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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Diese unerwartete Auffassung des Unfalls belustigte alle drei aufs äußerste, und in wieder hergestellter Seelenharmonie bestieg man eine Pferdebahn und kehrte nach dem Hotel zurück, da die durch Herrn Lebermann unterbrochene Mahlzeit nicht genügend gewesen war, um die table d’hôte im Hotel verschmähen zu lassen.

Am unteren Ende der langen, blumengeschmückten Tafel waren noch einige Plätze frei und die Familie Schwarz nahm diese ein. Der Amtsrichter, der sich für die Seelenruhe seiner Schwägerin verantwortlich fühlte, sah mit ärgerlicher Besorgniß, wie sich allseitig bewundernde Blicke mit mehr oder weniger Bescheidenheit auf das reizende Mädchen richteten, und fuhrwerkte mit einer großen Blumenvase wie mit einem Rangierzuge vor seinen Damen herum, um sie bald vor diesem, bald vor jenem ihrer Tischgenossen zu verbergen.

Bei dieser Beschäftigung konnte es ihm entgehen, daß ein etwas verspäteter Ankömmling sich in der Thür zeigte und mit einem verbindlichen und erfreuten Gruß den leeren neben Aennchen befindlichen Platz einnahm, dessen Ungefährlichkeit den Schwager schon höchlichst beruhigt hatte.

Als er sich befriedigt umwendete und halblaut zu seiner Frau sagte: „So, nun habe ich Aennchen wohl glücklich versteckt!“ erschrak er aufs heftigste, denn der Unbekannte von heut morgen saß, bereits in die Anfänge einer eifrigen Unterhaltung vertieft, neben dem jungen Mädchen, das, glückselig und verlegen, es kaum wagte, die Augen zu erheben, da sie mit Recht befürchten mußte, daß ihr Schwager als „Schicksal rauh und kalt“ sie aus ihrem Glückstraum reißen würde.

Der Amtsrichter aber flüsterte nur mit hohler Stimme: „Der Bauernfänger!“ und ergab sich ins Unvermeidliche! Er konnte ja auch füglich nichts weiter thun, denn ein Versuch, seine kleine Schwägerin glauben zu machen, daß ihr Platz der Zugluft ausgesetzt sei, mißlang gänzlich. Anna versicherte mit plötzlich erwachter Löwenkühnheit, sie merke nichts, und blieb sitzen. Zum Ueberfluß raunte ihm seine Frau noch ins Ohr: „Karl, thu’ mir die einzige Liebe und gieb jetzt Ruhe – die Leute merken ja alle sofort, daß wir aus einer kleinen Stadt sind, wenn Du Dich so auffallend benimmst!“

Einigermaßen beschämt versuchte denn Karl, sich einen Anschein von Gelassenheit und Seelenruhe zu geben, wie er für Berlin paßt – ja, er ließ es sogar mit leidlicher Fassung über sich ergehen, daß Rüdiger sich ihm vorstellte, und zwang sich ein allerdings etwas säuerliches Lächeln ab bei der gegenseitigen Verbeugung. Anna und ihr Nachbar aber waren bald in das vergnügteste Plaudern versunken.

„Ich habe bisher gar nicht gewußt,“ sagte Rüdiger halblaut und ernsthaft, „daß ich einen so mächtigen Gönner besitze!“

Sie blickte erstaunt auf.

„Wen meinen Sie denn?“ frug sie.

„Den Zufall!“ erwiderte er lachend. „Denken Sie doch, wie allerliebst sich dieser brave Gesell heut schon gegen mich benommen hat! Sogar meinen dummen Schuljungenstreich von heut morgen wendete er zu meinen Gunsten – und brachte mich sodann wieder zweimal mit Ihnen zusammen – er muß es wirklich besser mit mir im Sinn haben, als ich bisher geglaubt habe!“

Anna war bei aller inneren Seligkeit doch etwas kurz und kühl. Ihr sechzehnjähriger Stolz empörte sich bei dem Gedanken, daß sie die Nudelteig-Initiale eines Mannes in der Kapsel trug, der sich nicht einmal zu besinnen schien, daß er sie je gesehen hatte!

Da nahm er wieder das Wort:

„Ich zerbreche mir seit heut früh immerfort den Kopf, gnädiges Fräulein, wo ich Ihnen schon einmal begegnet bin! – Aber das Ergebniß ist, daß es wohl im Traum geschehen sein mag – trotzdem ich,“ fügte er mit gesenkter Stimme hinzu, „einen so schönen Traum wohl nicht vergessen hätte!“

Die Sache ließ sich gut an für die kurze Bekanntschaft, das mußte man sagen! Der Amtsrichter, zu dem immer nur einzelne Silben der halblauten und unverkennbar „courmachenden“ Unterhaltung drangen, litt wahre Qualen der Angst und genoß nur bewußtlos die Tafelfreuden. Er machte seiner Frau die sich in ihrer Nähe anbahnende dramatische Verwicklung beständig durch drohende Blicke bemerklich, und da diese nicht verfangen wollten, trat er sie zur Erregung ihrer Aufmerksamkeit so beständig auf den Fuß, als wenn er eine Nähmaschine vor sich gehabt hätte.

Helene stellte sich aber blind, taub und gefühllos – sie war auch einmal sechzehn Jahre alt gewesen und hatte das tiefste Verständniß für die Sachlage.

Anna führte indessen das Gespräch munter fort. Man war schon zu dem Uebereinkommen gelangt, daß Rüdiger wirklich den verhängnißvollen Backfischball besucht hatte, eine Feststellung, die ihn zu der Wendung bewog, daß man ein Knöspchen wohl übersehen und sich erst beim Anblick der erblühten Rose klar werden könne, daß man ihm schon begegnet sei! Aus diesem Gebiet der Blüthen- und Frühlingsredensarten gelangte man dann mit einiger Mühe wieder zur Prosa, und Anna wunderte sich im Stillen über sich selbst, daß ihre Schüchternheit so ganz verschwunden sei.

Rüdiger, dessen Muth und Neigung während der Tischunterhaltung bedeutend gestiegen waren, machte sich unmittelbar nach Tische sehr niedlich um den Amtsrichter, bot ihm eine Cigarre an und setzte sein Hofmachen mit ungeschwächten Kräften bei ihm fort, nach dem Grundsatz, daß es ja in der Familie bleibe!

Der Amtsrichter thaute bei der wirklich liebenswürdigen Art des jungen Mannes etwas auf, und man entdeckte sogar einen gemeinsamen guten Bekannten in der Person von Rüdigers Onkel, so daß der Amtsrichter seine schwarzen Gedanken an den „Bauernfänger“ nun wirklich aufgeben mußte. Alles war in guter Laune, und die mit so viel wechselnden Geschicken gesegnete Reise schien nun in die erfreulichste Bahn gelenkt.

Da, während die Herren in eifrigster Unterhaltung im Fenster standen, öffnete sich wieder die Thür zum Speisesaal und zu Helenens und Annas Schrecken tauchte mit den Worten: „Die schönen Seelen finden sich zu Wasser und zu Lande“ die Gestalt des Herrn Lebermann auf und kam freudeglänzend auf seine Bekannten zu. Karl hatte ihn, da er der Thür den Rücken wandte, noch nicht gesehen.

Helene und Anna begrüßten den wackern Mann etwas kühl, was er in seinem unzerstörbaren Selbstbewußtsein nicht zu merken schien. Er erging sich wenigstens sofort in einer langathmigen Schilderung alles dessen, was er seit dem unerwarteten Zusammentreffen im Restaurant gesehen, gegessen, getrunken und gesagt habe, mit der tiefsinnigen Bemerkung schließend: „Und wie ich die Siegessäule sah, da sagte ich: ‚Ah – allen Respekt!‘“

„Und wie kommen Sie denn in dieses Hotel?“ frug Helene mit schlecht verhehltem Abscheu.

Herr Lebermann wies freudig auf Rüdiger.

„Unser junger Freund dort hat mir erzählt, wo Sie wohnen,“ sagte er, „ja, sehen Sie, man findet sich immer wieder, – auch in dem großen Berlin! Und Berlin ist wirklich groß, – das muß wahr sein – sogar sehr groß! Ich sagte noch in Solau zu meiner Frau: ‚Emma, Berlin ist sehr groß!‘ – ich dachte mir’s schon! Aber ich muß sagen, ich bin überrascht! Allein die Friedrichstraße – nehmen Sie mal an!“

Während Herr Lebermann eine „kurze und gedrängte“ Uebersicht von Berlin gab, flüsterte Anna ihrer Schwester zu:

„Wenn Karl das nur nicht herausbekommt, daß Rüdiger Herrn Lebermann unser Hotel genannt hat – dann ist er gleich wieder so böse auf ihn!“

„Auf wen?“ frug Helene, sich verständnißlos stellend.

„Ach, Helene – sei doch nicht so häßlich!“ bat Anna, „Du weißt doch ganz gut –“

„Nun, laß nur, Kleine!“ lachte Helene; „aber wie willst Du verhindern, daß Rüdiger sich verräth?“

„Ich verbiete es ihm!“ meinte Anna einfach.

Helene sah sie groß an.

„Sieh mal an, was Du für Muth bekommst!“ bemerkte sie bedächtig; „die Berliner Luft scheint Dir wirklich gutzuthun!“

Karl hatte inzwischen Lebermann entdeckt, dessen Anblick bereits auf ihn wirkte wie ein rothes Tuch auf einen Stier. Er legte sofort die Cigarre weg – der Geschmack daran war ihm vergangen.

„Wir müssen fort!“ sagte er, nach der Uhr sehend, „wir haben noch allerlei vor.“

„Was denn?“ frug Lebermann.

„Das kann Ihnen gleichgültig sein!“ bemerkte der Amtsrichter, „Sie müssen doch erst zu Mittag essen!“

„Alles schon besorgt,“ lächelte der Apotheker, „ich habe in dem netten Restaurant, wo ich Sie traf, ganz gründlich gespeist – nach dem Beefsteak mit Bratkartoffeln – Sie erinnern sich doch, Herr Amtsrichter! – noch ein Viertel Gans, dann –“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 802. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_802.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)