken. Er hatte geglaubt, daß ihm nichts leichter fallen könne als das, denn man hatte ihn vorher mit Auszeichnungen und Freundschaftsversicherungen von allen Seiten überhäuft, und noch vor wenigen Wochen hätte man sich selbst in vornehmen Häusern glücklich geschätzt, ihm einen Dienst zu erweisen. Um so herber und schmerzlicher mußte er die Enttäuschung empfinden, welche er jetzt erfuhr. Man kam ihm zwar überall mit unverminderter Liebenswürdigkeit entgegen; aber man wurde plötzlich eisig kühl, sobald er seinen Wunsch auch nur von ferne anzudeuten wagte.

Nach einer ganzen Reihe von fruchtlosen und demüthigenden Versuchen war Gerhard mit stillem Ingrimm zu der Ueberzeugung gekommen, daß in den Augen der Welt der bloße Schein eines Unrechts hinreichend war, um eine allgemeine und rücksichtslose Verdammung zu rechtfertigen. Grollend zog er sich von den falschen Freunden zurück, und in einer glücklichen Stunde kam ihm die Erinnerung an eine alte, halb vergessene Bekannte aus seiner und Astrids Jugendzeit. Die verwitwete Rechnungsräthin Haidborn war mit der schönen jungen Frau des Musiklehrers eng befreundet gewesen, und Gerhard hatte sie oft im Hause seines Pflegevaters gesehen. Auch hatte er zuweilen die Erlaubniß erhalten, sie in Gesellschaft der kleinen Astrid zu besuchen – und noch lange nachher hatte er sich mit Vergnügen der heiteren Stunden erinnert, die er in dem großen Garten hinter ihrem am Weinbergsweg gelegenen Häuschen zugebracht hatte.

Später freilich, nach dem Tode von Astrids Mutter, war der Verkehr bald gänzlich ins Stocken gerathen; aber Gerhard zweifelte trotzdem nicht, daß er bei der alten Dame, sofern sie überhaupt noch am Leben wäre, eine freundliche Aufnahme finden würde.

Und seine Erwartung hatte ihn nicht getäuscht. Inmitten der hohen Miethskasernen, die während des letzten Jahrzehnts auch draußen am Weinbergsweg emporgewachsen waren, hatte sich die Rechnungsräthin mit dem Eigensinn einer vereinsamten alten Dame ihr unansehnliches, niedriges Häuschen zu erhalten gewußt. Nicht ohne Rührung fand Gerhard selbst die kleinsten Einzelheiten noch genau so wieder, wie sie ihm aus der fröhlichen Knabenzeit ins Gedächtniß geblieben waren, von dem blankgeputzten Messingknopf des Glockenzuges bis zu dem als höchstes Heiligthum behüteten Glasspinde in der besten Stube.

Und – was ihm von besonderer Bedeutung war – auch die Besitzerin all dieser ehrwürdigen Dinge hatte sich ihr goldenes Gemüth und die Zuneigung für die Tochter ihrer einstigen heißgeliebten Freundin unverändert bewahrt. Sie war stolz darauf, daß der berühmte Künstler sich ihrer erinnerte, obwohl sie mit dem natürlichen Scharfblick einer feinsinnigen Frau sofort errieth, daß er nur gekommen sei, weil er in irgend einer Weise ihrer Dienste bedürfe. Sie machte es Gerhard leicht, ihr sein bedrückendes Geständniß abzulegen, und schon in der ersten Viertelstunde ihres Beisammenseins gewann sie sich sein unbeschränktes Vertrauen.

„Welch’ ein wundersamer Zufall! Und welch’ ein Glück, daß sich alles so gefügt hat!“ sagte sie, als er seine einfache und der Wahrheit durchaus entsprechende Erzählung beendet hatte. „Ein Glück wenigstens, wenn Sie Astrid wahr und aufrichtig lieben, und wenn es nicht nur eine Regung des Mitleids war, die Ihre Handlungsweise bestimmt hat.“

Mit Eifer und Wärme verwahrte sich Gerhard gegen einen solchen Verdacht.

Wenn er auch vor seinem eigenen Gewissen nicht in Abrede stellen konnte, daß das Mitleid mit Astrids unglückseliger Lage einen nicht unerheblichen Antheil an seinem mit so großer Raschheit gefaßten Entschlusse gehabt habe, so war er jetzt von der Tiefe und Wahrhaftigkeit seiner Liebe zu ihr doch fest genug überzeugt, um mit reinem Herzen jede Sorge der trefflichen alten Dame beseitigen zu können.

„Nun, wenn es so ist, mein lieber Gerhard –“ die Rechnungsräthin hatte sich die Erlaubniß ausgebeten, ihn wie in den alten Zeiten bei seinem Vornamen zu nennen – „so brauchen Sie sich wahrhaftig um das Gerede der Welt und um die Vorurtheile der Menschen nicht viel zu kümmern! Habt Ihr beide Euch rechtschaffen lieb und spricht Euch Euer eigenes Bewußtsein frei, so werdet Ihr über die kleinen Unannehmlichkeiten, die unter solchen Umständen unausbleiblich sind, mit lachendem Munde hinwegkommen; und die große Gefahr, die im anderen Falle freilich beständig wie ein drohendes Gespenst über Euch schweben würde, die Gefahr der Reue, hat dann ja keine Schrecknisse für Euch. Natürlich bin ich bereit, meine liebe kleine Astrid zu mir zu nehmen; ich betrachte mich von heute an als ihre Mutter, und wenn es Ihnen recht ist, lieber Sohn, werde ich schon morgen kommen, sie mir zu holen. Hier soll das giftige Geschwätz der Lästerzungen sie gewiß nicht erreichen, und aus meinem Munde soll kein unbedachtes Wort kommen, das den unschuldigen Frieden ihres ahnungslosen Gemüths zerstören könnte. Hier soll sie sich von allen Leiden und Kümmernissen gründlich erholen, ehe ich sie Ihnen als Ihr liebes Frauchen übergebe, denn ich denke, in meinem Hause und in meinem Garten weht eine gesunde Luft, zuträglich für Seele und Leib!“

So war allen bangen Zweifeln und Sorgen um die Gestaltung der nächsten Zukunft mit einem Schlage ein Ende gemacht, und niemand war glücklicher über diese unerwartete Wendung als Astrid selbst, die von der ersten Stunde ihres Beisammenseins an die Zuneigung der Rechnungsräthin aufs herzlichste erwiderte. Frau Haidborn hatte vollkommen recht gehabt, als sie der Zuversicht Ausdruck gegeben hatte, daß Bosheit und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 791. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_791.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)