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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Verleumdung in das kleine Häuschen am Weinbergsweg keinen Einlaß finden würden. Hier draußen in der Vorstadt wußte man überhaupt nichts von den beliebtesten Gesprächsstoffen der „guten Gesellschaft“, und die Nachbarn, die an und für sich natürlich nicht weniger neugierig waren, als es unsere lieben Nächsten in der ganzen Welt zu sein pflegen, waren vollkommen zufriedengestellt, als sie von dem Dienstmädchen der Frau Haidborn erfuhren, die schöne junge Dame, welche da vor kurzem ihren Einzug gehalten habe, sei eine Verwandte der Rechnungsräthin, und der elegante junge Herr, der an jedem Nachmittag in einer Droschke erster Klasse zu kommen pflegte, sie zu besuchen, sei ihr Verlobter, mit dem sie noch im Laufe des Sommers Hochzeit machen werde.

So vergingen den beiden Liebenden zwischen dem altmodischen Hausrath ihrer freundlichen Beschützerin die ersten sorglos glücklichen Stunden. Aus jedem Winkel dieser bei all ihrer altväterischen Einfachheit so traulichen und anheimelnden Wohnung schienen ihnen liebe Erinnerungen von heiterer oder rührender Art zu winken, und wie sie des armen, im harten Kampfe ums Dasein so frühe unterlegenen Musiklehrers oft in treuer Liebe gedachten, so erzählte ihnen die Rechnungsräthin mit besonderer Vorliebe von ihrer unvergeßlichen Freundin, der schönen Norwegerin Astrid Ulwe, die ihrer eigenen – freilich unausgesprochenen – Ueberzeugung nach nicht an irgend einer Krankheit, sondern an der unerfüllten Sehnsucht nach einer Aussöhnung mit ihrem harten Vater und an gebrochenem Herzen gestorben war. –

Aber gegen das Ende des Winters hin wurden doch alle anderen Gesprächsstoffe verdrängt von den Erörterungen über ein großes Ereigniß, welches nahe bevorstand und an welchem alle drei einen gleich großen und innigen Antheil nahmen.

Ein neues Werk Gerhard Steinaus, zugleich das größte und bedeutsamste von allen, die er bisher geschaffen hatte, ein Oratorium „Sakuntala“, sollte binnen kurzem im vornehmsten Konzertsaale Berlins zur ersten Aufführung gelangen, und es war natürlich, daß von dieser Aufführung, die man in allen musikliebenden Kreisen der Hauptstadt mit großer Wichtigkeit behandelte, nirgends so lebhaft gesprochen wurde als in dem Häuschen der Rechnungsräthin am Weinbergsweg.

Zwei volle Jahre fast hatte Gerhard an dieser Tondichtung gearbeitet, denn zum erstenmal gedachte er, der Welt in vollem Umfange zu zeigen, was er als Komponist zu leisten vermöge. Ein glücklicher Erfolg dieses Werkes mußte seinem Namen nicht nur neuen Glanz verleihen, sondern er mußte den Klang desselben auch weit hinaustragen über die Grenzen seines Vaterlandes, mußte ihm einen unbestrittenen Ehrenplatz sichern unter den ersten aller lebenden Musiker.

Glückliche Sterne hatten über der Entstehung des Oratoriums geleuchtet, glücklich für den Komponisten, auch wenn sie jetzt ihren bestrickenden Glanz für ihn eingebüßt hatten. Diese Sterne waren nichts anderes gewesen als Rita Gardinis leuchtende Augen! Nicht mit Unrecht hatte er sie einst im Rausch der Leidenschaft seine Muse genannt. Bei diesem Werke wenigstens war sie es im vollsten Sinne des Wortes gewesen. Ausschließlich für sie hatte er die Hauptpartie desselben geschrieben, und ihr feines künstlerisches Verständniß, die liebevolle Theilnahme, mit welcher sie das Fortschreiten seines Schaffens begleitete, waren ihm eine stetig erneute Anregung gewesen zu immer höherem und großartigerem Schwunge seiner schöpferischen Phantasie. So war es nur natürlich gewesen, daß sie die Partie der Sakuntala schon damals in allen ihren Theilen innegehabt hatte, und nie war Gerhard darüber im Zweifel gewesen, daß keine andere als sie auch die Trägerin dieser Partie bei der ersten öffentlichen Aufführung sein müsse.

Jetzt freilich konnte davon nicht mehr die Rede sein. Gerhard hatte für immer mit ihr gebrochen, und seit jenem Augenblick, da er das Fenster ihres Wagens zertrümmert hatte, nur um von ihrer Seite hinweg schneller hinaus zu gelangen ins Freie, gähnte zwischen ihnen eine Kluft, die nach Gerhards Ueberzeugung auch dem Künstler keine Annäherung an die Künstlerin gestattete. Seit Monaten studirte eine andere berühmte Sängerin die Sakuntala, und wenn auch der Komponist bei den Proben nicht ohne eine Regung schmerzlichen Bedauerns jenen zauberischen Schmelz der Stimme und jene wundersame seelische Belebung vermißte, die ihn so oft bei Ritas Gesang in Entzücken versetzt hatten, so durfte er doch immerhin auch mit dieser Vertreterin vollkommen zufrieden sein, um so mehr, als sie beim Publikum sehr beliebt war und als ihm auch für die übrigen Solopartien des Werkes die bedeutendsten unter den deutschen Gesangeskünstlern zur Verfügung standen.

Als die großen Proben mit den Chören und dem Orchester begonnen hatten, und als demgemäß auch die Mühen und die begreifliche Erregung des Komponisten, der die Aufführung in eigener Person leiten wollte, wuchsen, äußerte Astrid mit einigem Zagen den Wunsch, ihn in den Konzertsaal begleiten zu dürfen. Aber mit so großer Bereitwilligkeit er sonst auch alles that, was ihr Freude bereiten konnte, so bestimmt lehnte er doch diesmal ihre bescheidene Bitte ab.

„Bei der ersten Aufführung sollst Du das Werk kennenlernen, mein Lieb,“ sagte er, sie zärtlich an sich ziehend, „aber nicht früher! Diese Proben mit ihren Unvollkommenheiten und Mißverständnissen würden Dich zu keinem ruhigen und ungetrübten Genießen kommen lassen, und für mich selbst würde es nur ein bedrückendes und beunruhigendes Gefühl sein, Dich im Saale zu wissen. Bei der Aufführung aber will ich gerade aus dieser Gewißheit, daß Du mir nahe bist, den Muth und die Zuversicht gewinnen, deren ich nur zu sehr bedürfen werde.“

Und Astrid hatte sich seinem Willen gefügt, obwohl sie in ihrem Herzen jeden der Mitwirkenden um das Glück beneidete, den Geliebten bei der Ausgestaltung und letzten Vollendung seiner Schöpfung mit Auge und Ohr begleiten zu dürfen.

(Fortsetzung folgt.)




Ein Reich – Ein Recht.

Das nationale Lehen bedarf zu seiner vollen Entfaltung des einheitlichen Rechts kaum minder als der einheitlichen Sprache.“ So ging im deutschen Volke neben dem Drange nach politischer Einigung auch immer der Drang nach einer Einheit des Rechts einher, war ja doch auf diesem Gebiete die Zersplitterung eine gleich große wie auf dem politischen. Schon in den ersten Zeiten des auflebenden Germanenthums hatte jeder Stamm sein eigen Recht. Dasselbe trug einen vorherrschend örtlichen Charakter. Wenn der Wanderer durch das mittelalterliche Deutschland in das Thor einer neuen Stadt einzog, so betrat er auch das Gebiet eines neuen Rechts. Zahllos waren neben Gewohnheit und Herkommen die einzelnen „Weisthümer“, die geschriebenen Gesetze in Stadt und Land. Es konnte daher nicht Wunder nehmen, daß das hochentwickelte römische Recht, das auf der Rechtsschule zu Bologna eine gelehrte Pflegstätte besaß, begünstigt von den fränkisch-staufischen Kaisern, die sich als die Nachfolger der römischen Imperatoren betrachteten, über die Alpen herübergetragen wurde. Daneben nahm aber auch die Kirche noch ein eigenes Recht in Anspruch, das sie über die eigenen Angelegenheiten hinaus auch auf die bürgerliche Familie ausdehnte.

Im dritten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts unternahm es zwar ein anhalter Landgerichtsschöffe, Eike von Repgow, das im Lande der Sachsen geltende Recht in dem „Sachsenspiegel“ zu vereinigen, einem Rechtsbuche, das im deutschen Norden lange als Quelle des Rechts galt; aber das fortgeschrittene römische und kanonische (kirchliche) Recht verdrängte mehr und mehr seine Bedeutung. Ihm folgte mit gleichem Schicksal der „Schwabenspiegel“, welcher eine Sammlung der namentlich in Süddeutschland geltenden Rechtsgewohnheiten bildete. Beide Rechtsbücher beleuchteten damit nur den alten deutschen Gegensatz zwischen Nord und Süd. Mit der Zeit bildete sich nun zwar ein sogenanntes „Gemeines Recht“ in Deutschland, zusammengeschweißt aus römischem, kanonischem und deutschem Rechte, aber dasselbe holte sich seine Weisheit meist erst vom Katheder und aus den Lehrbüchern der deutschen Professoren und trug in sich eine Summe von Unklarheiten und zweifelhaften Bestimmungen.

Um dieser Unsicherheit zu steuern, unternahmen es einzelne Staaten kraft ihrer Selbstherrlichkeit besondere Gesetzbücher aufzustellen, unter denen namentlich das preußische Landrecht ein

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 794. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_794.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)