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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

ihrer Schützlinge ein so lebhaftes Wohlgefallen zu finden, daß sie darüber minutenlang den eigentlichen Zweck ihres Erscheinens vergaß. Endlich aber mußte sie doch über einen allzu schlecht berechneten Sprung Gerhards, der mit einem unfreiwilligen Kniefall geendet hatte, in ein so herzliches Lachen ausbrechen, daß ihre Anwesenheit nicht länger verborgen bleiben konnte.

Im nächsten Augenblick waren die beiden jungen Leute an ihrer Seite, und Frau Haidborn überreichte Gerhard mit einem scherzhaften Kompliment über seine turnerischen Fähigkeiten ein Telegramm, das in seiner Wohnung angekommen und von seinem Diener hierher gebracht worden war.

„Hoffentlich enthält es nichts Unangenehmes, lieber Sohn,“ fügte sie hinzu, „denn ich würde mir’s sonst nicht verzeihen können, Eure Fröhlichkeit damit gestört zu haben.“

„Was könnte mir auch Unangenehmes geschehen, da ich meine liebe Astrid gesund und glücklich vor mir sehe!“ meinte Gerhard übermüthig; aber kaum hatte er die Depesche erbrochen und ihren Inhalt überflogen, als alle Farbe aus seinen Wangen entwich.

„Um Gotteswillen, was ist es? Welche Schreckensnachricht hast Du da erhalten?“ fragte Astrid, die so gut in seinem Gesicht zu lesen verstand. Statt aller Antwort reichte er ihr das Blatt.

„Paula Wildenfels soeben von einem Blutsturz befallen, schwerkrank. An Auftreten nicht zu denken.“

So stand da in den flüchtigen, gleichgültigen Schriftzügen des Telegraphenbeamten, und Astrid begriff die Bestürzung ihres Verlobten nur zu wohl. Das war ein Schlag von niederschmetternder Wucht; denn jene Paula Wildenfels war die Sängerin, welche in Gerhards Oratorium die Sakuntala singen sollte. Mit ihrer Erkrankung war jede Möglichkeit einer Aufführung des Werkes nicht nur für den in Aussicht genommenen Abend, sondern auf Monate hinaus vernichtet. Gerhard bemühte sich denn auch nicht, vor diesen beiden Menschen, die ihm so nahe standen, seine tiefe Niedergeschlagenheit zu verbergen.

„Es ist nicht viel weniger als ein Mißerfolg!“ klagte er. „Alle meine schönen Träume sind in nichts zerstoben.“

„Und es giebt keine Möglichkeit, einen Ersatz zu schaffen?“ fragte Astrid zaghaft. Aber Gerhard schüttelte wehmüthig den Kopf.

„Keine! Es bleibt mir nichts anderes übrig, als die getroffenen Anordnungen auf der Stelle rückgängig zu machen, und auch das wird nur unter schweren Opfern möglich sein!“

Die Frauen machten keinen weiteren Versuch, ihn zu trösten. Gerhard verabschiedete sich mit wenigen Worten von seiner Braut, der die hellen Thränen in den Augen standen, und fuhr unverzüglich zu dem Orchesterdirigenten, um sich mit diesem weiter zu besprechen.

Natürlich wußte der Mann ebenso wenig Rath als Gerhard selbst, und nach einer nutzlosen einstündigen Verhandlung kehrte der Komponist todmüde und mit schweren Gliedern in seine Wohnung zurück. Nur um für wenige Minuten auszuruhen, warf er sich auf das Sofa; aber seine Abspannung war zu groß und schon nach wenigen Minuten hatte ihn der Schlummer übermannt. Der spöttische Traumgott gaukelte ihm allerlei herrliche Bilder eines glänzenden Erfolges vor. Er hörte sein Werk in mustergültiger Aufführung an sich vorüberrauschen, er sah sich bewundert und gefeiert, und ein Geräusch wie das Brausen eines ungeheuren Beifallssturmes war es, das ihn schließlich weckte.

Nur des Bruchtheils einer Minute bedurfte es, ihn aus all’ seinen Himmeln in die häßliche Wirklichkeit zurück zu versetzen, die ihm jetzt nur um so trübseliger und verdrießlicher erschien. Er ging an seinen Schreibtisch, um die unerfreuliche Arbeit zu beginnen, die ihm aus diesen Umständen erwuchs, und achtlos schob er einige Briefe bei Seite, die ihm der Diener inzwischen dahin gelegt haben mußte.

Da – was war das? – Ein zierliches, modefarbenes Briefchen mit einem prahlerischen Monogramm, das ihm nur zu wohl bekannt war! Wie oft hatte er eine Sendung von dieser Gattung mit stürmischer Zärtlichkeit an seine Lippen gedrückt, noch ehe er sie aufgebrochen, und wie viel Liebes und Freudiges hatten diese Umschläge sonst für ihn enthalten! Aber was konnte ihm Rita heute zu schreiben haben? Eine neue Herzlosigkeit vielleicht, die ihn in seiner gegenwärtigen trostlosen Stimmung zwiefach verwunden mußte! Nein, diesen Triumph wenigstens wollte er ihr nicht gönnen – er wollte ihren Brief nicht lesen!

So schob er ihn denn wirklich bei Seite und begann zu schreiben; aber er konnte seine Gedanken von dem kleinen farbigen Papier nicht losmachen, und ehe er selber sich dessen eigentlich recht bewußt geworden war, hielt er es abermals zwischen den Fingern. Es trug keine Freimarke und keinen Poststempel, – es mußte also von einem Boten gebracht worden sein, und jetzt las er auch in einer Ecke den Vermerk „Eilig und dringend!“ – Welch eine Feigheit war es doch, daß er zögerte, sich vom Inhalt zu überzeugen! War ihm Rita denn nicht eine Fremde, deren Mittheilungen ihn gleichgültig lassen mußten, wie auch immer sie lauten mochten?

Und nun lag der Umschlag am Boden und Gerhard starrte wie ein Träumender auf die Schriftzüge der einst so heiß geliebten Frau. Es war so wenig, was sie ihm schrieb, und doch hatte sie ihm niemals etwas gleich Bedeutungsvolles zu sagen gehabt wie in diesem Brief. Er war durchaus in den Formen der üblichen Höflichkeit gehalten und lautete:

„Herrn Gerhard Steinau.

Mit Bedauern erfahre ich soeben, welch ein Mißgeschick meine hochgeschätzte Kollegin Wildenfels und dadurch mittelbar auch Sie betroffen hat. Da zu befürchten ist, daß die Krankheit einer so wichtigen Solistin die ganze Aufführung Ihres Werkes in Frage stellt, so verschmähen Sie es vielleicht nicht, im Interesse der Sache, an der auch ich einen warmen Antheil nehme, von meinen Diensten Gebrauch zu machen. Ich habe die Partie gut im Gedächtniß, und wenn Sie mir die Noten noch heute zustellen können, so wird unzweifelhaft eine einzige Probe mit Chor und Orchester genügen, mich für das öffentliche Auftreten vorzubereiten. Ich erwarte Ihre Antwort; aber ich bitte Sie, sich nicht persönlich zu bemühen, da mich meine leidige Migräne verhindert, irgend einen Besuch zu empfangen.

Mit ausgezeichneter Hochachtung 
Rita Gardini.“ 

Das war allerdings eine Ueberraschung, auf die Gerhard am wenigsten vorbereitet sein konnte, eine Rache von so edelmüthiger Art, wie er sie von diesem stolzen, leidenschaftlichen und herzlosen Weibe niemals erwartet hätte. Tiefer konnte er wahrlich nicht gedemüthigt werden als durch diese beispiellose Selbstverleugnung einer tödlich gekränkten Frau! Und wie peinlich war die Wahl, vor welche er sich da so unerwartet gestellt sah! Auf der einen Seite die mächtige Versuchung, seine schon verloren gegebenen künstlerischen Hoffnungen nun doch in über Erwarten glänzender Weise verwirklicht zu sehen, – auf der anderen die Rücksicht, welche er Astrid schuldig war! Um ihretwillen durfte er nicht daran denken, seinen Verkehr mit Rita, wenn auch in der unverfänglichsten Form, wieder aufzunehmen! Aber konnte sie ein solches Opfer wirklich von ihm verlangen?

Nein, das war unmöglich, und nach kurzem Kampfe war sein Entschluß gefaßt. Astrid selbst sollte die Entscheidung fällen! Daß sie, die von der wahren Natur seiner einstigen Beziehungen zu Rita Gardini noch immer nichts ahnte, ihm mit freudigem Eifer rathen würde, die dargebotene Hilfe zu ergreifen, darüber war er freilich nicht einen Augenblick im Zweifel, aber er befand sich eben in einer jener Lebenslagen, in denen etwas wie eine unerklärliche Gewissensangst oder wie eine unbewußte Vorahnung kommenden Unheils dazu drängt, die Verantwortung für die eigenen Handlungen einem anderen aufzubürden, auch wenn diese Abwälzung im Grunde nur eine Vergrößerung des Unrechts bedeutet.

Er fuhr abermals nach dem Weinbergsweg hinaus, und zu seiner Rührung fand er nicht nur Astrid, sondern auch die sonst so tapfere Rechnungsräthin mit roth geweinten Augen. Ohne viele Erklärungen zog er Ritas Brief aus der Tasche und reichte ihn seiner Braut. Mit einem lauten Jubelruf des Entzückens warf sich Astrid an seine Brust, sobald sie ihn gelesen hatte.

„Welch’ ein Glück für uns – und welch’ ein Edelmuth! O Gerhard, wie vollständig hast Du diese Frau verkannt! Ein wie schweres Unrecht hast Du ihr zugefügt, als Du sie herzlos und selbstsüchtig nanntest!“

„Wahrhaftig, es scheint mir fast, als ob Du recht habest, liebe Astrid! Du bist also der Meinung, daß ich ihr Erbieten annehmen soll?“

„Gewiß! Wie kannst Du nur einen Augenblick darüber im Zweifel sein? Und auf der Stelle mußt Du zu ihr gehen, um ihr zu danken! Ach, wie glücklich wäre ich, wenn ich Dich begleiten dürfte!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 806. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_806.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)