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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

wußte ja Anna nichts von ihm! Sie schwieg daher und wurde nur wieder roth, was zwar sehr hübsch aussah, aber nicht als genügende Auskunft gelten konnte, – wenigstens nicht einem prosaischen Schwager und Amtsrichter gegenüber.

„Aha!“ meinte Karl überlegen, „die Bekanntschaft ist also so genau, daß Du nicht ’mal seinen Namen weißt! Nein, Kinder, da verlaßt Euch auf mich – ich sage Euch, der Mann war ein Bauernfänger – dabei bleibe ich! Die sehen immer am feinsten und anständigsten aus! Und jetzt basta!“

Sie waren inzwischen glücklich nach ihrem Hotel gelangt und man konnte dem allgemeinen Bedürfniß nach Schlaf und Ruhe Rechnung tragen. Allerdings wurde dies nicht lange befriedigt, denn die Aufregung und der Wunsch, Berlin nun auch ganz zu genießen, trieb unsere Vergnüglinge bald wieder empor.

Im Speisesaal wurde die Frage: „Was nun?“ von dem Ehepaar erörtert, während Anna mit entschiedener Gleichgültigkeit alle Vorschläge anhörte. Für sie war Berlin nur noch ein einziger, großer Rahmen um das Bild des Unvergleichlichen geworden, der heute morgen in so überraschender Weise ihren Lebensweg wieder gekreuzt hatte, und – o Schmerz! – keine Ahnung zu haben schien, daß er sie je vorher gesehen hatte.

Der Unbekannte, den wir unsern Lesern hier gleich als Doktor Rüdiger vorstellen wollen, hatte inzwischen auch das R.-Hotel erreicht, in dem er, wie es der Zufall nun einmal wollte, gleichfalls seinen Wohnsitz aufgeschlagen hatte. Er ging an der halbgeöffneten Thür des Speisesaals vorbei, sah seine Bekannten von heute morgen am Tische sitzen und faßte den Entschluß, dem jungen Mädchen da drin unter allen Umständen bekannt zu werden. Es lockte ihn gar zu sehr, die in so eigenartiger Weise angeknüpften Beziehungen weiter zu spinnen, wobei noch dazu kam, daß ihm Aennchens Gesicht so bekannt erschien, als hätte er es schon irgendwo gesehen, ohne daß er sich genaue Rechenschaft zu geben vermocht hätte, daß und wo dies der Fall gewesen sei.

Selbst unbemerkt, beobachtete er, wie der Amtsrichter und seine Damen nach kurzer Rücksprache mit dem Portier das Hotel verließen, und kaum waren sie um die nächste Ecke gebogen, als er sich gleichfalls dem Portier näherte.

„Ist Herr Amtsrichter Schwarz schon ausgegangen?“ frug er nachlässig.

„Jawohl, mein Herr – eben sind die Herrschaften fort,“ erwiderte der Portier, der die Würde eines spanischen Granden mit aalglatter Verbindlichkeit zu vereinigen wußte.

„Das ist ja ärgerlich!“ bemerkte Rüdiger unbefangen, „wir wollten zum Abend etwas verabreden!“

„Die Herrschaften haben auf morgen abend Billette zur Oper bestellt,“ sagte der Portier.

„Ah – vortrefflich!“ erwiderte Rüdiger, „besorgen Sie für mich doch einen Platz in derselben Loge – ich hole ihn mir dann bei Ihnen ab.“

Er entfernte sich sehr vergnügt und lief die besuchtesten Sehenswürdigkeiten Berlins ab, in der stillen Hoffnung, das Glück werde ihm günstig sein und er die Familie irgendwo treffen. Aber dem war nicht so!

Museum und Nationalgalerie, Aquarium und Panoptikum wurden vergebens von ihm durchsucht – nirgends sah er das reizende, blonde Gesicht wieder, dem zuliebe er Berlin mit all’ seinen Herrlichkeiten erst in zweiter Linie genoß.

Unsere Amtsrichtersfamilie hatte inzwischen auch ihre Vergnügungswanderung angetreten. Zuerst waren verschiedene Läden abpatrouillirt worden und man war mit Ah und O dahin übereingekommen, daß Berlin doch der einzige menschenwürdige Aufenthalt sei! Dann jagte man keuchend hinter zwei geschlossenen, kaiserlichen Wagen her und versuchte, sich gegenseitig glauben zu machen, daß jeder etwas von den Insassen erspäht habe. Schließlich, nachdem noch das Museum, in Anbetracht der bereits eingetretenen Müdigkeit mit vieler Andacht und mäßigem Verständniß, durcheilt war, fühlten alle den entschiedensten Hunger und traten mit der Absicht, ein gemüthliches Mittagsmahl einzunehmen, in ein zu ebener Erde gelegenes höchst elegantes Restaurant ein.

Eine wahre Schar von beispiellos vornehmen Frackträgern begrüßte unsere Kleinstädter mit jener Mischung von Selbstbewußtsein und Verbindlichkeit, durch die der richtige Kellner sofort sein Verständniß für die Gäste an den Tag legt, für die ihm jede Abstufung im Betragen von kriechender Unterwürfigkeit bis zu herablassender Unverschämtheit zu Gebote steht.

Der Amtsrichter führte seine Damen nach einem einladend gedeckten Tischchen am Fenster, von dem aus man die Straße mit ihrem lebhaften Treiben übersehen konnte – allerdings auch nicht die Wohlthat des bekannten Liedes für sich in Anspruch nehmen durfte: „Wir sehn in die weiten Lande und werden doch nicht gesehn“ – denn jeder Schluck Wein und jede Gabelspitze voll Braten konnte von den Vorübergehenden aufs genaueste festgestellt werden.

Aber der für den Amtsrichter so erfreuliche Grundsatz: „Hier kennt einen ja kein Mensch!“ beruhigte über diese Schattenseiten eines Aufenthalts, der sonst mit seinem „Tischlein deck’ dich“ in jeder Weise befriedigte.

Die Frage des Kellners: „Was befehlen die Herrschaften zu speisen?“ hätte der Amtsrichter bei seiner Vorliebe für die Diskretion allerdings übelnehmen können, da ihn aber hungerte, so verzieh er sie großmüthig, und man vertiefte sich in das Studium der Speisekarte, die eine Menge von Namen trug, bei denen sich schlechterdings alles denken ließ, so daß man beim Erscheinen des betreffenden Gerichts einer frohen Ueberraschung jedenfalls sicher war.

Bald stand auch eine Flasche mit vielversprechendem, silbern überzogenem Kork in zierlichem Eiskübel auf der Tafel, und der Amtsrichter hob sein Glas, um den Damen zuzutrinken: „Kinder, wie wohl mir ist, daß wir hier mal ohne gute Freunde und getreue Nachbarn sind, das kann ich nicht sagen! Es lebe das Inkognito!“

Da klopfte es schalkhaft ans Fenster. Der arme Karl erstarrte, als sähe er ein Gespenst – ja, wer weiß, ob ihm solches nicht noch ein erwünschterer Anblick gewesen wäre, als das lächelnde Gesicht des Herrn Lebermann, der mit dem unverkennbaren Bewußtsein, Amtsrichters eine große und unverhoffte Freude zu machen, seine Nase an die Glasscheibe preßte.

Unserem Amtsrichter sank die Gabel aus der Hand. „Alle guten Geister – Lebermann!“ brachte er mühsam hervor.

Eine weitere Kritik des unerwünschten Zuwachses zu der Gesellschaft mußte unterbleiben, denn der gute Bekannte stand schon schmunzelnd vor unseren Vergnüglingen.

„Nun, das hätten Sie wohl auch nicht gedacht, daß Sie mich hier treffen würden?“ sagte er voller Seligkeit.

„Nein – nichts lag mir ferner!“ erwiderte Karl tonlos, „was machen Sie denn hier?“

„Das will ich Ihnen gleich erzählen,“ entgegnete Herr Lebermann, nachdem er die Damen ritterlich begrüßt und sich über Anna mit der Frage: „Ah, das ist wohl der Besuch, der vorgestern zu Ihnen kam?“ als durchaus unterrichtet erwiesen hatte.

Er zog sich einen Stuhl zum Tisch und bestellte sich bei dem Kellner ein Beefsteak.

Der Amtsrichter sah mit wilden Blicken umher und war allem Anschein nach so nahe am Grobwerden, daß Helene, um den Sturm abzuwenden, die Unvorsichtigkeit beging, den Apotheker an die verheißene Erzählung zu erinnern.

„Nun sehen Sie,“ begann der interessante Ankömmling, „ich bemerkte schon lange, daß die Plombe in meinem einen Backzahn – dem dritten oben,“ setzte er hinzu, um jeden Zweifel zu verscheuchen – „nicht mehr so recht fest sitzt. Ich glaube, ich sprach schon einmal mit Ihnen davon, Herr Amtsrichter?“

„Möglich!“ seufzte Karl ganz gebrochen.

„Ja, ja, ich weiß es noch ganz gut! Wir saßen bei König in der Weinstube – es ist sogar noch nicht lange her! Na einerlei! Also vorgestern abend fängt es mir an, in dem Zahn wehzuthun –“

„O!“ machte Helene bedauernd, um der Höflichkeit zu genügen.

„Nicht gerade sehr!“ beruhigte Herr Lebermann, „aber es machte sich doch bemerklich! Gestern früh aber – der Provisor hatte die Hinterthür in der Apotheke offen gelassen, und das giebt jedesmal einen Zug – nein, davon machen Sie sich keine Vorstellung! Zum Wegfliegen! Wie oft hab’ ich’s ihm schon gesagt: ‚Herr Schemmler,‘ sag’ ich, ‚lassen Sie mir nicht immer die Hinterthür offen‘, er kann sich’s aber nicht abgewöhnen! Sie werden sagen: ‚Warum lassen Sie sich’s denn gefallen?‘“

Er sah seine Opfer erwartungsvoll an.

„Ach, fällt mir ja gar nicht ein!“ knurrte Karl, aufs äußerste erbittert, „eßt Kinder – wir müssen weiter!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 799. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_799.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)